37

Aus dem ersehnten Kinoabend mit Fair war ein Arbeitsabend in Har­rys Stall geworden. Der Regen prasselte auf das gefalzte Blechdach, während Fair und Harry auf Knien die gummibeschichteten Ziegel verlegten, die Warren ihr geschenkt hatte. Wie ihr Gönner geraten hatte, legte sie den teuren Bodenbelag in die Mitte der Waschbox, wobei sie die Senkung bis zum Abfluß berücksichtigte. Fair hatte die mühevolle Aufgabe übernommen, alte Caravan-Gummimatten zu­rechtzuschneiden und um das Ziegelquadrat zu legen. Sie waren irrsinnig schwer.

»So stellt sich Mutter also eine heiße Verabredung vor«, rief Mrs. Murphy lachend vom Heuboden herunter. Sie besuchte Simon und störte dabei die Eule, aber die fühlte sich ja ohnehin durch alles und jeden gestört.

Tucker, an die Erde gefesselt, weil sie zu ihrem Leidwesen die Lei­ter nicht hinaufklettern konnte, saß vor der Waschbox. Neben ihr saß Pewter, die über Nacht zu Besuch blieb, wie Mrs. Hogendobber vor­geschlagen hatte. Pewter hätte die Leiter zum Heuboden hinaufklet­tern können, aber wozu sich anstrengen?

»Findest du nicht, daß die Pferde mehr Zuwendung bekommen als wir?« fragte Pewter.

»Sie sind größer«, erwiderte Tucker.

»Was hat das damit zu tun?« rief Mrs. Murphy herunter.

»Sie sind nicht so unabhängig wie wir, und ihre Hufe müssen stän­dig gepflegt werden«, sagte Tucker.

»Stimmt es, daß Mrs. Murphy auf den Pferden reitet?«

»Na klar doch.« Mrs. Murphys Schwanz zuckte hin und her.»Du solltest es auch mal versuchen.«

Pewter reckte den Hals, um den zwei Pferden zuzusehen, die mampfend in ihren Boxen standen.»Ich bin kein sportlicher Typ.«

»Es ist wirklich nett von dir, daß du mir hilfst«, bedankte sich Har­ry bei ihrem Exmann, der stöhnend eine Gummimatte näher zur Wand zog. »Schaffst du's allein?«

»Geht schon«, antwortete er. »Ich mach dies aus dem einzigen Grund, Skeezits« - er nannte sie bei ihrem Spitznamen aus der Schulzeit -, »weil du es sonst allein machen und dir dabei was ver­renken würdest. Ich bin nämlich immer noch stärker als du.« Er machte eine Pause. »Aber du hast mehr Ausdauer.«

»Wie die Stuten, schätze ich.«

»Ich frage mich, ob der Unterschied zwischen Männern und Frauen wirklich so groß ist, wie wir glauben. Stuten haben mich auf diesen Gedanken gebracht. Stuten und Hengste unterscheiden sich im Grunde gar nicht so sehr. Aber aus welchem Grund auch immer, Menschen haben diesen riesigen Kodex über die Unterschiede der Geschlechter ausgeklügelt.«

»Wir werden es nie genau wissen. Weißt du, ich mach mir nichts daraus. Es ist mir vollkommen schnuppe. Ich tu, was ich will, und es ist mir egal, ob es weiblich oder männlich ist.«

»So warst du schon immer, Harry. Ich glaube, deswegen hatte ich dich so gern.«

»Du hattest mich gern, weil wir zusammen im Kindergarten wa­ren.«

»Ich war auch mit Susan im Kindergarten, aber sie hab ich nicht geheiratet«, entgegnete er gutgelaunt.

»Eins zu null für dich.«

»Für mich warst du was Besonderes, kaum daß mein Testosteron­spiegel sich meinem Gehirn angeglichen hatte. Eine Zeitlang hatten die Geschlechtsdrüsen die Oberhand.«

Harry lachte. »Ein Wunder, daß der Mensch die Pubertät überlebt. Alles ist so übermächtig und so neu. Meine armen Eltern.« Sie lä­chelte in Gedanken an ihre toleranten Eltern.

