Hütte Nummer vier war mit leuchtendgelbem Band abgesperrt. Rick Shaw paffte eine Zigarette. Als Sheriff von Albemarle County hatte er mehr Leichen gesehen, als ihm lieb war: Lebensmüde, die sich erschossen hatten, Ertrunkene, Autounfälle noch und noch, Morde mit Messer, Pistole, Gift, Axt - sogar mit einem Klavierschemel. Die Menschen griffen nach allem, was ihnen in die Hände fiel. Dies war jedoch die älteste Leiche, die er je untersucht hatte.
Deputy Cynthia Cooper, seine Assistentin und seit kurzem auch seine Stellvertreterin, kritzelte in ihr kleines Notizbuch. Ihr Kugelschreiber sauste über die blauen Linien. Ein amtlich bestellter Fotograf machte Aufnahmen.
Rick war mit Rücksicht auf die heikle Situation abends um halb sieben gekommen, lange nachdem Monticello um fünf Uhr seine Pforten geschlossen hatte; er wollte sichergehen, daß auch die letzten versprengten Touristen fort waren. Oliver Zeve plauderte, die Arme verschränkt, mit Heike Holtz. Kimball blickte erleichtert auf, als Harry und Mrs. Hogendobber die Mulberry Row entlangkamen. Mrs. Murphy und Tucker zockelten hinterher.
Oliver bat Heike, ihn zu entschuldigen, und kam zu Kimball hinüber. »Verdammt, was wollendie denn hier?«
Der verblüffte Kimball schob die Hände in seine Gesäßtaschen. »Wir werden eine ganze Weile hier sein. Die Leute brauchen Verpflegung.«
»Wir sind durchaus imstande, einen Cateringservice zu beauftragen«, fuhr Oliver ihn an.
»Ja«, erwiderte Kimball ruhig,»unddie wären durchaus imstande, in der ganzen Stadt herumzuposaunen, was hier los ist, und vielleicht noch dieWashington Post anzurufen oder denEnquirer, großer Gott. Harry und Miranda können den Mund halten. Erinnern Sie sich an die Sache mit Donny Ensign?«
Kimball spielte auf einen Vorfall vor vier Jahren an, als Mrs. Hogendobber für die Freunde der Restaurierung als Sekretärin gearbeitet hatte. Eines Abends überprüfte sie Donny Ensigns Bücher. Sie hatte auch für George immer die Buchführung erledigt, und die Arbeit machte ihr Spaß. Donny als Schatzmeister war natürlich das Geld anvertraut. Mrs. H. hatte so eine Ahnung - sie sagte nie, was sie darauf brachte -, aber sie kam schnell dahinter, daß Mr. Ensign die Bücher fälschte. Unverzüglich verständigte sie Oliver, und die Affäre wurde diskret behandelt. Donny trat von seinem Amt zurück und bezahlte den Betrag von 4559,12 Dollar in Raten ab. Dafür zeigte ihn niemand bei Rick Shaw an, und sein Ruf in der Gemeinde hatte keinen Schaden genommen.
»Jaha.« Oliver schlenderte lächelnd zu den zwei Frauen hinüber. »Erlauben Sie, meine reizenden Damen, daß ich Sie von Ihrer Last befreie. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie uns verköstigen. Kimball denkt wirklich an alles, nicht?«
Rick spürte, wie sich etwas an seinem Bein rieb. Es war Mrs. Murphy. »Was machst du denn hier?«
»Ich biete meine Dienste an.« Sie setzte sich auf die Schuhspitze des Sheriffs.
»Harry und Mrs. Hogendobber, so eine Überraschung.« Eine Spur Sarkasmus war in Ricks Stimme zu vernehmen.
»Nicht so überschwenglich, Sheriff«, schalt Miranda ihn. »Wir wollen uns nicht in Ihren Fall einmischen. Wir bringen lediglich Verpflegung.«
Cynthia sprang aus der Grube. »Gott sei Dank.« Sie kraulte Tuckers Kopf und winkte Harry, ihr zu folgen. Tucker folgte ihr ebenfalls. »Was halten Sie davon?«
Harry sah auf das Skelett hinunter, das mit dem Gesicht nach unten im Schmutz lag. Der hintere Teil des Schädels war zertrümmert. Wo einst Taschen gewesen sein mußten, lagen Münzen, und ein breiter, kostbarer Ring steckte noch am Knochen des linken Mittelfingers. Stoffetzen hafteten an den Knochen, die Reste einer reichbestickten Weste. Vom Rock war etwas mehr übriggeblieben; die verblichene Farbe mußte einst ein kräftiges Grünblau gewesen sein. Die Messingknöpfe waren intakt, ebenso die Schuhschnallen, auch sie reich verziert.
