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Lachend betrachtete Mary Minor Haristeen die Nickelmünze in ihrer Hand. Über dem Abbild von Monticello war das Motto unserer Nati­on eingeprägt: E Pluribus Unum. Sie reichte das Geldstück an ihre ältere Freundin, Mrs. Miranda Hogendobber, weiter. »Na, was sagen Sie?«

»Dieser Nickel ist keinen roten Heller wert.« Mrs. Hogendobber schürzte die melonenrot geschminkten Lippen. »Auf dem Nickel sieht Monticello so groß und unpersönlich aus, dabei ist das doch nur die Kehrseite der Medaille, wenn Sie mir diesen Scherz gestatten.«

Die zwei Frauen, die eine Mitte Dreißig, die andere in einem Alter, das sie auf keinen Fall preisgeben wollte, blickten von dem Geld­stück hoch und zu dem westlichen Säulengang von Monticello. Die Fenster schimmerten vom Kerzenlicht des Salons, während die letz­ten Strahlen der Frühlingssonne hinter den Blue Ridge Mountains versanken.

Wären die Freundinnen zum Vordereingang in der Mitte des östli­chen Säulengangs von Jeffersons Haus und von dort zum Rand des Rasens geschlendert, dann hätten sie ein grünes Meer vor Augen gehabt, die weite ebene Landschaft, die sich bis nach Richmond und schließlich bis hin zum Atlantischen Ozean erstreckt.

Wie die meisten, die in Albemarle County in Mittelvirginia gebo­ren waren, konnten Harry Haristeen, wie sie genannt wurde, und Miranda Hogendobber mit einer fesselnden Führung durch Monticel­lo aufwarten. Miranda gab zu, daß sie schon vor dem Zweiten Welt­krieg mit dem Anwesen vertraut gewesen war, aber mehr verriet sie nicht. Im Laufe der Jahrzehnte waren die Renovierungsarbeiten am Haus, an den Nebengebäuden und an den Gemüse- und Ziergärten so weit gediehen, daß Monticello nun der Stolz der gesamten Vereinig­ten Staaten war. Über eine Million auswärtige Besucher fuhren jedes Jahr die tückische Gebirgsstraße hinauf, um ihre acht Dollar zu ent­richten, in einem kleinen Pendelbus auf einer Serpentinenstraße zur Bergspitze hinaufzukurven und von dort zu dem roten Ziegelgebäude - jeder Stein war handgefertigt, jedes Scharnier handgeschmiedet, jede Glasscheibe sorgfältig von einem schwitzenden, keuchenden Glasbläser geblasen. Das ganze Haus kündete von individuellen Fer­tigkeiten, Einfallsreichtum, Schlichtheit.

Die Tulpen trotzten dem frischen Westwind, und Harry und Mrs. Hogendobber gingen schaudernd um die Südseite des Geländes her­um, vorbei an der erhöhten Terrasse. Ein ehrwürdiger Silberahorn stand tief verwurzelt an der Stelle, wo sie abbogen. An der Vorder­seite des Hauses angekommen, blieben sie vor der großen Tür ste­hen.

»Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe.« Harry holte tief Luft.

»Oh, auch dem Teufel muß man sein Recht lassen. Oder sollte ich sagen, der Teufelin?« feixte Mrs. Hogendobber. »Sie hat sich sechs Jahrzehnte lang auf diese Sache vorbereitet. Sie wird sagen, vier, aber ich kenne Mim Sanburne seit Anbeginn der Zeiten.«

»Ist das nicht angeblich der Vorteil, wenn man in einer Kleinstadt lebt? Daß jeder jeden kennt?« Harry rieb sich die hochgezogenen Schultern. Die Temperatur war drastisch gesunken.

