Albemarle County verschwendete wenig Geld für die Diensträume des Sheriffs. Vermutlich hielt man es für geboten, das Geld der Steuerzahler anders zu verplempern. Rick Shaw empfand es schon als Segen, daß er und seine Mitarbeiter kugelsichere Westen und in regelmäßigen Abständen neue Autos bekamen. Die einst im Volksschulgrün der fünfziger Jahre gestrichenen Wände hatten es inzwischen immerhin zu Landhausweiß gebracht. Soviel zum Fortschritt. Der Frühling war spät dran. Rick war froh darüber, denn im Frühjahr häuften sich Trunkenheit, häusliche Gewalt und allgemeine Verrücktheit. Für Cynthia Cooper eine Manifestation von Frühlingsgefühlen. Für Rick Shaw der Beweis, daß das Tier Mensch von Natur aus schlecht war.
Oliver Zeve kniff die Lippen zusammen. Ein Ton, der Macht und Klassenüberlegenheit ausdrückte, schlich sich in seine Stimme. »Sagen Sie, Sheriff, muß das wirklich sein?«
Rick, seit langem daran gewöhnt, daß gesellschaftlich Höherstehende ihn einzuschüchtern versuchten, sagte höflich, aber bestimmt: »Ja.«
Deputy Cooper marschierte während dieser Unterhaltung auf und ab. Gelegentlich fing sie einen Blick von Rick auf. Sie wußte, daß ihr Chef den Direktor von Monticello am liebsten an seinem maßgeschneiderten Hosenboden gepackt und zur Haustür hinausbefördert hätte. Ricks Gesichtsausdruck veränderte sich, als er mit Kimball Haynes sprach: »Mr. Haynes, haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, daß die Leiche vor dem Brand vergraben wurde. Es war keinerlei Asche oder ausgeglühte Holzkohle unterhalb der Stelle, wo wir ihn - äh, die Leiche - gefünden haben.«
»Könnte es nicht sein, daß das Feuer gelegt wurde, um die Tat zu vertuschen?« Rick kritzelte auf seinem Block herum.
»Sheriff, damit hätte sich der Mörder in Gefahr gebracht, falls er in Hütte Nummer vier gelebt oder auf dem Gut gearbeitet hat. Sehen Sie, solche Brände kamen leider sehr häufig vor. Sobald das Feuer erloschen war und die Leute die Ruinen betreten konnten, haben sie die kalte Asche weggeschaufelt und den Boden bis zu den harten Erdschichten abgetragen.«
»Warum?« Der Sheriff hörte auf zu kritzeln und schrieb jetzt mit.
»Aus Gefälligkeit. Bei jedem Regen hätten die Bewohner der Hütte den Rauch und die Asche gerochen. Und wollte man die Gelegenheit nutzen, um die Hütte nach dem Brand zu vergrößern und Verbesserungen vorzunehmen, brauchte man einen soliden, glatten Untergrund...«
»Stimmt.«
»Die Hütte anzuzünden hätte einzig dem Zweck gedient, es so aussehen zu lassen, als handelte es sich bei der Leiche um ein Brandopfer. Aber bei dem offensichtlich hohen Status des Opfers wäre das doch merkwürdig gewesen, oder? Was tat ein wohlhabender Weißer in einer brennenden Sklavenhütte? Es sei denn, er hat dort geschlafen und ist an Rauchvergiftung gestorben, und Sie wissen, was das bedeuten würde«, erklärte Kimball.
Oliver brauste auf: »Kimball, ich protestiere schärfstens gegen diese spekulative Beweisführung. Das sind alles nur Mutmaßungen. Reine Phantasie. Es würde sicher eine gute Story abgeben, aber es hat wenig mit den vorliegenden Fakten zu tun. Daß nämlich unter der Feuerstelle ein vermutlich zweihundert Jahre altes Skelett gefunden wurde. Solche Theorien führen zu nichts. Wir brauchen Tatsachen.«
Rick nickte ernst, dann sagte er spitz: »Und deswegen müssen die Überreste nach Washington ins Labor.«
Oliver fühlte sich in die Enge getrieben und versuchte, sich zu wehren: »Als Direktor von Monticello verwahre ich mich gegen die Entfernung irgendwelcher Objekte, ob lebend oder tot, menschlichen oder anderen Ursprungs, die auf Jeffersons Grund und Boden gefunden wurden.«
Der aufgebrachte Kimball konnte seinen bissigen Humor nicht zügeln. »Oliver, was wollen wir mit einem Skelett anfangen?«
»Es anständig beerdigen«, erwiderte Oliver mit zusammengebissenen Zähnen.
