Mrs. Murphy quetschte ihren Hintern entschlossen in Mim Sanburnes Postfach. Die Wand mit den Schließfächern war horizontal in eine obere und eine untere Hälfte geteilt, und zwar durch ein zwanzig Zentimeter breites Sims aus Eichenholz. Das erwies sich als praktisch, wenn Harry Poststapel beiseite legen oder ihre Feinsortierung vornehmen mußte, wie sie es nannte.
Als Kätzchen hatte Mrs. Murphy immer in einem großen Kognakschwenker geschlafen. Für Kognak hatte sie nie eine Vorliebe entwickelt, wohl aber für ausgefallene Formen. Zum Beispiel konnte sie keiner neuen Kleenexschachtel widerstehen. Früher hatte sie die Tücher herauskrallen und sich in der Schachtel verstecken können. Das hatte bei Harry immer wieder grölendes Gelächter hervorgerufen. Als Mrs. Murphy heranwuchs, entdeckte sie, daß immer weniger von ihr in die Schachtel paßte. Am Ende konnte sie nur noch das Hinterbein hineinstecken. Zum Teufel mit den Kleenextüchern.
Gewöhnlich begnügte sich die Katze mit dem leinenen Postkarren. Wenn Harry oder (was selten vorkam) Mrs. Hogendobber sie herumschob, war sie im siebten Katzenhimmel. Aber heute hatte sie Lust, sich in etwas Kleines zu zwängen. Vielleicht hing das mit den bedrohlich tief treibenden grauen Wolken zusammen. Oder damit, daß Market Shiflett mit Pewter und drei Rippenknochen für die Tiere herübergekommen war. Pewter hatte in Markets Laden einen unerfreulichen Aufstand verursacht. Sie war in Ellie Wood Baxters Einkaufswagen gesprungen und hatte ihre gewaltigen Krallen in einen delikaten Schweinebraten versenkt.
Harry mochte Pewter gern, deshalb hatte sie nichts dagegen, sie tagsüber bei sich zu haben. Die zwei Katzen und Tucker hatten bis zur Erschöpfung an ihren Knochen genagt. Jetzt schliefen alle tief und fest. Auch Harry und Mrs. H. hätten sich gern hingelegt.
Harry sortierte gerade einen gewaltigen Packen Kataloge. Plötzlich hielt sie inne: »Sehen Sie sich das an!«
»Sieht aus wie ein silberner Vorhang. George und ich sind gern im Regen spazierengegangen. Man hat es ihm nicht angesehen, aber George Hogendobber hatte eine romantische Ader. Er wußte, wie man eine Dame behandelt.«
»Er hat sich aber auch eine erstklassige Dame ausgesucht.«
»Das haben Sie nett gesagt.« Mrs. Hogendobber bemerkte Mrs. Murphy, die den Vorderkörper auf dem Sims und das Hinterteil in Mims Postfach geklemmt hatte. Sie zeigte auf sie.
