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Ich begleitete Shizi, die sich die chinesisch-amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik anschauen wollte. Sie wollte so gern dort arbeiten, bekam aber keinen Fuß in die Tür, weil niemand sie protegierte.
Wir betraten die Klinik, aber schon im Foyer hatte ich den Eindruck, ich befände mich in einem exklusiven Club und nicht in einem Krankenhaus. Wir hatten Sommer, doch die Klimaanlage sorgte für ein angenehm kühles Lüftchen. Sanfte Hintergrundmusik verwöhnte unsere Ohren, und die Luft war erfüllt vom Duft frischer, wohlriechender Schnittblumen. Die Wand, auf die beim Eintreten der Blick fiel, zeigte das hellblaue Kliniklogo und acht rosafarbene Schriftzeichen:
一生承諾,滿懷信任
Ein auf Vertrauen gegründetes Versprechen erfüllt sich;
Schwangerschaft und Geburt werden wahr.
Zwei Schönheiten in weißen Arztkitteln und Schwesternhäubchen befanden sich gerade im Patientengespräch. Wie zuvorkommend waren die Stimmen, wie entzückend das Lächeln und wie entwaffnend der Augenaufschlag der beiden.
Eine Ärztin mittleren Alters im langen Arztkittel und mit einer weiß gefassten Brille auf der Nase kam auf uns zu. »Mein Herr, meine Dame, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie in herzlichem Ton.
Ich antwortete: »Nein danke, wir schauen uns nur um.«
Sie brachte uns in den Warte- und Entspannungsbereich, der rechts an das Foyer grenzte. Es gab dort äußerst bequeme Rattanstühle, die Bücherregale waren voll von exklusiven Mutter-und-Kind-Magazinen, auf den Beistelltischchen lagen aufwendig gedruckte Bildbände und Broschüren, in denen die Klinik vorstellt wurde.
Die Ärztin brachte uns zwei Gläser, die sie am Wasserspender mit Eiswasser füllte, schenkte uns ein Lächeln und entfernte sich.
Ich schlug eine Klinikbroschüre auf. Aus ihr blickte mich eine makellose Ärztin mittleren Alters an, pickelfreie Stirn, schmale lange Augenbrauen, freundlicher Blick, weiße, ebenmäßige Zähne, ein mildes Lächeln. Am Kittel trug sie ein Namensschild mit ihrem Foto. Über ihrer linken Schulter befand sich eine Sprechblase:
Die Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik ist für Sie die ideale gynäkologische Klinik für pränatale und geburtshilfliche Medizin höchster Ansprüche. Wir vermeiden eine kalte Krankenhausatmosphäre und begegnen Ihnen mit Wärme und Herzlichkeit. Sie treffen auf ein harmonisches Miteinander, Ehrlichkeit und eine familiäre Atmosphäre. Sie erfahren bei uns, was gehobener Service der ersten Klasse bedeutet ...
Unter ihrer rechten Schulter gab es eine weitere Sprechblase:
Wir halten uns streng an das Genfer Gelöbnis des Weltärztebunds, verabschiedet im September 1948. Wir praktizieren die ärztliche Kunst mit Gewissenhaftigkeit und Würde. Die Gesundheit unserer Patienten ist oberstes Gebot unseres Handelns. Die uns anvertrauten Geheimnisse unserer Patienten wahren wir auch über deren Tod hinaus. Wir halten mit allen unseren Kräften die Ehre und die edle Tradition unseres ärztlichen Berufes aufrecht ...
Ich schielte zu meiner Frau hinüber und bemerkte, dass sie beim Durchblättern der Klinikbroschüre die Stirn runzelte.
Ich schlug die nächste Seite auf und blickte auf einen Sicherheit ausstrahlenden, Vertrauen erweckenden Gynäkologen, der dabei war, den Bauchumfang einer Schwangeren zu messen. Ihr hoch aufragender Bauch war glänzend und makellos, ihr Gesicht mit einem hohen Nasenrücken und langen Wimpern, verführerischen vollen Lippen und einem rosigen Teint ließ nichts erkennen von der für Schwangere typischen Abgespanntheit. Eine Sprechblase mit einer Textzeile besagte:
Wir behandeln das Leben vom ersten Tag der Schwangerschaft an mit dem allergrößten Respekt.
Ein mittelgroßer Mann mit spärlichem Haar in Markenfreizeitkleidung kam mit schnellen Schritten in die Lobby. An seinem selbstbewussten Blick und dem leicht vorgewölbten Bauch konnte ich erkennen, dass er einen hohen Status haben musste. Wenn er kein hoher Kader war, so doch jemand mit hohem Einkommen, oder auch beides, von hohem Rang und mit hohem Einkommen. Mit seiner Linken umfasste er leicht ein junges Mädchen. Sie trug ein gelbes Seidenkleid mit schwingendem Rock und ging mit wiegenden Schritten, eine hochgewachsene Schöne mit weichen Formen und schlanker Taille.
Das Herz stockte mir, denn plötzlich erkannte ich sie. Es war Xiaobi, die Büroleiterin des Froschzuchtunternehmens und Bildhauerin Yuan Backes. Wir hatten sie bei Backe und meinem Cousin kennengelernt.
