Die zierlichen, von Monticello kopierten dreiteiligen Schiebefenster gingen auf einen Garten hinaus, der im Stil des englischen Landschaftsarchitekten Inigo Jones angelegt war. Die mit dunkelrotem Mahagoni getäfelte Bibliothek schimmerte wie von einem inneren Licht. Kimball saß an dem schwarzen, mit polierter Goldbronze verzierten Louis-quatorze-Schreibtisch, den Samson Coles' Urururgroßmutter mütterlicherseits angeblich im Jahre 1700, als sie in OstVirginia lebte, aus Frankreich hatte herüberschaffen lassen.
Die Tagebücher in eleganten, aber überaus individuellen Handschriften verfaßt, strapazierten die Augen des Archäologen. Wenn er sich ein paar Schritte von den Dokumenten entfernte, sahen die Schriften beinahe arabisch aus - eine Sprache, die in ihrer geschriebenen Form von unübertroffener Schönheit ist.
Lucinda, die perfekte Gastgeberin, stellte eine Kanne heißen Tee, echten Brown Betty, auf ein Silbertablett, dazu Scones und sündhafte Marmeladen und Gelees. Sie zog sich einen Stuhl neben Kimball und las ebenfalls.
»Die Coles haben eine faszinierende Familiengeschichte. Und die Randolphs, die Familie von Jeffersons Mutter, natürlich auch. Man kann sich kaum vorstellen, wie wenig Menschen es noch Anfang des 18. Jahrhunderts gab und daß die Familien sich alle untereinander kannten. Sie haben auch untereinander geheiratet.«
»Wußten Sie, daß die Menschen im Amerika der Revolution weitaus gebildeter waren als heute? Eine betrübliche Entwicklung. Die frühen Siedler, ich meine, die im frühen 17. Jahrhundert, waren in der Regel sehr gebildet. Diese Allgemeinbildung, ja Hochkultur, wenn Sie so wollen, zumindest was Literatur und Lebensart betraf« - er fuhr mit der Hand über den Schreibtisch, um seinen Standpunkt zu bekräftigen -, »muß den Menschen eine bemerkenswerte Stabilität gegeben haben.«
»Man konnte nach Federkiel und Tintenfaß greifen, einen Brief an eine Freundin in Charleston, South Carolina, schreiben und gewiß sein, daß alles verstanden wurde, was zwischen den Zeilen stand.« Lulu bestrich ein Scone mit Butter.
»Lulu, was war Ihr Hauptfach?«
»Englisch. In Wellesley.«
»Ah.« Kimball hielt viel von der strengen Erziehung im Wellesley- College.
»Was konnte ein Mädchen zu meiner Zeit schon studieren? Kunstgeschichte oder Englisch.«
»So weit liegt Ihre Studienzeit doch noch nicht zurück. Kommen Sie, Sie sind noch keine Vierzig.«
Sie zuckte die Achseln und grinste. Sie war keineswegs erpicht darauf, ihn zu korrigieren.
Kimball mit seinen dreißig Jahren dachte noch nicht an die Vierziger. »Wir mit unserem Jugendkult! Die Menschen, die diese Tagebücher, Briefe und Aufzeichnungen geschrieben haben, legten Wert auf Erfahrung.«
»Die Menschen, die das hier geschrieben haben, wurden nicht täglich mit Fotos und Fernsehsendungen bombardiert, in denen schöne junge Frauen präsentiert werden. Und auch Männer. Die eigene Ehefrau, hoffentlich jeweils die beste, die man finden konnte, mußte nicht unbedingt schön sein. Es schadete zwar nicht, Kimball, keineswegs, aber ich glaube, unseren Vorfahren lag viel mehr an einer robusten Gesundheit und einem starken Charakter. Die Vorstellung von einer Frau als Schmuckstück - die wurde uns erst durch Königin Victoria aufgezwungen.«
»Da haben Sie recht. Frauen und Männer haben als Gespann gearbeitet, und zwar in jeder gesellschaftlichen Schicht. Sie brauchten sich gegenseitig. Ich stoße bei meinen Nachforschungen immer wieder darauf, Lulu, es war einfach eine Notwendigkeit. Ein Mann ohne Frau war zu bedauern, und eine Frau ohne Mann steckte in einer Sackgasse. Alle haben mit angepackt. Sehen Sie sich nur mal die Haushaltsbücher an, die Charlotte Graff, Samsons Urgroßmutter, geführt hat. Nägel, die damals unerhört teuer waren, wurden aufgezählt, Stück für Stück. Hier, schauen Sie sich das Haushaltsbuch von 1693 an.«
»Samson sollte diese Sachen wirklich der Alderman-Sammlung seltener Bücher stiften. Er will sich nicht von ihnen trennen, und irgendwie kann ich es ja verstehen, aber diese Informationen sollten der Öffentlichkeit zugänglich sein, und wenn schon nicht der Öffentlichkeit, dann wenigstens der Wissenschaft. Wesley Randolph war genauso. Ich traf Warren gestern zufällig, als er aus Larry Johnsons Praxis kam, und ich habe ihn gefragt, ob er die Sachen schon mal gelesen hat. Er sagte nein, weil sein Vater vieles davon in dem riesigen Tresor im Keller des Hauses aufbewahrte. Wesley wollte, daß die Papiere im Falle eines Feuers in Sicherheit waren.«
