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Während sie mit Harry, Mrs. Murphy und Tucker zur Arbeit mar­schierte, knurrte Pewter unaufhörlich. Bewegung hieß für die dicke Katze, von Markets Hintereingang zum Hintereingang des Postamts zu gehen.

»Sind wir bald da?«

»Halt bloß den Mund!« herrschte Mrs. Murphy sie an.

»He, guckt mal«, sagte Tucker, als sie Paddy erblickte, der mit ei­nem Affenzahn auf sie zugerast kam. Seine Ohren lagen flach an, sein Schwanz war ausgestreckt, seine Pfoten berührten kaum die Erde. Er kam aus der Stadt gerannt.

»Murph«, rief Paddy,»komm mit!«

»Du gehst doch nicht mit ihm, oder?« Pewter, die Unannehmlich­keiten kommen sah, ließ ihre Schnurrhaare nach vorn schnellen.

»Was gibt's?« rief Mrs. Murphy.

»Ich hab was gefunden - was Wichtiges.« Er bremste vor Harrys Füßen.

Harry bückte sich und kraulte Paddys Ohren. Weil er nicht unhöf­lich sein wollte, rieb er sich an ihrem Bein.»Komm mit, Murph. Du auch, Tucker.«

»Würdest du mir vielleicht mal sagen, worum es geht?« fragte der kleine Hund vorsichtig.

Pewter rümpfte die Nase.»Gute Frage.«

»In Larry Johnsons und Hayden McIntires Praxis« - Paddy ver­schnaufte -,»ich hab was gefunden.«

»Was hast du da gemacht?« Tucker wollte erst sicher sein, daß es wirklich wichtig war.

»Hab bloß mal vorbeigeschaut. Ich erklär euch das unterwegs. Wir müssen da sein, bevor die Arbeiter kommen.«

»Gehen wir.« Mrs. Murphy stellte ihren Schwanz ruckartig senk­recht und sauste los.

»He, he«, rief Tucker und fügte nach kurzem Überlegen hinzu: »Warte auf mich!«

Pewter setzte sich wütend hin und heulte.»Ich will nicht rennen. Ich geh keinen Schritt weiter. Meine Pfoten tun weh, und ich hasse euch alle. Ihr könnt mich hier nicht allein lassen!«

Verblüfft über die wilde Jagd der Tiere in Richtung Stadtmitte, setzte Harry dazu an, ihnen nachzurufen, doch dann besann sie sich, daß die meisten Leute eben erst aufwachten. Sie fluchte leise vor sich hin. Harry wunderte sich allerdings nicht über Pewters standhafte Weigerung, noch einen Schritt weiterzugehen, nachdem ihre trainier­teren Freundinnen sie so überstürzt verlassen hatten. Sie kniete sich hin und hob das Katzenpaket auf. »Komm, ich trag dich, du faules Stück.«

»Du bist die einzige Person auf dieser weiten Welt, die ich mag«, schnurrte Pewter.»Mrs. Murphy ist ein egoistisches Miststück. Wirk­lich, du solltest mehr mit mir Zusammensein. Sie rennt mit ihrem nichtsnutzigen Exmann davon, und der dämliche Köter dackelt wie ein fünftes Rad am Wagen hinterher.« Die Katze lachte.»Also, ich würde diesen ehebrecherischen Kater nicht mal grüßen.«

»Pewter, du hast ja offenbar ein wirklich schweres Los zu tragen.« Harry war erstaunt, daß die nicht besonders große Katze ein solches Gewicht haben konnte.

Während die drei Tiere durch die quadratischen Stadtviertel rann­ten, informierte Paddy Mrs. Murphy und Tucker.

»Larry und Hayden Mclntire bauen den Praxisflügel des Hauses aus. Ich geh dort gern auf die Jagd. Da gibt's massenhaft Spitzmäu­se.«

»Die muß man genau an der richtigen Stelle packen, denn die kön­nen gemein zubeißen«, unterbrach Mrs. Murphy ihn.

»Man kommt leicht in den Anbau rein und wieder raus«, fuhr er fort.

Vor ihnen erschien das schmucke Haus mit dem kurvigen, mit Plat­ten belegten Weg, der sich dann teilte, um zur Haustür und zum Pra­xiseingang zu führen. Das Schild DR. LAWRENCE JOHNSON & DR. HAYDEN MCINTIRE schwang quietschend im leichten Wind. »Noch keine Arbeiter da«, miaute Paddy triumphierend. Er duckte sich unter der dicken Plastikplane durch, die die Außenmauer be­deckte, und sprang in die erweiterte Fensteröffnung. Das Fenster war noch nicht eingesetzt worden. Zentrum des jüngsten Anbaus war der Kamin. Nun wurde als Gegenpol auch am Ende des neuen Raumes ein neuer Kamin gebaut.