Harry lächelte. »Sie ist unmöglich. Vermutlich träumt sie von weißen Mäusen oder rosa Elefanten. Ich liebe diese Katze! Wo ist eigentlich die Missetäterin?« Sie bückte sich und sah die schlafende Pewter unter dem Schalter; ihre rechte Pfote lag schlapp über den Resten des Rippenknochens. Das Fleisch war sauber abgenagt. »Junge, Junge, ich wette, Ellie Wood hat einen Tobsuchtsanfall gekriegt.«
»Market war auch nicht gerade erbaut. Vielleicht sollten Sie ihn für eine Weile von Pewter erlösen und sie heute abend mit nach Hause nehmen. Ein bißchen Bewegung im Freien kann ihr nur guttun.«
»Gute Idee. Mir fallen eh gleich die Augen zu, ich bin genauso schlapp wie die Mädels.«
»Das macht der niedrige Luftdruck. Bald kommen noch die Pollen dazu. Ich habe einen Horror vor den zwei Wochen, wenn meine Augen rot sind, meine Nase trieft und mein Kopf hämmert.«
»Lassen Sie sich doch von Larry Johnson eine Allergiespritze geben.«
»Der einzige, der von so einer Allergiespritze etwas hat, ist Larry Johnson«, murrte sie. »Er wird bald hier sein, um uns für ein Mittagspäuschen abzulösen. Er arbeitet jetzt wieder voll. Wissen Sie noch? In der Zeit, als er sich gerade zur Ruhe gesetzt hatte, kam er öfter, damit wir uns Zeit zum Mittagessen nehmen konnten. Das hat ungefähr sechs Monate gedauert. Dann hat er angefangen, montags, mittwochs und freitags vormittags in seiner Praxis zu arbeiten, und jetzt arbeitet er wieder voll.«
»Finden Sie, daß die Menschen sich zur Ruhe setzen sollen?«
»Absolut nicht. Ich meine, nur, wenn sie wollen. Ich bin davon überzeugt, jawohl, felsenfest davon überzeugt, Mary Minor, daß der Ruhestand meinen George umgebracht hat. Hobbys zu pflegen ist nicht dasselbe, wie für Menschen verantwortlich zu sein, im Auge des Sturms zu sitzen, wie er zu sagen pflegte. Er hat seine Arbeit geliebt.«
»Ich bin auf der Suche nach einem Job, den ich nebenbei machen kann. Dann kann ich weiterarbeiten, wenn ich in Pension gehe. Diese Beamtenjobs sind streng geregelt. Ich werde mich pensionieren lassen müssen.«
Miranda lachte. »Sie sind noch nicht einmal fünfonddreißig.«
»Aber es geht so schnell.«
»Das ist wahr. Das ist wahr.«
»Außerdem brauche ich Geld. Letzte Woche mußte ich den Vergaser meines Traktors auswechseln. Versuchen Sie mal, einen Vergaser für einen 1958er John Deere zu finden. Mein Traktor ist inzwischen aus einem Sammelsurium aus allen Zeiten zusammengesetzt. Und ich weiß nicht, wie lange der Transporter noch durchhält, er ist ein 1978er. Ich brauche Allradantrieb - das Haus muß innen gestrichen werden. Wo soll ich das Geld hernehmen?«
»Sie hatten es leichter, als Sie verheiratet waren. Es ist unrealistisch zu vermuten, daß man auf das Gehalt eines Mannes verzichten kann. Scheidung und Armut scheinen für die meisten Frauen ein und dasselbe zu sein.«
»Ich konnte mich ganz gut selbst ernähren, bevor ich verheiratet war.«
»Damals waren Sie jünger. Sie hatten kein Haus zu unterhalten. Mit den Jahren wird ein gewisser Komfort immer wichtiger. Wenn ich meine Kaffeemaschine, meine Heizdecke und meinen Toaster nicht hätte, wäre ich ein halber Mensch«, scherzte sie. »Und die Orgel, die mir George zu meinem fünfzigsten Geburtstag gekauft hat? Ohne sie könnte ich nicht leben.«
»Ich hätte gern einen Toyota Land Cruiser. Aber den kann ich mir nicht leisten.«
»Hat Mim so einen?«
»Sie hat doch alles. Ja, sie hat den Land Cruiser und Jim den Range Rover. Little Marilyn hat auch einen Range Rover. Wenn man vom Teufel spricht.«
Mim hielt vor dem Postamt und blieb zunächst im Wagen sitzen. Sie wußte nicht recht, ob der Regen wohl aufhören würde. Da er nicht nachließ, stürmte sie in Windeseile ins Postamt. »Huuh«, stöhnte sie, als sie die Tür hinter sich zumachte. Weder Harry noch Mrs. Hogendobber sagten etwas über die schlafende Mrs. Murphy. Mim öffnete ihr Postfach. »Ein Katzenschwanz. Ich habe mir schon immer einen Katzenschwanz gewünscht. Und einen Katzenhintern. Mrs. Murphy, was machst du da?« fragte sie, während sie die Katze sachte in den Schwanz kniff.
