Der alte Ford Transporter tuckerte den Monticello Mountain hinauf. Wegen des leichten Nieselregens fuhr Harry besonders vorsichtig; allerdings konnte diese Straße bei jedem Wetter tückisch sein. Sie fragte sich, wie die Siedler mit ihren von Pferden oder gar Ochsen gezogenen Fuhrwerken diesen Berg hinauf und hinunter gekommen waren, und das ohne Scheibenbremsen. Die Straße, die zu Thomas Jeffersons Zeiten nicht gepflastert gewesen war, mußte sich bei Regen in den reinsten Morast und im Winter in eine mörderische Eisbahn verwandelt haben.
Susan Tucker schnallte sich an.
»Fahre ich so schlecht?«
»Nein.« Susan fuhr mit dem Daumen unter dem Gurt entlang. »Ich hätte mich schon anschnallen müssen, als wir in Crozet losgefahren sind.«
»Ach übrigens, hab ganz vergessen, es dir zu erzählen. Mrs. H. hat einen Tobsuchtsanfall gekriegt, als sie in euer Postfach langte und die Gummispinne zu fassen kriegte, die Danny da reingelegt haben muß. Mrs. Murphy hat das Ding dann rausgezogen und auf die Erde geworfen.«
»Hat sie mit den Händen in der Luft rumgefuchtelt?« fragte Susan unschuldig.
»Aber wie!«
»Und einen tiefen, kehligen Schrei losgelassen.«
»Mäßig, würde ich sagen. Aber immerhin hat der Hund gebellt.«
Susan grinste übers ganze Gesicht. »Schade, daß ich nicht dabei war.«
Harry drehte den Kopf zur Seite und sah ihre beste Freundin an. »Susan.«
»Du sollst auf die Straße gucken.«
»Ja, du hast recht. Susan, hast du die Spinne in das Postfach gelegt?«
»Äh ja.«
»Also wirklich, warum machst du so was?«
»Mich hat der Teufel geritten.«
Harry lachte. Ab und zu stellte Susan aus heiterem Himmel irgend etwas Verrücktes an. So war sie, seit sie sich im Kindergarten kennengelernt hatten. Harry hoffte, daß sie sich nie ändern würde.
Der Parkplatz war nicht so voll wie sonst am Wochenende. Harry und Susan fuhren mit dem Pendelbus auf den Berg, der in Nebel gehüllt war, je höher, desto dichter. Als sie beim Herrenhaus anlangten, das die Einheimischen Big House nannten, konnten sie kaum die Hand vor Augen sehen.
»Glaubst du, Kimball ist da?« fragte Susan.
»Gehen wir nachsehen.« Harry ging auf der geraden Straße, die Mulberry Row genannt wurde, zur Südseite des Hauses. Hier hatten einst die Schmiede und achtzehn andere Gebäude für die diversen Gewerbe der Plantage gestanden: tischlern, Nägel machen, weben, möglicherweise sogar Pferdegeschirr anfertigen und instand setzen. Diese Gebäude waren nach Jeffersons Tod verschwunden, als seine mit einer Viertelmillion Dollar - das wären heute grob gerechnet zweieinhalb Millionen - verschuldeten Erben gezwungen waren, sein geliebtes Anwesen zu verkaufen.
Auch die Sklavenquartiere waren an der Mulberry Row gewesen. Wie die anderen Gebäude waren sie aus grobem Holz gewesen, es hatte sogar Kamine aus Holz gegeben, die gelegentlich Feuer fingen, so daß das ganze Haus in wenigen Minuten in Flammen stand. Eimerketten waren damals das einzige Mittel zur Brandbekämpfung gewesen.
Harry und Susan patschten über die nasse Erde durch den Nebel.
Harry blieb einen Moment stehen. »Wenn du ein Gefälle spürst, weißt du, daß wir in den Gemüsegarten abgerutscht sind.«
»Besser, wir bleiben auf dem Weg und gehen langsam. Harry, Kimball ist bestimmt nicht hier draußen in diesem Schlamm.«
Aber er war da. In grünem Barbour-Ölzeug, das in dieser Gegend unentbehrlich war, mit großen Gummistiefeln an den Füßen und einer wasserdichten Baseballkappe auf dem Kopf sah Kimball aus wie jeder beliebige männliche oder weibliche Bewohner Virginias an einem trüben Tag.
»Kimball!« rief Harry.
»Einen schönen guten Tag«, antwortete er fröhlich. »Kommen Sie näher, sonst kann ich nicht sehen, wer bei Ihnen ist.«
»Ich«, antwortete Susan.