»He, und ich?«

»Wir machen die Tür auf, Tucker.« Mrs. Murphy glitt anmutig hin­ter Paddy durch das Fenster und landete auf dem mit Sägemehl be­deckten Fußboden. Sie lief zur Tür des Anbaus, die noch kein Schloß hatte; das komplizierte Baldwin-Schloß lag noch eingepackt auf dem Fußboden. Mrs. Murphy stieß an die Latte, die gegen die Tür ge­stemmt war. Sie fiel klappernd auf die Erde, und die Tür ließ sich leicht öffnen. Die Corgihündin eilte hinein.

»Wo bist du?« Mrs. Murphy konnte Paddy nicht sehen.

»Hier«, tönte es dumpf.

»Total verrückt«, kommentierte Tucker lakonisch das Geräusch, das aus dem großen Steinkamin kam.

»Verrückt oder nicht, ich geh rein.« Mrs. Murphy trottete zu der höhlenartigen Öffnung. Auf den Schamottsteinen hatte ich vom jahr­zehntelangen Gebrauch eine Kaskade aus seiden- und satinartig schimmernden Schwarz- und Brauntönen gebildet. Das Haus war ursprünglich 1824 erbaut worden der erste Anbau war 1852 hinzuge­kommen.

Tucker plazierte sich in der Feuerstelle.»Als wir das letzte Mal in einem Kamin standen, war eine Leiche drin.«

»Hier oben«, rief Paddy. Seine tiefe Stimme hallte vom Rauchfang wider.

Mrs. Murphys Pupillen wurden weit, und sie bemerkte links von dem großen Rauchfang eine schmale Öffnung. Während des Umbaus waren ein paar lockere Ziegel entfernt worden, so daß für eine sport­liche Katze gerade genug Platz war, sich hindurchzuzwängen.»Ich komme.« Sie stieß sich von ihren kräftigen Hinterbeinen ab, hatte die Entfernung aber falsch abgeschätzt.»Verdammt.« Die Tigerkatze hielt sich an der Öffnung fest, ihr Hinterteil hing über der Seite. Sie krallte sich mit den Hinterpfoten ein und hangelte sich den Rest des Weges hoch.

Paddy lachte.»Gar nicht so einfach.«

»Du hättest mich ruhig warnen können«, beschwerte Mrs. Murphy sich.

»Und mir den Spaß entgehen lassen?«

»Was gibt's so Wichtiges hier oben?« wollte sie von ihm wissen, doch sobald ihre Augen sich an das spärliche Licht gewöhnt hatten, sah sie, daß sie direkt darauf saß. Eine dicke gewachste Ölhaut, ähn­lich wie die äußere Schicht eines teuren Regenmantels, ein Barbour etwa oder ein Dri-as-a-Bone, umhüllte etwas, das wie Bücher oder Kisten aussah.»Kriegen wir das auf?«

»Hab ich versucht. Erfordert Menschenhände«, bemerkte Paddy betont lässig, obwohl er völlig hingerissen war, weil seine Entdeckung die erhoffte Erregung in Mrs. Murphy erzeugt hatte.

»Was gibt es da oben?« jaulte Tucker.

Mrs. Murphy steckte den Kopf aus der Öffnung.»Eine Art Ver­steck, Tucker. Bücher vielleicht oder Schmuckschatullen. Wir können es nicht aufkriegen.«

»Glaubst du, die Menschen werden es finden?«

»Vielleicht ja, vielleicht nein.« Paddys hübsche Züge erschienen jetzt neben Mrs. Murphy.

»Wenn die Arbeiter den Kamin neu verfugen, steht es fünfzig zu fünfzig, ob sie hier reingucken oder bloß Steine reinstecken und mit Mörtel verkleistern«, überlegte Mrs. Murphy laut.»Der Fund ist zu gut, um wieder verlorenzugehen.«

»Vielleicht ist es ein Schatz.« Tucker grinste.»Der verlorene Schatz von Claudius Crozet!«

»Der ist im Tunnel, in einem von den Tunnels«, sagte Paddy, der wußte, daß der Ingenieur Crozet vier Tunnels durch die Blue Ridge Mountains getrieben hatte, eine der Großtaten der Ingenieurkunst des 19. Jahrhunderts - oder aller Jahrhunderte. Er hatte sein Meisterwerk ohne Hilfe von Dynamit vollbracht, das damals noch nicht erfunden war.