»Mr. Zeve, ich habe Ihren Widerspruch zur Kenntnis genommen, aber die Überreste gehen nach Washington, und dort wird man uns hoffentlich Genaueres über Zeit, Geschlecht und Rasse sagen können«, erklärte der Sheriff gelassen.
Oliver verschränkte die Arme. »Wir wissen doch, daß es ein Mann ist.«
»Und wenn es eine Frau in Männerkleidern ist? Wenn eine Sklavin das kostbare Wams gestohlen.«
»Weste«, verbesserte Oliver.
»Was, wenn es so war? Wenn sie sich daraus ein Kleid oder sonst etwas machen wollte? Aber ich spekuliere nicht gern, und ich kann nichts als gegeben voraussetzen, solange ich keinen Laborbericht habe. Okay, ich denke auch, daß es das Skelett eines Mannes ist. Das Becken eines männlichen Skeletts ist schmaler als das eines weiblichen. Ich habe genügend Skelette gesehen, um das zu wissen. Aber was den Rest angeht, da tappe ich im dunkeln.«
»Darf ich Sie dann auch bitten, nicht über die Möglichkeit zu spekulieren, daß das Opfer an Rauchvergiftung gestorben ist? Lassen Sie uns auch hier das Ergebnis abwarten.«
»Oliver, das war, äh, die Ausgeburt meiner Phantasie«, lenkte Kimball ein, da Oliver offenbar unbedingt austeilen wollte. »Rassenmischung ist ein altes Wort, ein unschönes Wort, aber Wort und Gesetz entsprachen der damaligen Zeit. Ich kann Ihre Zimperlichkeit verstehen.«
»Zimperlichkeit?«
»Okay, das ist das falsche Wort. Es ist eine heikle Angelegenheit. Aber ich komme noch einmal auf meine erste Variante der Geschehnisse zurück, wozu ich als Archäologe eine gewisse Berechtigung habe. Wäre die abgebrannte Hütte für den Bau eines neuen Gebäudes präpariert worden, dann hätte für den Mörder das durchaus realistische Risiko bestanden, daß ein Spatenstich den Leichnam freigelegt hätte. Aber das ist nur eine Tatsache, die gegen die Vertuschungsthese spricht. Das andere, viel überzeugendere Faktum ist, daß die Schicht verkohlte Erde - wie gesagt, sie wurde abgetragen, so gut es ging - circa einen halben Meter über der Leiche lag, den geringen Unterschied zwischen dem eigentlichen Fußboden der Hütte und dem Boden der Feuerstelle mitgerechnet.«
»Gibt es Aufzeichnungen über den Brand in dieser Hütte?« Rick lauschte auf das leise Gleiten der weichen Bleimine auf dem weißen Papier. Er empfand das als tröstliches Geräusch.
»Wenn der Mord 1803 geschah, wie es den Anschein hat, dann befand sich Jefferson in seiner ersten Amtszeit als Präsident. Wir haben keinen Bericht von ihm über ein solches Vorkommnis, dabei hat er gewissenhaft Buch geführt. Er hat sogar Bohnen und Nägel abgezählt - ausgesprochen zwanghaft. Wenn er also zu der Zeit zu Hause gewesen oder aus Washington zu Besuch nach Hause gekommen wäre, hätte er es wohl ganz sicher vermerkt. Leider hatte der Aufseher nichts von Mr. Jeffersons Gewissenhaftigkeit«, erwiderte Kimball.
Rick hörte auf zu schreiben. »Oder aber der Aufseher war in die Sache verwickelt und wollte keine Aufmerksamkeit auf die Hütte lenken.«
»Nach so vielen Jahren in diesem Job müssen Sie wohl so denken, Sheriff«, sagte Oliver gereizt.
»Mr. Zeve, mir ist klar, daß wir im Augenblick entgegengesetzte Standpunkte vertreten. Ich will es so simpel wie möglich ausdrücken: Ein Mann wurde ermordet, der Mord wurde vertuscht, die Leiche blieb fast zweihundert Jahre im Keller, wenn Sie den Scherz entschuldigen. Ich bin im Gegensatz zu Ihnen kein Experte für die vergangene Jahrhundertwende, aber ich möchte die Vermutung wagen, daß unsere Vorfahren zivilisierter und weniger gewalttätig waren als wir heute. Und für Leute, die in Monticello gearbeitet haben oder zu Besuch dort waren, wird dies ganz besonders zutreffen. Wer immer unser Opfer ermordet hat, muß daher ein starkes Motiv gehabt haben.«