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»So ein fieser Trick«, beschimpfte Mim den Sheriff, der neben Lar­rys Bett stand. Zuvor hatten Harry, Miranda und Mim beim Wieder­sehen mit ihrem alten Freund Freudentränen vergossen. Sie hatten sogar Larry zum Weinen gebracht. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß er so beliebt war.

»Mrs. Sanburne, es mußte sein, es ist ein Wettlauf mit der Zeit.«

Mim saß auf dem unbequemen Stuhl, Harry und Miranda standen auf der anderen Seite von Larrys Bett. Miranda wollte die Hand des alten Herrn gar nicht mehr loslassen, bis ein scharfer Blick von Mim es ihr gebot. Da fiel ihr ein, daß Larry und Mim einmal ein Paar ge­wesen waren.

»Immer noch eifersüchtig«, dachte Miranda bei sich.

Larry in Kissen gebettet, streckte die Hand nach einem Glas Saft aus. Mim reichte es ihm sofort. »Hör zu, Larry, wenn es dir zu an­strengend wird, können wir gehen, und der Sheriff kann uns über alles aufklären. Aber wenn du sprechen kannst.«

Er schlürfte den Saft und gab das Glas zurück an Mim, zu der die Rolle der Krankenschwester nun wirklich überhaupt nicht paßte. »Danke, meine Liebe. Ich kann sprechen, wenn Sheriff Shaw es er­laubt.«

Rick gab sich geschlagen und rieb sich seine Geheimratsecken. »Das geht in Ordnung. Ich denke, wenn die Mädels« - er sagte aus­drücklich »Mädels« - »aus Ihrem Munde hören, was passiert ist, werden sie sich vielleicht benehmen.«

»Bestimmt«, tönte es im Chor, aber es klang nicht sehr überzeu­gend.

»Harry, ich habe die Geschichte Mrs. Murphy, Tucker und dem lu­stigen Paddy zu verdanken.«

Rick schüttelte den Kopf. »Schon wieder Mrs. Murphy?«

»Die Tiere haben mich zu der Stelle geführt, wo Jim Craig, der er­mordet wurde, bevor Sie geboren wurden, seine Tagebücher ver­steckt hatte. Er war mein Partner, wie Ihnen vielleicht bekannt ist. Er hat mich in seine Praxis aufgenommen, und ich hätte mit der Zeit einen Anteil erworben - mit erheblichem Rabatt, denn Jim war ein sehr, sehr großzügiger Mensch -, aber dann ist er gestorben, und ich habe die Praxis praktisch geerbt, was mir ein einigermaßen sorgen­freies Leben ermöglichte.« Er sah Mim an.

Mim konnte ihm nicht in die Augen sehen, weshalb sie mit dem Saftglas und dem dicken, biegsamen Trinkhalm spielte.

Larry fuhr fort: »Jim hat von 1912 bis zum Tag seines Todes, dem 5. März 1948, Tagebuch geführt. Ich glaube, daß entweder Colonel Randolph ihn getötet hat oder Wesley, der damals gerade aus der Luftwaffe entlassen war.«

»Aber warum?« rief Miranda aus.

Larry lehnte seinen weißhaarigen Kopf an das Kissen und atmete tief ein. »Ah, aus ebenso traurigen wie interessanten Gründen. Als das Elektronenmikroskop exaktere Analysen ermöglichte, hat Jim entdeckt, daß Wesley und sein Vater die Anlagen zur Sichelzellenan­ämie in sich trugen. Sie sind nicht an Leukämie erkrankt - diese Krankheit kann sich ganz unabhängig von der Sichelzellenveranla­gung entwickeln -, aber es bedeutete, daß die Nachkommen des Co­lonels oder Wesleys keine, äh, Farbigen heiraten konnten, ohne be­fürchten zu müssen, daß sie die Veranlagung weitervererben würden. Wenn nämlich auch die Ehepartner die Anlage in sich trugen, konnte sich bei den Kindern das Vollbild der Krankheit entwickeln, die äu­ßerst schmerzhafte Phasen hat, und es gibt kein Heilmittel. Der Schaden, der durch die Häufung dieser Phasen entsteht, kann zum Tode führen.«

»O Gott.« Mim klappte die Kinnlade herunter. »Wesley war, hm, also, er war.«

»Rassist«, beendete Harry für sie den Satz.