»Du hattest wirklich Glück. Weißt du noch, als ich den neuen Saab von meinem Vater zu Schrott gefahren habe? Noch dazu einen der ersten Saabs in Crozet. Ich dachte, Vater würde mich umbringen.«

»Du warst nicht allein. Center Berryman ist nicht gerade mein Ideal von einem guten Kumpel.«

»Hast du ihn gesehen, seit er aus der Therapie zurück ist?«

»Ja. Scheint okay zu sein.«

»Wenn ich je in Versuchung gewesen sein sollte, Kokain zu neh­men - Center hat mich wohl endgültig davon kuriert.«

»Er war auf Mims Mulberry-Row-Feier in Monticello. Einer seiner ersten Auftritte, seit er zurück ist. Er hat sich prima gehalten. Ich meine, es muß doch schrecklich sein, wenn alle dich anstarren und sich gebannt fragen, ob du's auch packst. Da gibt's die, die dir alles Gute wünschen, die, die zu egozentrisch sind, um sich überhaupt um dich zu kümmern, und die, die nett sein wollen, aber ins Fettnäpf­chen treten und was Falsches sagen, und dann die - und das sind die Allerschlimmsten -, die hoffen, daß du auf die Nase fällst. Nur wenn jemand anders versagt, fühlen sie sich überlegen, diese Blödmän­ner.« Harry verzog das Gesicht.

»Wir haben solche Blödmänner während unserer Scheidung nur zu gut kennengelernt.«

»Ach komm, Fair. Alle Frauen zwischen zwanzig und achtzig ha­ben dich umschwirrt, sie haben dich zum Essen eingeladen - nach dem Motto, der arme, alleinstehende Mann. Mich dagegen haben sie regelrecht verdammt. Wie konnte ich nur meinen auf Abwege gera­tenen Ehemann hinauswerfen? Es liege nun mal in der Natur des Mannes, ein bißchen herumzustreunen. Nur Mist habe ich von den anderen Frauen zu hören gekriegt. Die Männer waren wenigstens so vernünftig, die Klappe zu halten.«

Fair hörte auf, das dicke Gummi durchzuschneiden. Ihm lief der Schweiß herunter, obwohl die Temperatur keine zehn Grad betrug. »Das macht das Leben doch interessant.«

»Was?« Die bloße Erinnerung machte sie wütend. »Daß man es mit Blödmännern zu tun hat?«

»Nein - daß jeder von uns einen Ausschnitt vom Leben sieht, ein, zwei Grade aus dem Kreis, aber nie das ganze Rund. Während du Saures bekamst, bekam ich von gewissen älteren Männern wie Her­bie Jones oder Larry Johnson was zu hören.«

»Herbie und Larry?« Harrys Interesse war auf einmal hellwach. »Was haben sie gesagt?«

»Im wesentlichen, daß wir alle Sünder sind und ich dich um Ver­zeihung bitten soll. Weißt du, wer mich noch zu einem Gespräch gebeten hat? Jim Sanburne.«

»Nicht zu glauben.« Sie war seltsam gerührt von diesem, Zusam­menhalt der Männer.

»Harry, er ist ein ungewöhnlicher Mensch. Er sagte, sein Leben sei nicht mustergültig, und daß Untreue sein verhängnisvoller Fehler sei, das wisse er. Er hat mich wirklich verblüfft, denn er ist viel selbst­bewußter, als ich dachte. Er sagte, er habe in jungen Jahren mit Affä­ren angefangen, weil Mim ihn immer als den armen Jungen behan­delt habe.« »Er hat gelernt, wie man in Windeseile zu viel Geld kommt.« Harry hatte Leute, die es aus eigener Kraft zu etwas brachten, immer be­wundert.

»Ja, und er hat keinen Penny von ihrem Erbe angerührt. Die Seiten­sprünge waren nicht nur seine Methode, es ihr heimzuzahlen, sie haben auch sein Selbstvertrauen wiederhergestellt.« Fair setzte sich für eine Minute hin. Tucker kam sofort zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß.

»Ach, Tucker, immer mußt du dich bei den Menschen einschmei­cheln«, warf ihr Pewter vor, ihrerseits das Urbild einer Arschkrieche­rin, sobald eine Kühlschranktür geöffnet wurde.

»Pewter, du bist doch bloß eifersüchtig«, zog Mrs. Murphy sie auf.

»Nein, bin ich nicht«, verteidigte sich Pewter.»Aber Tucker macht es so... so offensichtlich. Hunde haben keine Raffinesse.«

»Pewter, du quasselst wie eine aufgezogene Sprechpuppe.« Harry streckte die Hand aus und streichelte ihr Kinn.

»Zum Kotzen«, sagte Tucker.

»Und warum bist du fremdgegangen?« Harry hatte gedacht, diese Frage würde ihr schwerfallen, aber im Gegenteil. Sie war froh, daß es endlich heraus war, auch wenn sie drei Jahre dazu gebraucht hatte.

»Aus Dummheit.«

»Die Antwort ist selten geschmacklos.«

»Sei nicht so gereizt, ich war wirklich dumm. Ich war unreif. Ich hatte Angst, etwas zu versäumen. Eine Rose nicht gerochen, eine Straße nicht gegangen, dieser ganze Blödsinn. Ich weiß nur, daß ich das Erwachsenwerden noch nachholen mußte, als wir schon verhei­ratet waren - ich hatte mich in meiner eigentlichen Jugend so tief in die Lehrbücher vergraben, daß ich viel von der Lebenserfahrung versäumt hatte, durch die man erwachsen wird. Ich habe mich sozu­sagen selbst versäumt.«

Harry hörte auf, Ziegel zu verlegen, und setzte sich Fair gegenüber.