»Na schön, auf in den Kampf: Mim, die Jefferson-Expertin.«

Sie öffneten die Tür und traten in dem Moment ein, als der kleine Zeiger der großen Uhr über dem Eingang auf sieben rückte. Die Ta­gesanzeige, die von der Tür aus gesehen links durch ein Gewicht angezeigt wurde, lautete auf Mittwoch. Die große Uhr war eine der vielen sinnreichen Erfindungen, die Jefferson gemacht hatte, als er sein Haus entwarf. Doch auch große Geister können sich irren. Jef­ferson hatte die Zugkraft des Gewichtes falsch bemessen, und in der Eingangshalle war nicht genug Platz, um alle Wochentage anzuzei­gen. Jeden Freitag rutschte das Tagesgewicht durch ein Loch im Fußboden in den Keller, wo es den Freitagnachmittag und den Sams­tag markierte. Am Sonntagmorgen, wenn die Uhr aufgezogen wurde, erschien das Gewicht dann wieder in der Halle.

Harry und Mrs. Hogendobber waren gekommen, um einer kleinen Versammlung der>Besten< von Albemarle beizuwohnen, womit die­jenigen gemeint waren, deren Vorfahren schon vor der Revolution in Virginia heimisch gewesen waren, ferner jene Größen, die kürzlich aus Hollywood, von Harry>Hollydumm< getauft, eingetroffen waren, und natürlich die Reichen. Harry fiel in die erste Kategorie, Mrs. Hogendobber ebenso. Als Postvorsteherin - Harry zog die Bezeich­nung Posthalterin vor - der Kleinstadt Crozet würde Harry wohl niemals irrtümlich für reich gehalten werden.

Marilyn Sanburne, bekannt als Mim oder Big Marilyn, rang nervös ihre perfekt manikürten Hände. Als Ehefrau des Bürgermeisters und eine der wohlhabenderen Einwohnerinnen von Albemarle hätte sie kühl und gefaßt sein sollen. Doch sie zitterte leicht, als sie den Blick über die erlauchten Anwesenden schweifen ließ, unter ihnen der Direktor von Monticello, der überschwengliche, lebenslustige Oliver Zeve. Kimball Haynes, der Chefarchäologe, mit dreißig Jahren recht jung für so einen Posten, stand im Hintergrund.

»Meine Damen und Herren« - Mim räusperte sich, während ihre Tochter Little Marilyn, zweiunddreißig, ihre Mutter mit gut gespiel­ter Verzückung ansah -, »ich danke Ihnen allen, daß Sie sich trotz Ihrer vollen Terminkalender die Zeit genommen haben, heute abend an dieser für unser geliebtes Monticello so wichtigen Veranstaltung teilzunehmen.«

»So weit, so gut«, flüsterte Mrs. Hogendobber Harry zu.

»Dank der Unterstützung jedes einzelnen von Ihnen haben wir fünfhunderttausend Dollar für die Ausgrabung und anschließende Wiederherstellung der Dienstbotenquartiere von Mulberry Row ge­sammelt.«

Während Mim die Bedeutung des neuen Projekts hervorhob, sann Harry über die fortgesetzte Heuchelei in ihrem Teil der Welt nach. Dienstboten. Ach ja, Dienstboten, nicht Sklaven. Kein Zweifel, eini­ge waren gut behandelt, sogar geliebt worden, aber das Wort überzog eine häßliche Realität mit einem hübschen Glanz - Jeffersons Achil­lesferse. Er war in den meisten Dingen so ungeheuer fortschrittlich gewesen, da war es vielleicht kleinlich, zu wünschen, er wäre, auch was die Herkunft seiner Arbeitskräfte betraf, fortschrittlicher gewe­sen. Dann wiederum fragte sich Harry, was wäre geschehen, hätte sie sich in derselben Situation befunden? Hätte sie auf tüchtige Arbeits­kräfte verzichten können? Sie hätte sie unterbringen, kleiden, ernäh­ren und für ihre ärztliche Betreuung sorgen müssen. Das alles war nicht billig, und beim heutigen Wert des Dollars würde es sich viel­leicht auf mehr als das Existenzminimum belaufen. Trotzdem, das moralische Dilemma, in dem man als Weißer steckte, und Harry war weiß, machte ihr zu schaffen.