»Mrs. H. kommen Sie mal her«, rief Harry.
»Ich will das nicht sehen.« Mrs. Hogendobber teilte emsig belegte Brote und kaltes Huhn aus.
Harry wollte ihr die Sache schmackhaft machen. »Ist gar nicht so schlimm. Im Metzgerladen haben Sie weit Schlimmeres gesehen.«
»Das ist überhaupt nicht komisch.«
Mrs. Murphy und Tucker hätten nicht an der Fundstelle sein dürfen, aber es war so viel los, daß keiner weiter auf sie achtete.
»Riechst du was?« fragte die Katze ihre Gefährtin.
Die Corgihündin zog die schwarze Nase kraus.»Alter Rauch. Eine kalte Spur - der Kerl ist schon zu lange tot, da gibt's nichts mehr zu wittern.«
Mrs. Murphy stupste mit der Pfote gegen ein Schädelstück.
»Höchst sonderbar.«
»Was?«
»Dem Kerl wurde der Schädel eingeschlagen, aber jemand muß dieses große Schädelstück wieder eingesetzt haben.«
»Was du nicht sagst!« Der Hund war von den Knochen fasziniert, aber Tucker fand jede Art von Knochen faszinierend.
»He, he, ihr zwei, macht, daß ihr hier wegkommt!« befahl Harry.
Tucker gehorchte aufs Wort, aber Mrs. Murphy nicht. Sie klopfte auf den Schädel.»Seht doch, ihr Dummköpfe.«
»Sie hält alles für Spielzeug.« Harry hob die Katze hoch.
»Tu ich gar nicht!« Mrs. Murphy plusterte wütend den Schwanz auf, entwand sich Harrys Armen und sprang zurück auf die Erde, um wieder auf das Schädelstück zu klopfen.
»Entschuldigen Sie, Cynthia, ich bring sie ins Auto. Oder ob ich sie in Monticello lassen könnte? Der Wagen steht ewig weit weg.«
»Sie wird Jeffersons Tagesdecke zerreißen«, warnte Tucker.»Wenn die von historischem Wert ist, kann sie 's nicht erwarten, ihre Krallen reinzuschlagen. Denkt nur, was sie zu Pewter sagen wird. >Ich hab Jeffersons seidene Tagesdecke zerfetzt. < Wenn da Troddeln dran sind, könnt ihr sie vergessen. Von denen bleibt nichts übrig.«
»Und du würdest die Möbelbeine zerbeißen!« erwiderte die Katze wie aus der Pistole geschossen.
Die Corgihündin lachte.»Wenn sie mir einen von den Knochen geben, dann nicht.«
»Sei nicht so bescheuert, Tucker. Hilf mir lieber, diese zwei Trottel dazu zu bringen, hier mal richtig hinzugucken.«
Tucker sprang in die Grube und ging zu dem Skelett. Sie beschnupperte das große Schädelfragment, ein dreieckiges Stück, das an der Grundlinie vielleicht zehn Zentimeter lang war.
»Was soll das?« Verärgert versuchte Harry, Katze und Hund gleichzeitig zu packen. Aber im Nu waren die beiden ihr entschlüpft.
Cynthia, eine geschulte Beobachterin, sah die Katze zur Seite springen, als ob sie spielte, und wieder zurückkommen, um immer dasselbe Schädelstück zu betasten. Jedesmal entwand sie sich der wütenden Harry. »Momentchen, warten Sie, Harry.« Cynthia ging auf der noch regennassen Erde in die Hocke. »Sheriff, können Sie mal einen Moment herkommen?« Cynthia starrte Mrs. Murphy an, die ihr gegenübersaß und zurückstarrte, froh, daß endlich jemand kapiert hatte.
»Diese Miranda macht klasse Hühnchen.« Rick schwenkte seinen Hühnerschenkel wie einen Schlagstock. »Weshalb soll ich mich von Brathühnchen mit grünem Salat und Kartoffelsalat losreißen? Und haben Sie den Apfelkuchen gesehen?«
»Daß die mir ja was übriggelassen haben, wenn ich hier rauskomme.« Cynthia rief zu Mrs. Hogendobber hinauf: »Mrs. H. heben Sie mir was auf.«
»Natürlich, Cynthia. Sie sind zwar unser neuer Deputy, dabei aber trotzdem noch ein Mädchen im Entwicklungsstadium.« Miranda, die sie seit dem Tag ihrer Geburt kannte, freute sich über Cynthias Beförderung.
»Okay, was gibt's?« Rick sah die Katze an, die seinen Blick erwiderte. Außerdem streckte Mrs. Murphy ihre gewaltige Pfote aus und klopfte auf das dreieckige Schädelstück.