»Ah, ein doppelter Genuß.« Er ging zu ihnen, um sie zu begrüßen.
»Wie können Sie in diesem Matsch arbeiten?« fragte Susan.
»Kann ich gar nicht, aber ich kann herumspazieren und nachdenken. Dieser Ort mußte gewissermaßen unabhängig von der Welt funktionieren. Es war eine kleine Welt für sich, deswegen versuche ich mich in jene Zeit zurückzuversetzen und mir vorzustellen, was wann und warum benötigt wurde. Das hilft mir verstehen, weshalb einige Gebäude und Gärten genau da angelegt wurden, wo sie sind. Wer zum Beispiel unter den Promenaden - so nenne ich die Terrassen - gearbeitet hat, hatte es besser, glaube ich. Hätten die Damen Lust auf einen kleinen Rundgang?«
Harry strahlte. »Gerne.«
»Kimball, wie sind Sie zur Archäologie gekommen?« fragte Susan. Die meisten Männer in Kimballs Alter, die an einer Elite-Uni Examen gemacht hatten, waren Investmentbanker, Wertpapierhändler, Börsenmakler oder Pfennigfuchser geworden.
Er grinste. »Ich habe als Kind gern im Dreck gespielt, Archäologie schien da die natürliche Fortsetzung.«
»Dann war es keine plötzliche Laune des Schicksals?« Harry wischte sich einen Regentropfen von der Nase.
»Genaugenommen, ja. Ich habe an der Brown-Universität Geschichte studiert, und mein großartiger Professor Del Kove sagte immer:Gehen Sie zurück zur physischen Realität, gehen Sie zurück zur physischen Realität. < Und dann sah ich zufällig einen gelben Anschlag am Schwarzen Brett - komisch, daß ich mich an die Farbe des Zettels erinnere, nicht? - über eine Ausgrabung in Colonial Wilhamsburg. So etwas war mir nie in den Sinn gekommen. Ich dachte immer, als Archäologe müßte man Säulen in Rom ausgraben oder so was. Ich bin für den Sommer hingegangen, und dann hat es mich nicht mehr losgelassen. Ich bin richtig süchtig geworden. Und auch die Epoche hat mich nicht mehr losgelassen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen was zeigen.«
Er führte sie in sein Büro hinter dem hübsch aufgemachten Andenkenladen. Sie schüttelten das Wasser ab, bevor sie hineingingen und ihre Mäntel an die Holzhaken an der Wand hängten.
»Eng ist es hier«, bemerkte Susan. »Ist das nur vorübergehend?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir können nicht einfach drauflosbauen, und was hier im Laufe der Jahre angebaut wurde - naja, da wurde viel Schaden angerichtet. Außerdem bin ich sowieso meistens draußen, da genügt mir das hier, und ein paar Bücher habe ich im ersten Stock vom Herrenhaus untergebracht - ich habe also etwas mehr Platz, als es scheint. Hier, sehen Sie sich das an.« Er griff in einen Haufen Hufeisen, die auf der Erde lagen, und reichte Harry ein enorm großes Eisen.
Sie nahm den verrosteten Gegenstand in die Hände und drehte ihn vorsichtig um. »Mit Stollen und Griff. Ich kann nicht erkennen, ob hinten auch Griffe waren, aber es ist möglich. Dieses Pferd hat schwer gearbeitet. Ein Zugpferd, das steht fest.«
»So, und jetzt sehen Sie sich mal das hier an.« Er gab ihr ein anderes Hufeisen.
Harry und Susan stießen einen überraschten Ausruf aus. Das Eisen war leichter, es war für ein kleineres Pferd gemacht und hatte über dem hinteren Teil einen Bügel, der die zwei Schenkel des Eisens miteinander verband.
Harry legte ihrer Freundin das Hufeisen in die Hand. »Was meinst du, Susan?«
»Dazu brauchen wir Steve O'Grady.« Susan meinte den Tierarzt in der Nachbarschaft, einen Experten für Hufprobleme. Er war ein Kollege von Fair Haristeen, der sich auf Pferdezucht spezialisiert hatte. »Aber ich würde sagen, dieses Eisen gehörte auf jeden Fall einem Pferd aus einer Liebhaberzucht, einem Reitpferd. Es ist ein Bügelhufeisen...«
»Weil das Pferd ein Problem hatte. Vielleicht mit dem Kronbein.« Harry tippte auf eine Degenerationserscheinung des Kronbeins gleich hinter dem Hufbein, dem Hauptknochen des Hufes, der oft ein Spezialeisen erforderte, um die Beschwerden zu lindern.
