Wie Flüsse durchziehen Krankheiten die Geschichte. Was wäre geschehen, wenn Perikles im fünften Jahrhundert v. Chr. in Athen die Pest überlebt hätte oder wenn die Europäer fast zweitausend Jahre später entdeckt hätten, daß die Beulenpest von Rattenflöhen übertragen wurde?
Mrs. Murphys Ahnen haben das mittelalterliche Europa gerettet, um dann in einem späteren Jahrhundert als Hexenkomplizinnen verdammt, gejagt und getötet zu werden.
Und was wäre Rußlands Schicksal gewesen, wenn der Thronerbe Alexej nicht mit Hämophilie geboren worden wäre, der Bluterkrankheit, die er von den Nachkommen der Königin Viktoria geerbt hatte?
Man ist sich der Gnade der eigenen Gesundheit nie bewußt, bis sie einem entzogen wird.
Die medizinische Forschung hat seit der ersten Autopsie - zum Beweis, daß es so etwas wie einen Kreislauf gibt - in der Diagnostik Fortschritte gemacht. Die verschiedenen Krebsarten werden nicht mehr unter dem Begriff Auszehrung in einen Topf geworfen, sondern als Darmkrebs, Leukämie, Hautkrebs und so weiter kategorisiert.
Der große Durchbruch kam 1796, als Sir Edward Jenner die erste Pockenimpfung durchführte.
Danach verbesserten sich allgemein die Hygienebedingungen, mit der Präventivmedizin ging es aufwärts, und viele Menschen wurden nun achtzig oder noch älter. Doch einige Krankheiten haben den Bemühungen der Menschen getrotzt: Krebs ist das krasseste Beispiel.
Während Larry Nacht für Nacht die Diagnosen und Prognosen seines verstorbenen Partners las, fühlte er sich wieder wie ein junger Mann.
Mit Vergnügen las er Dr. Craigs knappe Notiz»der junge Spund macht sich verdammt gut«, und er war ganz aufgeregt, als er sich noch einmal in die Fälle des Jahres 1940 vertiefte, die er selbst gesehen hatte.
Er erinnerte sich lebhaft an die Autopsie, die sie an Z. Calvin Coles, Samsons Großvater, vorgenommen hatten. Die Leber des alten Herrn war stark vergrößert und so brüchig wie Pergamentpapier gewesen.
Als Larry Alkoholismus als Todesursache in den Totenschein eintragen wollte, hatte Jim seine Hand zurückgehalten.
»Larry, schreiben Sie Herzversagen.«
»Aber daran ist er nicht gestorben.«
»Letztendlich sterben wir alle, weil unser Herz zu schlagen aufhört. Wenn Sie Alkoholismus schreiben, brechen Sie auch noch seiner Frau und seinen Kindern das Herz.«
Von seinem Mentor hatte Larry den diplomatischen Umgang mit heiklen Problemen wie etwa Geschlechtskrankheiten gelernt. Sowohl Dr. Craig als auch Dr. Johnson hatten sie immer vorschriftsgemäß dem Gesundheitsministerium gemeldet. Die Betroffenen selbst mußten frühere Partner von ihrer Infektion in Kenntnis setzen. Viele Menschen brachten das nicht über sich, deshalb hatte Dr. Craig diese Aufgabe übernommen. Larrys Spezialität war es, den Opfern eine Heidenangst einzujagen, in der Hoffnung, daß sie sich besserten.
Von Dr. Craig hatte Larry gelernt, wie man einem Patienten beibrachte, daß er sterben mußte, eine Pflicht, die ihn zerriß. Aber Dr. Craig hatte immer gesagt, »Larry, ein Mensch stirbt, wie er lebt. Sie müssen mit jedem in seiner eigenen Sprache sprechen.« Im Laufe der Jahre hatte er immer wieder gestaunt, welche Courage und Würde scheinbar gewöhnliche Menschen bewiesen, wenn sie dem Tod ins Auge sahen.
Dr. Craig hatte nie danach gestrebt, etwas anderes zu sein als das was er war, ein Kleinstadtarzt. Er glich einem Pfarrer, der seine Schäfchen liebt und nicht den Ehrgeiz hat, Bischof oder Kardinal zu werden.
Als Larry weiter las, erfuhr er zu seiner Überraschung von einem Schwangerschaftsabbruch bei einer jungen Studentin am Sweet Briar College, Marilyn Urquhart. Dr. Craig hatte geschrieben: »Bei dem labilen seelischen Zustand der Patientin fürchte ich, daß ein uneheliches Kind dieser jungen Frau schweren seelischen Schaden zufügen würde.«
Dies waren Dinge, die Dr. Craig sogar vor seinem jungen Partner geheimgehalten hatte. Es entsprach dem Charakter des alten Herrn, eine Dame unter allen Umständen zu schützen.
Die Uhr zeigte Viertel vor drei morgens. Larrys Kopf sackte immer wieder nach vorn. Er hielt mit Gewalt die Augen offen, um noch ein bißchen weiter zu lesen. Plötzlich riß er sie ganz weit auf.