»Das ist sehr grob ausgedrückt.« Mim strich das Bettlaken glatt. »Er hatte eine ganz bestimmte Erziehung genossen und konnte mit den Veränderungen nicht fertig werden. Aber man sollte meinen, als er von der Sichelzellenanämie erfuhr, wäre er gemäßigter gewor­den.«

»Oder eher schlimmer. Wer ist antisemitischer als ein anderer Ju­de? Wer ist antischwuler als ein anderer Homosexueller? Antifemini­stischer als eine andere Frau? Die Unterdrückten verfügen über einen Vorrat an Gemeinheiten, die sie ausschließlich für ihresgleichen reserviert haben.«

»Harry, Sie überraschen mich«, erklärte Mim trocken.

»Aber sie hat recht«, sprang der Sheriff Harry bei. »Sagt man den Leuten, sie sind« - er hielt inne, denn er wollte gerade »beschissen« sagen - »wertlos, kommt es zu merkwürdigen Verhaltensweisen. Seien wir ehrlich, niemand will den Armen nacheifern. Alle wollen den Reichen nacheifern, und kennen Sie viele reiche Schwarze?«

»Nicht in Albemarle County.« Miranda begann, in dem kleinen Zimmer umherzugehen. »Aber die Randolphs wirken in keiner Wei­se schwarz.«

»Nein, sie haben es aber im Blut. Von seltenen Ausnahmen abge­sehen, tritt die Sichelzellenanämie nur bei Menschen mit afrikani­schem Blut auf. Man muß die Krankheit erben. Man kann sie nicht durch Ansteckung bekommen. Diese Veranlagung scheint die einzi­ge bleibende Spur von Wesley Randolphs schwarzem Erbe zu sein«, erläuterte Larry.

»Und Kimball Haynes hat das irgendwie herausgefunden.« Harrys Gedanken rasten.

»Aber wie?« wunderte sich Larry.

»Ansley hat gesagt, Kimball hätte die Randolph-Papiere nicht gele­sen«, warf Harry ein.

»Absurd! Es ist absurd, wegen so was einen Mord zu begehen!« ereiferte sich Miranda.

»Mrs. Hogendobber, ich habe einen Vierzehnjährigen gesehen, der wegen eines Fünfdollarscheins in seiner Tasche erstochen wurde. Ich habe einfache Männer vom Land gesehen, die sich gegenseitig um­gebracht haben, weil einer im betrunkenen Zustand den anderen be­schuldigte, mit seiner Frau zu schlafen, oder ihn Schwuchtel nannte. Absurd?« Rick zuckte mit den Achseln.

»Haben Sie es gewußt?« fragte Harry Larry in der ihr eigenen Di­rektheit.

»Nein. Wesley kam im Laufe der Jahre gelegentlich zur Untersu­chung, aber er hat sich immer geweigert, sich Blut abnehmen zu lassen. Da er reich war, flog er zu einer dieser teuren Entschlackungs- oder Rehabilitationskliniken. Dort haben sie eine Blutunter­suchung gemacht, und er ließ mir von ihnen die Anzahl der weißen Blutkörperchen durchgeben. Ich nahm an, daß er Leukämie hatte. Er wollte sie nicht von mir behandeln lassen, wohl deswegen, nahm ich an, weil ich Landarzt bin. Oh, für Grippeimpfungen und dergleichen ist er schon zu mir gekommen, und dabei haben wir auch über seinen Zustand gesprochen. Wenn ich ihm zusetzte, wurde er verschlossen, und dann ging er in die Mayo-Klinik. Damit war er für mich außer Reichweite, aber Warren nicht. Spritzen waren ihm ein Greuel, und ich konnte ihn nur etwa alle fünfzehn Jahre zu einer Generaluntersu­chung bewegen.«

»Was glaubst du, wer Jim Craig umgebracht hat?« fragte Mim.