Erschrocken senkte ich den Kopf und hielt mir die Klinikbroschüre vors Gesicht.
Ich blätterte weiter. Rechts neben einem makellosen, hoch aufragenden Schwangerenbauch gab es ein Foto von fünf nackten Babys. Sie schauten alle nach links, als hätte jemand von dort mit ihnen Späßchen gemacht. Das Profil ihrer runden Gesichtchen, die runde Stirn, die runden Bäckchen waren herzallerliebst. Obwohl man nicht ihr ganzes Gesicht sehen konnte, sah man ihr unschuldiges Lächeln. Drei von ihnen hatten ein wenig Haarflaum, zwei schon etwas mehr Haare, zwei von ihnen hatten schwarzes, eines hellblondes und zwei mittelblondes Haar. Alle hatten große Ohren, große Ohren bedeuten ja Glück!
Wessen Foto in dieser Broschüre auftauchte, der war mit Sicherheit ein Glückskind und vom Schicksal begünstigt. Die Babys waren vermutlich fünf Monate alt, sie konnten soeben sitzen. Aber sie saßen noch wackelig und hielten den Rücken nicht richtig gerade. Die Kleinen waren durchweg dicke Moppelchen, unter ihren angewinkelten Ärmchen sah man die runden Bäuchlein aufragen. Ihr Po war plattgedrückt. Die Ritze zwischen den beiden Pobacken sah ganz allerliebst aus. Links von den Babys gab es auf der weiß gebliebenen Fläche wieder eine Sprechblase:
Eine auf die Familie ausgerichtete Geburtshilfe legt besonderen Wert auf eine gute Kommunikation zwischen der werdenden Mutter während Schwangerschaft, Niederkunft und Wochenbett und dem ganzen Ärzteteam. Vorsorge und Aufklärung der werdenden Mutter haben für uns Priorität.
Der Mann und Xiaobi standen an der Rezeption und besprachen Verschiedenes, dann wurden sie von einer eleganten jungen Dame in den Wartebereich links von der Lobby geleitet, wo sie in weinroten Sofasesseln mit hoher Lehne Platz nehmen sollten. Auf dem Beistelltischchen stand eine Vase mit dunkelroten Rosen. Da saßen sie nun. Der Mann nieste. Seine Art zu niesen erschreckte mich so, dass ich fast aufgesprungen wäre. Diese besondere Art zu niesen, willensstark ist vielleicht der richtige Ausdruck, brachte mein Gedächtnis auf Trab. War er es wirklich?
Die ärztliche Betreuung der Schwangeren in den ersten Monaten der Schwangerschaft kreist um den Gesundheitszustand der Mutter und des ungeborenen Kindes, um Ernährung und sportliche Ertüchtigung, um nur zwei wichtige Bereiche zu nennen. All diese Inhalte werden mit der Schwangeren und den Familienangehörigen sorgfältig kommuniziert.
Ich wollte meiner Frau liebend gern erzählen, was ich soeben entdeckt hatte, aber sie war mit der Broschüre beschäftigt. Sie blätterte darin und murmelte: »Das ist doch kein Krankenhaus! Wer kann es sich leisten, sich in so einem Krankenhaus behandeln zu lassen!«
Sie saß mit dem Rücken zu Xiaobi und dem Mann und hatte deren Kommen gar nicht bemerkt.
Als wären die Sessel zu rot, stand der Mann plötzlich auf und führte Xiaobi durch das Foyer dorthin, wo sich das Café befand. Dieser Bereich war nur locker vom Foyer abgetrennt, man hatte im Zentrum ein paar große Töpfe mit dem Köstlichen Fensterblatt und Philodendren aufgestellt, auch einen üppig grünen Bonsai-Banyanbaum gab es, der fast bis an die Decke der Halle reichte. Die Tapete im Café-Bereich hatte ein Backsteinmuster, in der Wand befand sich ein Kamin. An der Bar mit einem Weinregal hinter dem Tresen war ein gutaussehender Barkeeper, der eine Fliege trug, mit Kaffeekochen beschäftigt. Der Duft teurer Kaffeesorten mischte sich mit dem der Schnittblumen in den Vasen. Er wehte immer wieder zu uns herüber und benebelte uns.
Daneben bietet die Klinik noch eine Abteilung für die spezielle Betreuung der späten Schwangerschaftsphase, von der 28. Woche bis zur Geburt. In dem speziell dafür geschaffenen Zentrum zur Geburtsvorbereitung erstellen Ärzte und Schwestern gemeinsam einen Plan, zugeschnitten auf die individuellen Bedürfnisse und den speziellen Zustand der Schwangeren, und legen auch den genauen Geburtstermin fest. Außerdem werden für die Schwangeren Mami-Kurse angeboten, die den Informationsfluss gewährleisten, so dass die werdende Mutter Gelegenheit hat, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, ihre Sorgen mitzuteilen und all ihre Zweifel ausräumen zu lassen ...
