18

Das Mundwerk des Menschen ist eine wunderbare Schöpfung, wenn man davon absieht, daß es selten stillstehen kann. Der rechts und links verankerte Kiefer klappt rhythmisch auf und zu und ermöglicht der Zunge, sich in einer überwältigenden Vielfalt von Sprachen zu bewegen. Klatsch ist der Antrieb für das alles. Wer was mit wem gemacht hat. Wer was zu wem gesagt hat. Wer nichts gesagt hat. Wer wieviel Geld hat, wer es ausgibt und wer nicht. Wer mit wem schläft. Diese Themen sind die Basis zwischenmenschlicher Kom­munikation. Gelegentlich redet der Mensch über Arbeit, über Ge­winn und Verlust und darüber, was es zum Abendessen gibt. Manchmal wird die eine oder andere Frage zur Kunst angesprochen, wenngleich Sport ein beliebteres Thema ist. In seltenen Momenten ergeben sich Meditationen über geistige Themen, über Philosophie und den Sinn des Lebens. Aber das Rückgrat, der Pulsschlag, die Antriebskraft jeglichen Austausches, das war und ist der Klatsch und wird es immer bleiben.

Heute schwoll der Klatsch mächtig an.

Mrs. Hogendobber holte sich ihre Zeitung, kaum daß der Zeitungs­junge sie in die dafür vorgesehene Plastikröhre gesteckt hatte. Das war morgens um sechs. Sie wußte, daß Harrys verblaßter roter Brief­kasten 800 Meter von ihrem Haus entfernt an einen Zaunpfosten genagelt war. Meistens nahm Harry die Zeitung auf dem Weg zur Arbeit heraus, also würde sie sie jetzt noch nicht gelesen haben.

Mrs. H. griff nach dem schwarzen Telefon, das ihr seit 1954 gute Dienste leistete. Als besonders hellhöriger Mensch konnte man vom Klick, Klick, Klick der sich zurückdrehenden Wählscheibe die Num­mern ableiten.

»Harry, Wesley Randolph ist heute nacht gestorben.«

»Was? Ich dachte, Wesley ginge es viel besser.«

»Es war ein Herzanfall.« Sie klang gelassen. Sie hatte mittlerweile so viele Menschen aus diesem Leben scheiden sehen, daß sie es mit Fassung tragen konnte. Wesley hatte seit Jahren gegen seine Leukä­mie angekämpft. Er hatte keinen langsamen, qualvollen Tod sterben wollen. Wenigstens der war ihm erspart geblieben. »Jemand auf dem Gestüt muß unmittelbar nachdem es passiert ist, die Presse informiert haben.«

»Ich hab Warren erst Sonntag nachmittag gesehen. Danke, daß Sie mir Bescheid gesagt haben. Ich muß nach der Arbeit meinen Bei­leidsbesuch abstatten. Bis später.«

Nun fällt es zwar nicht unter die Kategorie Klatsch, wenn man ei­ner Freundin vom Tod eines Freundes erzählt, doch während der Arbeit an diesem Tag watete Harry förmlich im Klatsch.

Die erste, die Harry und Mrs. Hogendobber über die wahre Ge­schichte aufklärte, war Lucinda Coles. Es traf sich gut, daß Mim Sanburne gerade ihre Post abholte, so daß sie sich gegenseitig ergän­zen konnten.

».überall.« Lucinda holte mitten in ihrer Geschichte über Ansley Randolph tief Luft. »Warren blieb in seiner Verzweiflung schließlich nichts anderes übrig, als die Ladenbesitzer anzurufen und zu fragen, ob Ansley auf ihrer Runde zufällig vorbeigekommen war. Er konnte sie nirgends finden. Er hat mich angerufen, und ich sagte ihm, ich wüßte nicht, wo sie ist. Ich hatte natürlich keine Ahnung, daß der Vater von dem Ärmsten in der Bibliothek tot umgefallen war.«

Mim legte eine Trumpfkarte auf den Tisch. »Ja, mich hat er auch angerufen, und wie du, Lulu, hatte ich keine Ahnung, aber ich hatte Ansley gegen fünf Uhr nachmittags bei>Aus aller Herren Länder< getroffen. Sie kaufte gerade eine Flasche teuren Rotwein, einen 1970er Médoc Chateau le Trelion. Sie wirkte erschrocken, als sie mich sah, fast so, als hätte ich sie bei etwas ertappt. ihr wißt schon.«

»Ah-ha!« Lucinda nickte, so wie alle Frauen nicken, die grundsätz­lich bekräftigen, was eine andere Frau sagt. Natürlich mußte die ent­sprechende Bemerkung der anderen mit Gefühlen zu tun haben, die sich bekanntlich nie genau messen oder charakterisieren lassen - das macht Gefühle ja so interessant. Beide Frauen beugten sich der Ty­rannei der erwarteten Gefühle.

»Sie betrügt Warren.«

»Ah-ha!« Lucindas Stimme nahm an Volumen zu, da sie, ein Opfer der Untreue, von deren Nachwirkungen ein Lied singen konnte. »Da kommt nichts Gutes heraus. Da kommt nie etwas Gutes heraus.«

Als die zwei gegangen waren, kam Boom Boom Craycroft herein­gestürmt, um ihre Post zu holen. Nach einer eingehenden Diskussion über ihren leichten Schienbeinbruch sagte sie, daß doch jeder mal vom Pfad der Tugend abkomme, da sei doch nichts dabei.

Die Männer packten das Thema anders an. Mark führte Mr. Ran­dolphs Ableben auf seine finanzielle Lage und seine Leukämie zu­rück. Harry mochte kaum glauben, daß ein Mensch einen Herzanfall erlitt, weil sich sein Vermögen aufgrund eigener Machenschaften von 250 Millionen auf 100 Millionen Dollar verringert hatte. Aber alles war möglich. Vielleicht kam er sich ja arm vor.

Fair Haristeen beugte sich über den Schalter. Er war der Meinung, daß das lebenslange Bemühen, alles und jeden zu beherrschen, Wes­leys Gesundheit ruiniert habe. Was natürlich traurig sei, denn Ran­dolph sei ein sympathischer Mensch gewesen. In erster Linie aber war Fair daran gelegen, Harry den Film aussuchen zu lassen, den sie sich Freitag abend ansehen wollten.

Ned Tucker, Susans Mann, vertrat die Ansicht, daß wir sterben, wann wir wollen; Papa Randolph sei zum Abtreten bereit gewesen, und niemand sollte sich deswegen zu sehr grämen.

Am Ende des Arbeitstages war die Palette von Mutmaßungen kom­plett. Der letzte Kommentar zu Wesley Randolphs Dahinscheiden, von Rob Collier abgegeben, als er die Nachmittagspost abholte, lau­tete, der alte Herr habe es mit der Frau seines Sohnes getrieben. Das neue Medikament, das Larry Johnson ihm gegen seine Krankheit verschrieben hatte, habe seine Potenz zu neuem Leben erweckt. War­ren habe die beiden beim Stelldichein erwischt, und sein Vater sei an dem durch den Schock ausgelösten Herzanfall gestorben.

Als Harry und Mrs. Hogendobber abschlossen, ließen sie den Klatsch des Tages Revue passieren. Mrs. Hogendobber warf den Schlüssel in ihre Tasche, atmete tief ein und sagte zu Harry: »Was mögen die wohl über uns sagen?«

Harry feixte. »Klatsch verleiht dem Tod einen neuen Schrecken.«

Загрузка...