Trotz alledem war Mim die treibende Kraft hinter diesem Projekt gewesen, und daß es damit nun vorwärtsging, war ein großer persön­licher Sieg für sie. Sie hatte auch das meiste Geld beigesteuert. Ihr angebeteter einziger Sohn hatte Crozet Hals über Kopf verlassen, um ein kultiviertes Model zu heiraten, eine umwerfende New Yorkerin, die zufällig die Farbe von Milchkaffee hatte. Vier Jahre hatte Mim ihrem Sohn den Zutritt zum Haus seiner Vorfahren verwehrt, aber vor zwei Jahren hatte Big Marilyn, dank einer Familienkrise und der besänftigenden Worte von Menschen wie Miranda Hogendobber, eingewilligt, Stafford und Brenda nach Hause einzuladen. Es ist niemals leicht, mit den eigenen Vorurteilen konfrontiert zu werden, zumal wenn man so hochmütig ist wie Mim, aber sie gab sich Mühe, und die Anstrengungen, die sie für die Ausgrabung dieses Abschnitts von Monticellos Geschichte übernahm, waren durchaus lobenswert.

Harrys Blick schweifte durch den Raum. Mehrere Nachkommen Jeffersons waren anwesend. Seine Töchter Martha und Maria hatten Thomas Jefferson fünfzehn Enkelkinder beschert. Die Überlebenden jener Generation wiederum schenkten ihm achtundvierzig Urenkel. Cary, Coles, Randolph, Eppes, Wayles, Bankhead, Coolidge, Trist, Meikleham, Carr und wie sie alle hießen, trugen Jefferson-Blut in unterschiedlicher Verdünnung ins 20. und bald auch ins 21. Jahrhun­dert.

Seine Abstammung auf den rothaarigen Ureinwohner von Monti­cello zurückführen zu wollen, das war so ähnlich, als wollte man die Geschichte aller Vollblutpferde zurückverfolgen bis zu den großen Zuchthengsten. Eclipse 1764, Herod 1758 und Matchem 1748.

Die Leute taten es trotzdem. Mim Sanburne glaubte felsenfest, daß sie mütterlicherseits über die Linie Wayles-Coolidge mit dem großen Mann verwandt war. Angesichts ihres Reichtums und ihres gebieteri­schen Wesens machte niemand Mim diesen dürftigen Anspruch in Virginias großem Spiel der Ahnenverehrung streitig.

Harrys Vorfahren waren 1640 an der Küste Virginias gelandet, aber eine Verbindung mit Jeffersons Stammbaum hatte nie jemand für sich in Anspruch genommen. Tatsächlich schien sowohl die Familie ihrer Mutter, die Hepworths, als auch die ihres Vaters sich damit begnügt zu haben, hier und heute harte Arbeit zu tun, statt sich einer glorreichen Vergangenheit zu rühmen.

Harrys Verwandte hatten in allen Auseinandersetzungen, von de­nen mit den Franzosen bis hin zum Golfkrieg, gekämpft und waren der Meinung, dieser Beitrag spräche für sich. Wenn sie sich über­haupt etwas zuschulden kommen ließen, dann war es ein umgekehrter Snobismus, weswegen Harry täglich den Drang bekämpfen muß­te, über Mim und ihresgleichen die Nase zu rümpfen.

Sobald Mim ihre Nervosität überwunden hatte, fand sie es so be­rauschend, im Rampenlicht zu stehen, daß sie nur ungern wieder abtrat. Schließlich begann Oliver Zeve zu applaudieren, aber Mim sprach weiter, bis der Lärm sie schließlich doch übertönte. Sie lä­chelte verkniffen, nickte zum Dank - nicht ein einziges Haar war verrutscht - und setzte sich.