»Laß mich in Ruhe. Ich zieh dich auch nicht am Schwanz«, rief Mrs. Murphy empört.
Harry und Miranda lachten. Harry ging zu der Katze hinüber, deren Augen jetzt halb offen waren. »Komm, Schätzchen, raus da.«
»Ich hab's gerade so gemütlich.«
Harry spürte einen heftigen Widerstand, deshalb schob sie ihre Hände unter Mrs. Murphys Vorderbeine und zog sie sanft hervor, wobei die Tigerkatze sie wüst beschimpfte. »Ich weiß, daß du's da drin gemütlich hast, aber Mrs. Sanburne muß ihre Post holen. Du kannst später wieder rein.«
Tucker hob den Kopf, um das Theater zu beobachten, erfaßte die Situation und legte den Kopf wieder auf die Erde.
»Du bist ja wirklich eine riesige Hilfe«, hielt die Katze dem Hund vor.
Tucker schloß die Augen. Wenn sie Mrs. Murphy ignorierte, würde die Katze sich am Ende in ihr Schicksal fügen.
»Hat sie meine Post auch gelesen?« fragte Mim.
»Hier ist sie.« Miranda reichte Mim ihre Post. Der Diamant ihres Verlobungsrings, in einer lanzettförmigen Fassung, fing das Licht ein und warf einen winzigen Regenbogen an die Wand.
»Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen. Ach, und das habe ich mir schon immer gewünscht, einen Katalog vom Victoria's-Secret- Wäscheversand.« Sie übergab ihn stillschweigend dem Papierkorb und bemerkte, daß Harry und Miranda sie beobachteten. »Ich liebe meinen Kaschmirmorgenrock. Aber dieses sexy Zeug ist mehr was für Leute in Ihrem Alter, Harry.«
»Ich schlafe nackt.«
»Ein ehrliches Bekenntnis.« Mim lehnte sich an den Schalter. »Wie ich höre, habt ihr beide Kimball Haynes geholfen. Schätze, er hat euch von dem Pathologiebericht erzählt, oder wie man das nennt.«
»Ja«, sagte Miranda.
»Wir müssen nur noch einen zweiunddreißigjährigen Weißen finden, der möglicherweise leicht mit dem linken Bein gehinkt hat - im Jahre 1803.«
»Oder mehr über Medley Orion herausfinden.« »Es ist ein einziges Puzzlespiel.« Mim verschränkte die Arme. »Ich habe heute morgen mit Lulu gesprochen. Kimball war gestern den ganzen Tag bei ihnen, und Samson ist wütend auf sie.«
»Warum?« fragte Harry unschuldig.
»Ach, sie sagt, er war verärgert. Und sie hat zugegeben, daß sie vielleicht hätte warten sollen, bis Samson zu Hause war. Ich weiß nicht. Die zwei.« Sie schüttelte den Kopf.
Wie aufs Stichwort kam Samson mit Kunden aus Los Angeles ins Postamt gestapft. »Hallo, alle miteinander. Ein Glück, daß ich dich hier treffe, Mim. Ich möchte dich mit Jeremy und Tiffany Diamond bekannt machen. Das ist Marilyn Sanburne.«
Mim streckte die Hand aus. »Sehr erfreut.«
»Ganz meinerseits.« Jeremy's Lächeln ließ gut gearbeitete Kronen sehen. Seine Frau hatte ihr zweites Gesichtslifting hinter sich, und ihr Lächeln paßte nicht mehr so ganz zu ihren Lippen.
»Die Diamonds wollen sich Midale ansehen.«
»Ah«, gurrte Mim. »Eines der originellsten Häuser in Mittelvirginia. Das erste mit einer freitragenden Treppe, glaube ich.«
Samson machte die Diamonds mit Harry und Miranda bekannt.