Endlich wurde er aufmerksam. »Komisch.«
Mrs. Murphy seufzte.»Du hast's erfaßt, Sherlock.«
Cynthia flüsterte: »Oliver hat uns ein bißchen abgelenkt, Sie verstehen, was ich meine? Die eigenartige Form dieses Schädelstücks hätte uns auffallen müssen, aber er hat ja ununterbrochen gequasselt.«
Rick grunzte zustimmend. Über Oliver würden sie sich später unterhalten. Rick stieß vorsichtig mit dem Zeigefinger an das Knochenstück.
Harry kniete sich fasziniert an die andere Seite des Skeletts. »Wundert es Sie, daß die Hirnschale nicht schlimmer beschädigt ist?«
Rick mußte kurz blinzeln. Er war in Gedanken vertieft gewesen. »Äh, nein, eigentlich nicht. Harry, dieser Mann wurde mit einem einzigen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf getötet, vielleicht mit einer Axt oder einem Keil oder einem schweren Eisengerät. Der Bruch ist zu sauber für einen stumpfen Gegenstand - aber das große Stück hier, das ist eigenartig. Hätte man das mit der Rückseite einer Axt machen können?«
»Was?« fragte Harry.
»Das große, beinahe dreieckige Stück könnte wieder in den Schädel eingesetzt worden sein«, antwortete Cynthia an seiner Stelle, »oder es könnte zum Zeitpunkt des Todes noch teilweise dran gewesen sein. Ungewöhnlich ist die Form des Bruchs. Normalerweise sieht es übler aus, wenn jemand eins über den Schädel kriegt - lauter kleine Splitter.«
»Danke, danke, danke!« jubelte Mrs. Murphy.»Aber bei mir bedankt sich natürlich keiner.«
»Ich würde lieber auf Mrs. Hogendobbers Hühnchen setzen statt auf Dankesworte«, bekannte Tucker.
»Woraus können Sie bei einer so alten Leiche - oder was von ihr übrig ist - ableiten, daß eine einzige Person den Mann getötet hat? Könnten es nicht zwei oder drei gewesen sein?« Harrys Neugierde steigerte sich von Minute zu Minute.
»Ich kann es nicht genau wissen, Harry.« Rick hatte seine Zweifel. »Aber ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Einer hätte ihn festhalten können, während der andere zuschlug.«
Tucker, die sich jetzt voll und ganz auf Mrs. H.'s Hühnchen konzentrierte, jaulte frech:»Und dann hat der Mörder das Hirn rausgekratzt und an die Hunde verfüttert.«
»Das ist ekelhaft, Tucker.« Mrs. Murphy legte kurz die Ohren flach.
»Du hast schon schlimmere Sachen gebracht.«
»Tucker, geh zu Mrs. Hogendobber betteln. Du machst zuviel Krach. Ich muß nachdenken«, maunzte die Katze.
»Mrs. Hogendobber hat ein Herz aus Stahl, wenn sie was Leckeres abgeben soll.«
»Aber Kimball nicht.«
»Gute Idee.« Der Hund zog los, um Mrs. Murphys Rat zu befolgen.
Harry verzog das Gesicht. »Ein gerissener Mörder. Die alten Feuerstellen waren so hoch, daß man darin stehen konnte. Ein einziger Schlag, und aus.« Ihre Gedanken rasten. »Aber wer das getan hat, mußte an der Feuerstelle ein tiefes Loch graben, die Leiche reinlegen und zuschütten. Das muß die ganze Nacht gedauert haben.«
»Wieso Nacht?« fragte Cynthia.
»Dies waren Sklavenquartiere. Die Bewohner dürften tagsüber gearbeitet haben, oder?«
»Nicht schlecht, Harry.« Rick stand auf, seine Knie knackten. »Kimball, wer hat hier gewohnt?«
»Vor dem Brand war es Medley Orion«, lautete die prompte Antwort. »Wir wissen nicht viel über sie, nur daß sie zur Zeit des Brandes etwa zwanzig Jahre alt war.«
»Und nach dem Brand?« fragte Rick weiter.
»Wir wissen nicht, ob Medley danach wieder in dieses Quartier gezogen ist. Aber wir wissen, daß sie noch hier... beschäftigt war, weil ihr Name in den Aufzeichnungen auftaucht«, sagte Kimball.
»Wissen Sie, welche Art von Arbeit sie gemacht hat?« fragte Cynthia.
»Sie war offenbar eine ziemlich talentierte Näherin.« Kimball trat zu ihnen in die Grube, aber erst, nachdem Tucker ihn um einen Leckerbissen erleichtert hatte. »Besucherinnen ließen oft Stoffe da, um sich von Medley etwas schneidern zu lassen. Medleys Fähigkeiten sind in den Briefen erwähnt, die verschiedene Damen an Mr. Jefferson geschrieben haben.«
»Hat Jefferson Geld dafür bekommen?« fragte Rick unschuldig.