Er saß da mit einer Tasse in der Hand und war in ein Gespräch mit Xiaobi vertieft. Zweifellos war er es. Jemand kann sich eine andere Sprache zulegen, aber das Geräusch beim Niesen kann man nicht willkürlich ändern. Man kann sich auch die Hautfalte der Augenlider entfernen lassen und damit die Schlitzaugen loswerden, aber den Blick behält man, der ist nicht operabel. In gerade einmal zwanzig Metern Entfernung von mir saß er da, unterhielt sich entspannt, lachte. Er wäre wohl nie auf den Gedanken gekommen, dass ihn gerade ein Freund aus der Kinderzeit beobachtete. Doch für mich tauchte hinter der Gentleman-Fassade allmählich der früher einmal schlitzäugige, durchtriebene Xiao Unterlippe auf.
»Das kann ich mir abschminken!« Kleiner Löwe warf die Klinikbroschüre auf den Tisch zurück, streckte sich und sagte deprimiert: »Alles Mediziner, die in den USA promoviert oder in Frankreich studiert haben, Professoren der medizinischen Fakultät, ein Team von chinesischen Eliteärzten. Hier kann ich bestenfalls als Klofrau was werden ...«
Obwohl auch er viele Jahre in Peking gewohnt hatte, war er mir dort nie begegnet. Als er damals mit der Uni fertig war, lief sein Vater bei uns durch die Straßen und brüllte immerzu: »Mein Sohn hat einen Posten beim Staatsrat bekommen!« Später hatten wir gehört, dass er nach ein paar Jahren Verwaltungsarbeit im Staatsrat das Sekretariat eines Ministers übernommen habe, dann, dass er irgendwohin versetzt worden sei und den Dienst eines Vizeparteisekretärs angetreten habe. Dann erzählte man sich, er sei abgetaucht und habe als Geschäftsmann das große Geld gemacht, schließlich sei er als Pionier in die Immobilienbranche eingestiegen. Er habe hohes Ansehen erworben und sei ein Superreicher mit einem Vermögen von mehr als einer Milliarde Yuan geworden.
Die elegante junge Dame, die die beiden zu ihrem Platz geführt hatte, war zurückgekommen, sie hatte sie gesucht. Nun begleitete sie das Paar durch die Halle bis zu einer Tür, durch die sie verschwanden.
Ich klappte den Bildband zu. Auf dem Rückendeckel war der Bauch einer Schwangeren abgebildet, auf dem die Hände des Arztes und der Frau vertraut übereinander ruhten. Der Text dazu lautete:
Die zu uns kommenden Schwangeren mit ihren Neugeborenen sind für uns wie unsere Familienmitglieder. Rundumbetreuung und hundertprozentiger Service der Extraklasse. Hier erwartet Sie behagliche Geborgenheit. Genießen Sie die rücksichtsvolle, von Zartgefühl getragene Pflege höchsten Standards.
Als wir die Klinik verließen, war Kleiner Löwe deprimiert. Sie wetterte laut, beschimpfte mit politisch überholten, antiquierten Argumenten das Neue. Ich sagte nichts, denn ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Ihr nicht endender Redefluß erinnerte mich an einen Hamster, der im Laufrad läuft und läuft und läuft, es war kaum auszuhalten. Ich sagte: »Jetzt hör auf, wie der Fuchs die Trauben schlecht zu machen!«
Ausnahmsweise fing sie keinen Streit mit mir an, sondern lachte nur bitter: »So ein Kurpfuscher vom Land, wie ich es bin, geht dann wohl besser zu Yuan Backe in die Firma Frösche züchten.«
Ich antwortete: »Wir sind als Ruheständler nach Hause gekommen, nicht weil wir hier arbeiten wollen.«
»Dann geh ich als selbstständige Mütterpflegerin die Wöchnerinnen betreuen, wie findest du das?«
»Hör doch auf! Rate mal, wen ich gerade gesehen habe?«
»Wen?«
»Xiao Unterlippe. Der hat eine Schönheitsoperation machen lassen, aber ich habe ihn trotzdem erkannt.«
»Kann doch gar nicht sein«, meinte Shizi. »Wozu sollte jemand, der solch ein Vermögen besitzt, nach Gaomi zurückkommen? Bist du sicher, dass du dich nicht geirrt hast?«
»Wenn ich ihn nur gesehen und nicht gehört hätte, könnte das angehen. Aber ich habe ihn niesen hören, und keiner sonst auf der Welt niest so wie er. Außerdem habe ich seinen Blick gesehen. Auch sein Lachen gehört. Daran hat sich nichts verändert.«
»Vielleicht ist er als Investor wiedergekommen? Ich habe mir sagen lassen, dass wir hier wieder der Administration von Tsingtau unterstellt werden sollen. Wenn das kommt, werden die Boden- und Immobilienpreise in die Höhe schnellen. Vielleicht deswegen?«
Ich antwortete: »Rate mal, mit wem ich ihn gesehen habe?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Mit Xiaobi.«
»Mit wem?«
»Xiaobi aus der Froschzuchtfarm, Backes Sekretärin.«
»Auf den ersten Blick habe ich gesehen, dass sie ein Flittchen ist. Die treibt es auch mit Backe und deinem kleinen Cousin. Das kannst du mir glauben!«