3. März 1948.
Heute war Wesley Randolph mit seinem Vater hier. Colonel Randolph leidet anscheinend an der üblichen Familienkrankheit: Er haßt Injektionsnadeln. Sein Sohn auch, aber der alte Herr hat Wesley so lange zugesetzt, bis er sich sein Blut abnehmen ließ. Ich hege die starke Vermutung, daß der Colonel Leukämie hat. Ich habe das Blut zur Analyse an die Universität von Virginia geschickt und darum ersucht, das gerade erst in Betrieb genommene Elektronenmikroskop zu verwenden.
5. März 1948.
Harvey Fenton bat mich, ihn im Krankenhaus der Universität von Virginia aufzusuchen. Als ich hinkam, erkundigte er sich nach meinem Verhältnis zu Colonel Randolph und seinem Sohn. Ich antwortete, es sei ein herzliches Verhältnis. Dr. Fenton sagte nichts auf meine Erwiderung. Er deutete nur auf das Elektronenmikroskop. Die Blutprobe darunter wies eine Unmenge weiße Blutkörperchen auf.
»Leukämie«, sagte ich. »Colonel Randolph oder Wesley?« »Nein«, entgegnete Fenton. Er schob eine andere Probe unter das Mikroskop. »Sehen Sie hier.«
Ich sah eine eigenartige Zellenform. »Diese Zellendeformation habe ich noch nie gesehen«, sagte ich.
»Es ist Sichelzellenanämie. Den roten Blutkörperchen fehlt das normale Hämoglobin. Statt dessen enthalten sie Hämoglobin S, und die Zellen werden deformiert - sie sehen aus wie Sicheln. Aufgrund dieser Form können die Blutkörperchen mit Hämoglobin S nicht fließen wie normale Zellen, und sie verstopfen Kapillar- und andere Blutgefäße. Diese>Verkehrsstaus< sind für die Betroffenen äußerst schmerzhaft.
Aber es gibt auch einen weniger ernsten Verlauf, bei dem die roten Blutkörperchen zur einen Hälfte normales Hämoglobin und zur anderen Hämoglobin S enthalten. So ein Patient trägt zwar die Anlagen zur Sichelzellenanämie in sich, aber die Krankheit kommt nicht zum Ausbruch.
Wenn er jemanden heiratet, der dieselben Anlagen hat, besteht für die gemeinsamen Kinder eine Wahrscheinlichkeit von fünfundzwanzig Prozent, daß sie die Krankheit erben. Das ist ein sehr hohes Risiko.
Wir wissen nicht, warum, aber Sichelzellenanämie tritt vor allem bei Schwarzen auf. Selten finden sich die Anlagen bei Menschen griechischer, arabischer oder indischer Abstammung. Das Ganze ist vertrackt.
Kennen Sie diese ganzen Witze, daß Neger entweder träge sind oder Hakenwürmer haben? - Nun, heute ist uns klar, daß es in vielen Fällen die Sichelzellenanämie war.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte; von Kind an hatte ich beobachtet, daß sich die weiße Rasse darin gefällt, harsch über die schwarze Rasse zu urteilen. Daher sah ich mir die Blutprobe noch einmal an.
»Ist der Schwarze, dem Sie dieses Blut entnommen haben, gestorben?«
»Der Mann, dem dieses Blut entnommen wurde, lebt, aber er leidet an Krebs. Er hat die Anlagen, aber nicht die Krankheit.« Dr. Fenton hielt inne. »Diese Blutprobe stammt von Colonel Randolph.«
Verblüfft platzte ich heraus: »Und was ist mit Wesley?« »Für ihn besteht keine Gefahr, aber er hat die Anlagen.« Als ich nach Hause fuhr, wußte ich, daß ich Colonel Randolph und Wesley die Wahrheit sagen mußte. Der angenehme Teil der Nachricht war, daß für den Colonel keine unmittelbare Gefahr bestand. Der unangenehme Teil der Nachricht ist klar. Was Larry wohl dazu sagen wird? Ich möchte ihn mit zu Dr. Fenton nehmen, damit er es selbst sieht.
Larry schob das Buch fort.
Jim Craig war am 6. März 1948 ermordet worden. Es war nie dazu gekommen, daß er Larry etwas sagte.
Mit wackeligen Beinen und vom vielen Lesen trüben Augen erhob sich Larry Johnson von seinem Schreibtisch. Er setzte seinen Hut auf und zog sich seinen Sherlock-Holmes-Mantel über, wie er ihn nannte. So war er nicht mehr durch die Straßen von Crozet marschiert, seit er versucht hatte, durch Spaziergänge seinen Herzschmerz zu lindern, nachdem Mim Urquhart ihn im Jahre 1950 wegen Jim Sanburne verschmäht hatte.
Als die Sonne aufging, war Larry klargeworden, daß seine erste Pflicht Warren Randolph galt. Er rief an. Ansley nahm ab, dann holte sie Warren an den Apparat. Alle Randolphs waren Frühaufsteher. Larry erbot sich herüberzukommen, um mit Warren zu sprechen, doch Warren sagte, er würde Larry am späteren Vormittag aufsuchen. Nein, das bereite keineswegs Unannehmlichkeiten.
Was dagegen Unannehmlichkeiten bereitete, war, daß am Samstag morgen um 7 Uhr 44 auf Larry Johnson geschossen wurde.