»Du lieber Himmel, nein!« rief Oliver von den Verpflegungskörben herüber. »Medley wurde direkt bezahlt, entweder mit Geld oder mit Naturalien.«
»Konnten Sklaven denn unabhängig von ihren Herren Geld verdienen?« fragte Cynthia. Diese Vorstellung warf ein neues Licht auf die Zustände auf einer Plantage.
»Ja, das konnten sie, und solche Nebenverdienste waren sehr begehrt. Einige sehr fleißige oder vom Glück begünstigte Sklaven haben sich so den Weg in die Freiheit erkauft. Medley leider nicht«, sagte Oliver. »Aber sie scheint ein ganz gutes Leben gehabt zu haben«, fügte er beschwichtigend hinzu.
»Haben Sie eine Ahnung, wann dieser Mann in die Grube gefahren ist - im wahrsten Sinne des Wortes?« Harry konnte sich die Frage nicht verkneifen.
Kimball bückte sich und hob ein paar Münzen auf. »Keine Sorge, wir haben alles fotografiert, aus diversen Winkeln und Höhen, und die ursprüngliche Lage in unser Raster eingezeichnet - es ist alles in Ordnung.« Kimball beteuerte allen, daß die Untersuchungen den Fortschritt seiner archäologischen Arbeit nicht gefährdeten. »Wir können nur mit Bestimmtheit sagen, daß es nicht vor 1803 gewesen sein kann. Das ist die Jahreszahl, die auf einer Münze in der Tasche des Toten eingraviert ist.«
»Der Erwerb von Louisiana«, verkündete Mrs. Hogendobber laut.
»Vielleicht war dieser Mann gegen den Erwerb. Ein politischer Feind Thomas Jeffersons«, scherzte Rick.
»Das dürfen Sie nicht mal denken. Nicht einen Augenblick. Und schon gar nicht auf so heiligem Boden.« Oliver holte tief Luft. »Egal, was hier passiert ist, ich bin überzeugt, daß Jefferson nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Warum hätte sich der Mörder sonst solche Mühe gemacht, die Leiche loszuwerden?«
»Das tun die meisten Mörder«, erklärte Cynthia.
Rick entschuldigte sich: »Verzeihung, Oliver. Es lag nicht in meiner Absicht anzudeuten, daß.«
»Schon gut, schon gut.« Oliver lächelte wieder. »Wir sind einfach überdreht, Sie wissen ja, am 13. April ist Jeffersons 250. Geburtstag, und wir wollen nicht, daß die Feiern durch irgendwas verdorben werden, daß irgendwas die Aufmerksamkeit von Jeffersons Leistungen und seinem Weitblick ablenkt. Etwas wie das hier könnte die Feierlichkeiten, nun ja, sagen wir, aus dem Gleichgewicht bringen, nicht?«
»Ich verstehe.« Rick meinte es ehrlich. »Aber ich wurde zum Sheriff gewählt, um den Frieden zu bewahren, wie Sie wissen, und der Frieden ist hier gestört worden, vielleicht um 1803 herum. Wir werden das Alter der Leiche natürlich mit der Radiokarbonmethode bestimmen. Oliver, es liegt in meiner Verantwortung, dieses Verbrechen aufzuklären. Wann es begangen wurde, ist für mich unerheblich.«
»Heute ist bestimmt keiner mehr in Gefahr. Sie sind alle« - er beschrieb mit der Hand einen Bogen - »tot.«
»Ich möchte nicht, daß der Erbauer dieses Anwesens sagen könnte, ich vernachlässigte meine Pflichten.« Rick biß fest die Zähne zusammen.
Harry lief es kalt den Rücken hinunter. Sie kannte den Sheriff als einen starken Mann, einen ergebenen Staatsdiener, aber als er das sagte, als er seine Schuld gegenüber dem Mann bekannte, der die Unabhängigkeitserklärung verfaßt hatte, dem Mann, der den Sinn der Amerikaner für Architektur und bildende Kunst geschärft hatte, dem Mann, der in der Präsidentschaft ausgeharrt und der Nation den Fortschritt gebracht hatte, da erkannte sie, daß sie selbst, ja, sie alle, sogar Heike, mit dem rothaarigen, 1743 geborenen Mann verbunden waren. Aber wenn sie gründlich darüber nachdachten, schuldeten sie allen Ehre, die ihnen vorausgegangen waren, allen, die sich um die Verbesserung der Zustände bemüht hatten.
Da Oliver Zeve keine schlagfertige Antwort einfiel, wandte er sich wieder den Verpflegungskörben zu. Aber er murmelte vor sich hin: »Mord in Monticello. Großer Gott.«