»Was glaubst du, wie lange das schon hier drin ist?« fragte Paddy.

Mrs. Murphy drehte sich um und beklopfte die Ölhaut.»Hm, wenn jemand das, sagen wir, in den letzten zehn oder zwanzig Jahren ver­steckt hätte, hätte er vermutlich Plastik genommen. Ölhaut ist teuer und schwer zu bekommen. Mom wollte mal so einen australischen Regenmantel zum Reiten haben, aber das Ding sollte über 225 Dol­lar kosten, glaube ich.«

»Zu schade, daß die Menschen kein Fell haben. Denk nur, was sie dann an Geld sparen würden«, sagte Paddy.

»Ja, und sie müßten sich keine Gedanken mehr darüber machen, welche Farben man trägt, denn Fell ersetzt alle Farben. Seht mich an«, bemerkte Tucker.»Oder Mrs. Murphy. Könnt ihr euch gestreif­te Menschen vorstellen?«

»Sie würden erheblich besser aussehen!« schnurrte Paddy.

Mrs. Murphy, deren Gedanken schon weiterrasten, während die Felldiskussion noch in vollem Gange war, sagte:»Wir müssen Larry hierher kriegen.«

»Keine Chance.« Paddy setzte geringe Hoffnungen auf menschli­che Intelligenz.

»Du bleibst hier und steckst den Kopf aus dem Loch. Tucker und ich holen ihn. Wenn wir ihn nicht herlotsen können, kommen wir allein wieder, aber du rührst dich nicht von der Stelle, okay?«

»Befehlen konntest du schon immer gut.« Er lächelte diabolisch.

Mrs. Murphy landete in der Feuerstelle und flitzte zur Tür hinaus, Tucker dicht hinterher. Sie überquerten den Rasen und blieben unter dem Küchenfenster stehen, wo ein Licht schimmerte. Larry machte sich gerade seine Tasse Morgenkaffee.

»Du bellst, ich spring auf das Fenstersims.«

»Das Fenstersims ist viel zu schmal«, sagte Tucker.

»Ich kann mich wenigstens davon abstoßen.« Und dies tat Mrs. Murphy, während Tucker kläffte wie verrückt. Der Anblick des ge­streiften Tieres, das vier Pfoten an eine Fensterscheibe stemmte und sich dann abstieß, machte Larry ruckartig hellwach. Der zweite Stoß von Mrs. Murphy brachte ihn vollends auf Touren. Er öffnete die Hintertür, und als er die zwei Racker sah, dachte er, sie wollten ihm Gesellschaft leisten.

»Mrs. Murphy, Tucker, kommt rein.«

»Komm du raus«, bellte Tucker.

»Ich lauf rein und gleich wieder raus.« Mrs. Murphy sauste an Lar­ry vorbei, wobei sie flüchtig seine Beine streifte, machte eine Kehrt­wendung und flitzte zwischen seinen Beinen hindurch wieder hinaus.

»Was habt ihr zwei bloß?« So perplex er war, der alte Herr fand das Schauspiel äußerst amüsant.

Noch einmal sauste Mrs. Murphy hinein und gleich wieder hinaus, während Tucker nach vorn rannte, bellte und ein paar Schritte fort­lief.»Komm mit, Doc. Wir brauchen dich!«

Larry, ein intelligenter Mann, soweit sich das von einem Menschen sagen ließ, folgerte aus dem Verhalten der zwei Tiere, die er kannte und schätzte, daß sie äußerst erregt waren. Er schnappte sich seine alte Jacke, klatschte sich seinen Filzdeckel auf den Kopf und folgte ihnen. Er fürchtete, daß ein anderes Tier oder gar ein Mensch verletzt war. Er hatte davon gehört, daß Tiere Menschen zu einem verletzten geliebten Wesen geführt hatten, und plötzlich durchfuhr ihn eine Angst. Wenn nun Harry auf dem Weg zur Arbeit etwas zugestoßen war?

Er folgte ihnen in den Anbau. Als er durch die Tür getreten war, blieb er stehen, während Mrs. Murphy und Tucker zum Kamin sau­sten.

»Heul, Paddy. Dann denkt er, du bist eingeklemmt oder so was!«

Paddy sang, so laut er konnte:»Wälz mich, wälze mich im Saal, leg mich flach und mach's noch mal.«

Tucker kicherte. Mrs. Murphy sprang zu Paddy hinauf, verzichtete jedoch darauf, in den Gesang einzustimmen. Larry ging zum Kamin und erblickte Paddy, der den Kopf zurückgeworfen hatte und träller­te, was das Zeug hielt.