»Leuchtet ein.«
Lulu las weiter. »Immer, wenn ich Briefe an und von Jefferson- Frauen lese, werde ich ganz konfus. So viele Marthas, Janes und Marys, und diese Namen gibt es in jeder Generation.«
»Sie wußten eben nicht, daß sie mal berühmt sein würden. Sonst hätten sie die Vornamen vielleicht variiert, um es uns später leichter zu machen.«
Lulu lachte. »Glauben Sie, daß irgendwer in hundert Jahren was über uns lesen wird?«
»Für mich wird sich schon zwanzig Minuten nach meinem Tod keiner mehr interessieren - jedenfalls kein Archiv.«
»Wer weiß?« Sie griff entschlossen nach Charlotte Graffs Haushaltsbuch und las. »Ihre Buchführung ist verständlich. Neulich habe ich Samsons Geschäftsbuch in die Hand genommen, weil es auf dem Schreibtisch lag - Samson hatte vergessen, es wegzuräumen. Ich bin nicht daraus schlau geworden. Ich denke, die Erbanlagen sind degeneriert, zumindest auf dem Gebiet der Buchführung.« Sie stand auf und zog ein dickes schwarzes Buch mit rotem Rücken vom unteren Bord eines Bücherschranks. »Sagen Sie, wer von beiden hat es besser gemacht?«
Arglos schlug Kimball das Buch auf. Das strahlend weiße Papier mit den senkrechten blauen Linien bildete einen scharfen Gegensatz zu den vergilbten Papieren, die er zuvor gelesen hatte. Er blinzelte. Er las ein bißchen, erbleichte dann, klappte das Buch zu und gab es Lulu zurück. War er auch kein buchhalterisches Genie, so wußte er doch genug über doppelte Buchführung, um zu erkennen, daß Samson Coles den Treuhandfonds seiner Klienten Geld entnahm. Ein Börsen- oder Immobilienmakler darf nie, niemals Geld von einem Treuhandkonto umbuchen, auch dann nicht, wenn er es binnen einer Stunde zurückzahlt. Die Entdeckung eines solchen Mißbrauchs führt zum sofortigen Entzug der Zulassung, und kein Vorstand einer Immobilienfirma würde anders verfahren, und wenn der Schuldner der Präsident der Vereinigten Staaten wäre.
»Kimball, was haben Sie?«
Er stammelte: »Ähem, nichts.«
»Sie sind bleich wie ein Gespenst.«
»Ich hab zu viele Scones mit Marmelade gegessen.« Er lächelte matt und legte die Papiere zusammen. Da hupte Samson und kam mit seinem leuchtendroten Wagoneer die Auffahrt hochgefahren. »Lulu, stellen Sie das Buch weg, bevor er hereinkommt.«
»Kimball, was ist mit Ihnen?«
»Stellen Sie das Buch zurück!« Sein Ton war schärfer, als er beabsichtigt hatte.
Lulu, die sich nicht gern herumkommandieren ließ, tat das genaue Gegenteil. Sie schlug das Geschäftsbuch auf und las langsam und sorgfältig die Einträge. Da sie nicht viel von Buchführung oder dem Begriff Treuhand verstand, obwohl sie mit einem Grundstücksmakler verheiratet war, wußte sie nichts Rechtes damit anzufangen. Wie dem auch sei, Samson, das Ebenbild eines Landgrafen, kam soeben in die Bibliothek geschritten.
»Kimball, meine Frau hat Sie mit Scones verführt. Hallo, Liebes.« Er küßte Lulu flüchtig auf die Wange. Sein Blick wurde eisig, als er das Buch sah.
»Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich muß gehen«, sagte Kimball. »Vielen Dank, daß Sie mir das Material zur Verfügung gestellt haben.« Kimball verzog sich.
Samson, der hochrot angelaufen war, versuchte, seinen Schrecken zu verbergen. Reagieren wäre weitaus schlimmer gewesen als ignorieren. Deshalb nahm er Lulu lediglich das Buch aus der Hand und stellte es in den Schrank zurück. »Lulu, ich wußte gar nicht, daß meine Bücher als Archiv fungieren.«
Unbekümmert bemerkte sie: »Tun sie gar nicht, aber ich habe das Haushaltsbuch deiner x-ten Urgroßmutter von 1693 gelesen, und ich habe es verstanden. Darauf habe ich zu Kimball gesagt, er soll sich mal ansehen, wie das Buchführungsgen im Laufe der Jahrhunderte degeneriert ist.«
»Amüsant«, stieß Samson zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Die Methoden haben sich geändert.«
»Allerdings.«
»Hat Kimball was gesagt?«
Lucinda zögerte mit der Antwort. »Nein, eigentlich nicht, aber danach wollte er plötzlich gehen. Samson, stimmt etwas nicht?« »Nein, aber ich finde, meine Bücher gehen nur mich etwas an.«
Lulu war gereizt, sah aber ein, daß er recht hatte. »Tut mir leid. Ich habe es neulich zufällig gesehen, und ich muß ja immer sagen, was mir gerade in den Sinn kommt. Der Unterschied zwischen den zwei Kontobüchern ist mir eben aufgefallen. Es geht zwar niemanden was an, aber es war - komisch.«
Samson ging hinaus, und sie räumte Scones und Teegeschirr zusammen. Er zog sich in die Küche zurück und goß sich einen kräftigen Schluck Dalwhinnie Scotch ein. Was sollte er jetzt tun?