»Höchstwahrscheinlich Wesley. Dem Colonel wird die Neuigkeit nicht angenehm gewesen sein, aber ich glaube nicht, daß er deswe­gen einen Mord begangen hätte. Jim hätte es auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gebracht. Ich kann mich irren, aber ich glaube einfach nicht, daß Colonel Randolph Jim ermordet hätte. Wesley war ein Hitzkopf, als er jung war.«

»Glauben Sie, die Randolphs haben es immer gewußt?« Harry machte der emsig auf und ab gehenden Mrs. Hogendobber ein Zei­chen, sie solle sich setzen. Ihre Lauferei machte Harry nervös.

»Nein, weil es erst seit ungefähr fünfzig Jahren möglich ist, die Krankheit durch eine Blutuntersuchung zu erkennen«, antwortete Larry. »Ich kann nur sagen, daß frühere Generationen den medizini­schen Begriff Sichelzellenanämie nicht gekannt haben. Was sie an­sonsten wußten, kann man nur vermuten.«

»Darüber habe ich nie nachgedacht«, sagte Sheriff Shaw.

Miranda konnte das Entsetzliche nicht fassen. »Es ist mir egal wer was gewußt hat. Man begeht wegen so etwas keinen Mord.«

»Warren hat immer im Schatten seines Vaters gelebt. Nur bei Ans­ley ging er aus sich heraus. Seien wir ehrlich, sie ist der einzige Mensch, der in Warren je einen Mann sah. Als er gleich nach dem Tod seines Vaters dahinterkam, daß sie einen anderen hatte, ich den­ke, das war zuviel für ihn. Warren ist nicht sehr stark«, sagte Harry.

»Ich dachte, Samson Coles war derjenige, der fremdging. Ansley doch nicht etwa auch?« Miranda wollte es genau wissen.

»Bloß nicht weiter dran rühren.« Mim schürzte die Lippen.

»Nein.« Wie Miranda fand auch Harry den Skandal, nun ja, son­derbar.

»Warum verhaften Sie Warren nicht?« fragte Mim den Sheriff streng.

»Erstens hat Dr. Johnson seinen Beinahe-Mörder nicht gesehen, wenngleich wir beide glauben, daß es Warren war. Zweitens, wenn ich Warren in eine Falle locken und ihn dazu bringen kann, sich zu verraten, erleichtert das das Strafverfahren erheblich. Warren ist so reich, daß er davonkommt, wenn ich ihn nicht festnageln kann. Er wird ein, zwei Millionen für die besten Verteidiger Amerikas lockermachen und sich garantiert herauswinden. Ich hatte gehofft, wenn wir die Tatsache, daß Larry lebt, für vierundzwanzig Stunden ge­heimhalten, würde mir das den Vorsprang verschaffen, den ich brau­che, aber viel weiter kann ich nicht gehen. Die Reporter werden je­manden bestechen, und außerdem ist es grausam, die Leute Larrys Tod betrauern zu lassen. Sehen Sie doch nur, wie Sie reagiert ha­ben.«

»Das hat mich sehr gefreut, meine Damen.« Wieder traten Larry die Tränen in die Augen.

»Warum können Sie nicht einfach zu Warren gehen und sagen, daß Larry lebt, und sehen, wie er reagiert?« wollte Mim wissen.

»Das könnte ich, aber er würde sich vorsehen.«

»Bei mir nicht. Er mag mich«, sagte Harry.

Rick hob die Stimme. »Nein.«

»Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?« blaffte Mim den Sheriff an.

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