»Bist du eingeklemmt?« Larry sah sich nach einer Leiter um. Er fand keine, erspähte aber einen großen Farbeimer. Als er ihn am Henkel in die Höhe hob, merkte er, wie schwer er war. Er schleppte ihn zum Kamin unter die Öffnung, wo die Katzen jetzt erbärmlich miauten, und stellte sich vorsichtig darauf. Er konnte gerade eben hineinsehen.

Er griff nach Paddy, der zurückfuhr. »Aber, aber, Paddy, ich tu dir doch nichts.«

»Das weiß ich, du Trottel. Du sollst gucken.«

»Seine Augen sehen nicht gut im Dunkeln, außerdem ist er alt. Bei alten Leuten sind sie besonders schlecht«, klärte Mrs. Murphy ihren Exmann auf.»Kratz an der Ölhaut.«

Paddy kratzte wie toll. Seine Krallen machten kleine Knallgeräu­sche, als er an dem robusten Tuch zerrte.

»Blinzel, Larry, und dann guck richtig hin«, empfahl Mrs. Murphy.

Als hätte er verstanden, beschattete Larry die Augen und spähte hinein. »Was in drei Teufels Namen.?«

»Lang rein«, forderte Mrs. Murphy ihn auf, gleichzeitig bewegte sie sich rückwärts auf den Schatz zu.

Larry stützte sich mit der linken Hand, die unterdessen rußver­schmiert war, am Kamin ab und griff mit der rechten hinein. Mrs. Murphy leckte ihm zur Ermunterung die Finger. Er ertastete die Öl­haut. Paddy sprang vor und kam an die Öffnung. Mrs. Murphy ver­suchte, das Paket zu schubsen, aber es war zu schwer. Larry zog und zerrte, und es gelang ihm, die schwere Last zentimeterweise vorzu­ziehen, bis sie in der Öffnung klemmte. Er vergaß die Katzen für einen Augenblick und versuchte, das in Ölhaut eingeschlagene Paket herauszuziehen, aber es paßte nicht durch. Er beklopfte die Steine rund um das Loch, und sie gaben etwas nach. Vorsichtig nahm er einen heraus, dann einen zweiten und dritten. Diese Steine waren absichtlich so locker gelassen worden. Die zwei Katzen steckten die Köpfe aus der neuen Öffnung. Larry zwängte das Paket durch und fiel fast vom Eimer, weil das Zeug so schwer war. Er schwankte und sprang rückwärts hinunter.

»Nicht schlecht für einen alten Mann«, bemerkte Tucker.

»Mal sehen, was er da hat.« Mrs. Murphy hüpfte herunter, Paddy hinterher.

Larry kniete sich hin und machte sich an dem Knoten auf der Rückseite des Paketes zu schaffen. Die drei Tiere saßen schweigend daneben und sahen mit großem Interesse zu.

Endlich öffnete Larry triumphierend die Ölhautumhüllung. Drei voluminöse ledergebundene Bände kamen zum Vorschein. Mit zit­ternder Hand schlug Larry den ersten Band auf.

Als Larry die energische Handschrift sah, in schwarzer Tinte, war ihm, als hätte ihn ein Medizinball mit voller Wucht auf die Brust getroffen. Er erkannte die Schrift, und im selben Moment wurde der Mann, den er bewundert und mit dem er gearbeitet hatte, wieder lebendig. Larry erinnerte sich an den Geruch von Jims Pfeifentabak, daran, wie er immer die Daumen unter seine Hosenträger gesteckt und sie auf und ab geschoben hatte, und seine glühende Überzeu­gung, daß er der reichste Arzt auf der ganzen Welt sein würde, wenn er ein Mittel gegen Glatzen finden könnte. Larry flüsterte laut: »Die geheimen Tagebücher eines Landarztes, Band I, 1912, von Dr. med. James Craig, Crozet, Virginia.«

Als Mrs. Murphy und Tucker Larrys Betrübnis bemerkten, setzten sie sich neben ihn und drückten ihre kleinen Körper an seinen. In jedem Menschenleben gibt es Momente, wo die Seele von der Har­pune des Schicksals geritzt und dem Menschen Gelegenheit gegeben wird, durch seinen Schmerz die Welt auf neue Weise zu sehen. Dies war ein solcher Augenblick, und durch seine Tränen sah Larry die zwei pelzigen Köpfe und streichelte sie, während er überlegte, wie oft im Leben wir von Liebe und Verständnis umgeben und zu selbst­bezogen, zu sehr auf uns Menschen fixiert sind, um zu erkennen, was die Götter uns geschenkt haben.

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