»Ist das nicht malerisch?« fragte Tiffany mit affektierter Stimme. »Und sogar Tiere haben Sie hier. Wie niedlich.«
»Sie sortieren die Post.« Harry reagierte zögerlicher auf diese Leute als Mim. Sie wunderte sich nur über den Überlegenheitsdünkel der Großstadtmenschen. Wer in einer Kleinstadt lebte, dachten die wohl, mußte entweder anspruchslos oder einfältig sein - oder beides.
»Wie niedlich.«
Jeremy wischte ein paar Regentropfen von seinem grünblau eingefärbten Schweinslederblazer. »Samson hat uns von seiner Vorfahrin erzählt, Thomas Jeffersons Mutter.«
War ja klar, dachte Harry bei sich. »Samson und Mrs. Sanburne - Mrs. Sanburne ist übrigens die Vorsitzende - haben Gelder für die Restaurierungsarbeiten in Monticello gesammelt.«
»Ah, und sagen Sie, was ist mit der Leiche in den Sklavenquartieren? Jetzt weiß ich, warum Sie mir bekannt vorkommen.« Er sah Mim an. »Sie waren im Fernsehen in der Morgenshow mit Kyle Kottner. Glauben Sie wirklich, daß das Opfer ein Verfolger war?«
»Wer es auch immer war, der Mann war irgendwie gefährlich«, erwiderte sie.
»Wäre es nicht eine Ironie des Schicksals, Samson, wenn es sich um einen Ihrer Verwandten handeln würde?« fragte Tiffany und versetzte Samsons Ego damit einen Stich. Ihre unglückliche Besessenheit, jung und niedlich auszusehen, und ihre leichte Überheblichkeit hatten ihren Verstand nicht getrübt. Sie hatte genug von Samsons Stammbaumprahlerei gehört.
Harry unterdrückte ein Kichern. Mim weidete sich an Samsons Unbehagen, zumal sie ihm sein Benehmen auf Wesleys Trauerfeier noch nicht ganz verziehen hatte.
»Nun ja« - er schluckte -, »wer weiß? Statt von der Vergangenheit zu leben, muß ich womöglich mit ihr leben.«
»Ich lebe lieber in der Gegenwart«, erwiderte Tiffany, obwohl ihr Drang, ihr Gesicht im Zustand von vor zwanzig Jahren zu erhalten, auf das Gegenteil schließen ließ.
Als sie dem Postamt den Rücken gekehrt hatten, lehnte sich Mim an den Schalter. »Ein scharfes Weib.«
»Sie hat Samson durchschaut, das steht fest.«
»Harry« - Mim wandte sich Miranda zu -, »Miranda, habt ihr irgendwas rausgefunden?«
»Bloß, daß Medley Orion nach 1826 bei Martha Jefferson Randolph gelebt hat. Sie hat ihr Handwerk weiter ausgeübt. Sie hatte eine Tochter, aber ihren Namen wissen wir nicht.«
»Wie steht es mit der Suche nach dem Opfer? Daß er womöglich hinkte, müßte doch weiterführen. Irgendwo muß doch irgendwer gewußt haben, daß ein hinkender Mann Medley Orion besuchte. Und er war kein Händler.«
»Es ist verblüffend.« Miranda lehnte sich an die andere Seite des Schalters. »Aber ich bin es in Gedanken immer wieder durchgegangen, und ich glaube, es hat etwas mit uns zu tun. Mit der Gegenwart. Jemand kennt diese Geschichte.«
Mim klopfte mit ihrer Post auf den Schalter. »Und wenn wir es herausfinden, platzt eine Bombe.« Sie griff sich einen Brieföffner vom Schalter und öffnete ihre private Post. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf einen Brief, der aus einem neutralen, in Charlottesville abgestempelten Umschlag fiel. Auf das Papier waren Buchstaben aufgeklebt. »Laß die Toten die Toten begraben.« Mim wurde bleich, dann las sie es laut vor.
»Da haben wir's«, sagte Harry. »Eine Bombe.« »Ich verbitte mir so eine billige Dramatik!« Mim knallte den Brief auf den Schalter.
»Billig oder nicht, wir sollten lieber vorsichtig sein«, bemerkte Miranda leise.