Die Hauptopfer von Mims Geldsammelaktion, Wesley Randolph mit seinem Sohn Warren, Samson Coles und Center Berryman, ap­plaudierten heftig. Wesley, durch Thomas Jeffersons geliebte ältere Tochter Martha ein direkter Nachkomme von Jefferson, hatte über die Jahrzehnte regelmäßig großzügig gespendet. Samson Coles, über seine Mutter, Jane Randolph, mit Jefferson verwandt, spendete mit Unterbrechungen, je nachdem, ob seine Immobiliengeschäfte florier­ten oder nicht.

Wesley Randolph, der seit einem Jahr mit Leukämie zu kämpfen hatte, verspürte ein starkes Bedürfnis nach Kontinuität, nach Fortbe­stand der Familienbande. Als Züchter von Vollblutpferden war dies für ihn vermutlich ein natürlicher Wunsch. Obwohl der Krebs im Augenblick vorübergehend zum Stillstand gekommen war, wußte der alte Herr, daß seine Uhr bald abgelaufen sein würde. Er wollte die Vergangenheit seines Volkes, Jeffersons Vergangenheit, bewahrt wissen. Vielleicht war dies Wesleys bescheidener Griff nach Un­sterblichkeit.

Nach der Feier gingen Harry und Mrs. Hogendobber noch mit zu Oliver Zeve nach Hause, wo Harrys Tigerkatze Mrs. Murphy und ihr Welsh Corgi Tee Tucker auf sie warteten. Oliver besaß einen wu­scheligen weißen Perserkater, Erzherzog Ferdinand, der ihn eine Zeitlang nach Monticello zur Arbeit begleitet hatte. Aber Kinder, die das Heiligtum besichtigten, hatten Erzherzog Ferdinand zuweilen dermaßen gepiesackt, daß er sie angefaucht und gekratzt hatte. Ob­wohl der Erzherzog als Katze im Recht war, hielt Oliver es für bes­ser, ihn zu Hause zu lassen. Das war sehr bedauerlich, denn eine Katze sieht ein Nationalheiligtum mit schärferen Augen als ein Mensch.

Erzherzog Ferdinand glaubte zudem an erblichen Adel, was in krassem Gegensatz zu Jeffersons Ansichten stand.

In diesem Augenblick beobachtete der Erzherzog von einem Aus­sichtspunkt auf dem hohen Feigenbaum in Olivers Wohnzimmer Mrs. Murphy.

Kimball, der mitgekommen war, rief aus: »Weibchen verfolgt Männchen. Also, das gefällt mir.«

Mrs. Murphy wandte sich ab.»Aber ich muß doch sehr bitten, Erz­herzog Ferdinand ist nicht mein Typ.«

Der Erzherzog murrte»Ach, aber Paddy ist dein Typ? Der ist so nutzlos wie Zitzen an 'nem Eber.«

Mrs. Murphy, mit den Fehlern ihres Exgatten wohlvertraut, vertei­digte ihn trotzdem:»Wir waren damals sehr jung. Er ist ein anderer geworden.«

»Ha!« stieß der Erzherzog hervor.

»Jetzt ist es genug, Mrs. Murphy. Du übertreibst es mit deiner Be­grüßung.« Harry bückte sich und hob die widerstrebende Tigerkatze auf, die sich am Unbehagen des Erzherzogs weidete.

Oliver klopfte Harry auf den Rücken. »Hat mich gefreut, daß Sie an der Feier teilnehmen konnten.«

»Mich aber nicht. Wir haben überhaupt nichts gesehen«, knurrte Harrys kleiner Hund.

Mrs. Hogendobber hängte sich ihre voluminöse Handtasche über den linken Unterarm und war schon aus der Tür.

»Mims Scheck wird wohl eine Menge Gutes bewirken.«

Kimball lächelte, als Harry in Mrs. Hogendobbers Ford Falcon stieg, der erstklassig in Schuß war.

Kimball würde noch Gelegenheit haben, diese Bemerkung zu be­reuen.

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