Er fuhr fort: »Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa den Saab zu Schrott zu fahren, habe ich getan, was von mir erwartet wurde. Schätze, das tun die meisten von uns in Crozet. Ich glaube nicht, daß ich mich selbst sehr gut kannte, oder vielleicht wollte ich mich nicht kennenlernen. Ich hatte Angst vor dem, was ich herausfinden wür­de.«

»Zum Beispiel? Was hättest du an dir selbst bemängeln können? Du siehst gut aus, bist der Beste in deinem Fach und kannst gut mit Leuten umgehen.«

»Ich sollte öfter herkommen.« Er wurde rot. »Harry, ist dir das noch nie passiert, daß du auf der Garth Road fuhrst oder mitten in der Nacht aufgewacht bist und dich gefragt hast, verdammt, was tust du eigentlich, und warum tust du es?«

»Doch.«

»Hat mir Angst gemacht. Ich habe mich gefragt, ob ich so schlau bin, wie alle behaupten. Ich bin's nicht. Ich bin gut in meinem Fach, aber auf anderen Gebieten bin ich manchmal dumm wie Bohnen­stroh. Ich bin immer wieder an Grenzen gestoßen, und da ich in dem Glauben erzogen wurde, keine haben zu dürfen, bin ich vor ihnen davongelaufen - vor dir, vor mir. Damit war nichts gewonnen. Boom Boom war eine fürchterliche Geschmacksverirrung. Und ihre Vor­gängerin.«

Harry unterbrach ihn: »Die war doch ganz hübsch.«

»Aber das reicht nicht. Jedenfalls, eines Morgens bin ich aufge­wacht, und mir war klargeworden, daß ich meine Ehe ruiniert hatte. Ich hatte dem Menschen weh getan, den ich am meisten liebte, ich hatte meine Eltern und mich selbst enttäuscht, und ich hatte mich vor anderen zum Narren gemacht. Gott sei Dank sind meine Patienten Tiere. Ich glaube, nicht, daß Menschen zu mir gekommen wären. Ich war in einem schlimmen Zustand. Ich habe sogar daran gedacht, mich umzubringen.«

»Du?« Harry war verblüfft.

Er nickte. »Und ich war zu stolz, um Hilfe zu bitten. He, ich bin Fair Haristeen, und ich hab mich in der Hand. Männer, die eins neunzig groß sind, brechen nicht zusammen. Wir schuften uns viel­leicht zu Tode, aber wir brechen nicht zusammen.«

»Was hast du gemacht?«

»Heiligabend bin ich zu unserem Reverend nach Hause gegangen. Weihnachten bei Mom und Dad, entsetzlich. Nichts als Verbitterung und gereizte Stimmung.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin von zu Hause geflohen. Ich weiß nicht, ich bin bei Herb aufgekreuzt, und er hat sich hingesetzt und mit mir geredet. Er sagte mir, daß niemand vollkommen ist. Ich solle es langsam angehen, immer einen Tag nach dem anderen. Er hat mir keine Predigt gehalten. Er sagte mir, ich solle auf die Menschen zugehen und mich nicht hinter meinem Äußeren verstecken, hinter einer Maske, verstehst du?«

Sie verstand. »Ja.«

»Dann habe ich etwas gemacht, das eigentlich gar nicht zu mir paßt.« Er spielte mit der Kante der Gummimatte. »Ich bin zu einem Therapeuten gegangen.«

»Das darf doch nicht wahr sein.«

»Doch, wirklich, und du bist die einzige, der ich es erzähle. Ich ar­beite jetzt seit zwei Jahren mit ihm, und ich mache Fortschritte. Ich werde langsam, hm, ein Mensch.«

Das Telefon unterbrach Fair. Harry sprang auf und ging in die Sat­telkammer. Sie hörte Mrs. Hogendobber fast schon, ehe sie den Hö­rer abnahm. Mrs. H. sagte ihr, daß Kimball Haynes soeben von Hei­ke Holtz aufgefunden worden sei. Zweimal sei auf ihn geschossen worden. Als er nicht zu einer Verabredung gekommen und auch nicht ans Telefon gegangen sei, habe sie sich Sorgen gemacht und sei zu ihm gefahren.

Harry, aschfahl geworden, legte den Hörer einen Moment hin. »Fair, Kimball Haynes ist ermordet worden.« Sie kehrte zu Mrs. H. zurück. »Wir sind gleich da.«

Загрузка...