»Kann sein, aber der Hufschmied wollte dem Tier offensichtlich hinten mehr Trittfläche geben. Er hat den Auftrittspunkt hinter den normalen Absatzbereich verlegt.« Kimball legte seine Hand auf den Schreibtisch; mit den Fingern stellte er den vorderen und mit dem Handteller den hinteren Teil des Hufes dar und demonstrierte so, wie das Spezialeisen den Auftrittspunkt verlagern konnte.
Harry bewunderte die Detektivarbeit, die er an dem Hufeisen geleistet hatte. »Ich wußte gar nicht, daß Sie reiten.«
Kimball lächelte. »Tu ich gar nicht. Pferde sind mir zu groß.«
»Aber woher wissen Sie das dann? Nicht mal die meisten Reiter kümmern sich groß um Hufeisen und Beschlagen. Sie lernen nichts darüber.« Susan, eine passionierte Reiterin, die es wichtig fand, daß man sich in allen Aspekten der Pferdepflege auskannte und nicht einfach nur auf den Rücken des Pferdes sprang, war ungeheuer neugierig.
Er streckte die Hände aus. »Ich habe einen Fachmann gefragt.«
»Wen?«
»Dr. O'Grady.« Kimball lachte. »Aber ich mußte trotzdem noch herumtelefonieren und in Bibliotheken nachforschen, ob sich bei Hufeisen im Laufe der Jahrhunderte sehr viel geändert hat. Sehen Sie, das liebe ich so an dieser Arbeit. Nein, Arbeit ist nicht das richtige Wort, es ist ein magischer Weg, gleichzeitig in der Vergangenheit und der Gegenwart zu leben. Ich meine, die Vergangenheit durchdringt stets die Gegenwart, sie ist immer bei uns, im Guten wie im Schlechten. An dem zu arbeiten, was man liebt - das ist die höchste Freude.«
»Es ist wundervoll«, stimmte Harry ihm zu. »Ich möchte nicht behaupten, daß das, was ich mache, so erhaben ist wie Ihr Beruf, aber ich mag meine Arbeit auch, ich mag die Menschen, und vor allem mag ich Crozet.«
»Wir haben Glück gehabt.« Susan wußte nur zu gut, welchen Tribut Unzufriedenheit fordern kann. Sie hatte gesehen, wie ihr Vater sich zur Arbeit schleppte, die er haßte. Sie hatte ihn verkümmern sehen. Er hatte so große Mühe damit gehabt, seine Familie zu ernähren, daß er es versäumt hatte, bei seiner Familie zu sein. Susan hätte lieber weniger Sachen und dafür mehr von ihrem Dad gehabt. »Hausfrau und Mutter zu sein mag ja nicht nach viel aussehen, aber es war genau das, was ich wollte. Ich würde nicht eine Minute der ersten Jahre missen wollen, als die Kinder klein waren. Nicht eine Sekunde.«
»Dann sind sie es, die Glück gehabt haben«, sagte Harry.
Kimball, der ihr stumm beipflichtete, zog eine Schublade auf und nahm eine Porzellanscherbe mit einem blaßblauen Muster auf grauem Hintergrund heraus. »Das habe ich vorige Woche in Hütte Nummer vier gefunden.« Er drehte die Scherbe um, auf der Rückseite war eine Ziffer zu erkennen. »Ich bewahre sie hier auf, um damit herumzuspielen und mir dabei meine Gedanken zu machen. Wie kam dieses Stück feines Porzellan in eine Sklavenhütte? War es schon vorher zerbrochen? Hat die Bewohnerin der kleinen Hütte es selbst zerbrochen - wir wissen, wer in Hütte Nummer vier gewohnt hat - und aus dem Herrenhaus mitgenommen, um das Mißgeschick zu vertuschen? Oder sind die Dienstboten, wenn Sie mir den Euphemismus verzeihen, direkt zum Herrn gegangen, haben den Schaden gebeichtet und sind mit den Bruchstücken belohnt worden? Oder aber hat die Sklavin es einfach nur genommen, um etwas Schönes zu haben, das sie sich ansehen konnte, um etwas zu besitzen, das einem reichen Weißen gehörte, um sich für einen Moment als Angehörige der herrschenden statt der beherrschten Klasse zu fühlen? Fragen über Fragen.«
Susan hob die Hand. »Ich habe eine, die Sie beantworten können.«
»Schießen Sie los.«
»Wo ist hier die Toilette?«