Die frische, schwere Nachtluft; trug Tuckers Nase Geschichten zu. Rehe folgten den warmen Luftströmungen, Waschbären strichen um Monticello herum, ein Opossum ruhte auf einem Ast des Schneeglöckchenbaums in der Nähe der Terrasse, die Mrs. Murphy ebenso wie Kimball als Promenade empfand. Fledermäuse flogen im Tulpenbaum, in der Rotbuche und in den Dachtraufen des Ziegelhauses ein und aus.
»Ich bin froh, daß es in Monticello Fledermäuse gibt.« Mrs. Murphy sah den kleinen Tieren zu, die im rechten Winkel davonschießen konnten, wenn ihnen danach war.
»Warum?« Tucker setzte sich.
»Weil diese Stätte durch sie nicht ganz so hehr und erhaben ist. Zu Thomas Jeffersons Lebzeiten hat's hier bestimmt nicht so piekfein ausgesehen. Die Bäume können nicht so groß gewesen sein. Der Abfall mußte irgendwohin geschafft werden - verstehst du? -, und es muß ziemlich laut zugegangen sein. Jetzt herrscht ehrfürchtige Stille, wenn man mal von dem Füßeschlurfen der Besucher absieht.«
»Muß lustig gewesen sein, die vielen Enkelkinder, die Sklaven, die sich was zuriefen, das Klingklang in der Schmiede, das Wiehern der Pferde. Ich seh 's genau vor mir, und ich kann mir vorstellen, daß ein intelligenter CorgiMr. Jefferson auf seinen Ritten begleitet hat.«
»Denkste. Wenn er Hunde mitgenommen hätte, dann große, Dalmatiner oder Jagdhunde.«
»Dalmatiner?« Tucker ließ einen Moment die Ohren hängen, als sie an ihre gefleckten Rivalen dachte.»Er hatte bestimmt keine Dalmatiner. Ich glaube, er hatte Corgis. Wir sind gute Hiitehunde, und wir hätten uns nützlich machen können.«
»Dann wärt ihr aber draußen bei den Kühen gewesen.«
»Bei den Pferden.«
»Kühen.«
»Ach, was weißt du denn schon? Fehlt bloß noch, daß du behauptest, eine Katze hat Jefferson die Hand geführt, als er die Unabhängigkeitserklärung schrieb.«
Mrs. Murphys Schnurrhaare zuckten.»Eine Katze hätte den Satz, daß alle Menschen gleich sind, niemals durchgehen lassen. Nicht nur, daß die Menschen nicht alle gleich sind, auch Katzen sind nicht alle gleich. Manche Katzen sind gleicher als andere, wenn du verstehst, was ich meine.«
Tucker kicherte.»Er hat die Erklärung in Philadelphia geschrieben. Vielleicht hat das seinen Verstand beeinträchtigt.«
»Philadelphia war damals eine schöne Stadt. Zum Teil ist sie das heute noch, aber sie ist einfach zu groß geworden. Alle unsere Städte werden zu groß. Aber egal, jedenfalls ist es absurd, so einen Satz zu Pergament zu bringen. Die Menschen sind nicht gleich. Und wir wissen genau, daß Frauen nicht gleich sind. Sie wurden damals nicht mal erwähnt.«
»Vielleicht meinte er vor dem Gesetz gleich.«
»Das soll ja wohl ein Witz sein. Hast du schon mal einen Reichen ins Gefängnis wandern sehen? Nein, das nehme ich zurück. Ab und zu wird mal ein Mafiaboß eingelocht.«
»Mrs. Murphy, wie hätte Thomas Jefferson von der Mafia träumen können? Als er die Unabhängigkeitserklärung schrieb, haben in den dreizehn Kolonien nur eine Million Menschen gelebt, und zwar überwiegend Engländer, Iren, Schotten und Deutsche. Und natürlich Afrikaner der unterschiedlichsten Stämme.«
»Die Franzosen nicht zu vergessen.«
»Mann, waren die blöd. Haben die sich doch glatt die Chance vermasselt, sich die ganze Neue Welt unter den Nagel zu reißen.«
»Tucker, ich wußte gar nicht, daß du Franzosen nicht magst.«
»Die mögen keine Corgis. Die englische Queen mag Corgis, deswegen finde ich die Engländer am nettesten.«
»Jefferson fand sie nicht nett.« Die seidigen Augenbrauen der Katze zuckten auf und ab.
»Das war nicht fair, George III. war debil. Die ganze Weltgeschichte wäre vielleicht anders verlaufen, wenn er richtig getickt hätte.«
»Ja, aber das könnte man von jedem beliebigen Moment in der Geschichte sagen. Was wäre geschehen, wenn Julius Caesar am 15. März auf seine Frau Calpurnia gehört hätte, als sie ihn bat, nicht zum Forum zu gehen? Hüte dich vor den Iden des März. Was wäre geschehen, wenn der Anschlag von Katharina der Großen auf das Leben ihres schwachsinnigen Ehemannes danebengegangen und sie statt dessen getötet worden wäre? Momente. Wendepunkte. Jeden Tag hat irgendwo irgendwer einen Wendepunkt.
Ich würde die Gründung der Gesellschaft zur Verhinderung von Tierquälerei für die wichtigste Wende halten.«
Tucker stand auf und holte Luft.»Und ich die Gründung der Westminster-Hundeschau. Sag mal, riechst du das?«
Mrs. Murphy hob anmutig den Kopf.»Stinktier.«
»Laß uns lieber wieder reingehen. Wenn ich es sehe, jag ich es, und du weißt, was dann passiert. Stinktiergestank in Monticello!«
»Ich für mein Teil würde das urkomisch finden. Ich möchte wissen, ob Jefferson die Vorstellung gefallen würde, daß sein Heim ein Museum ist. Ich wette, ein Haus voller Kinder, Lachen, zerbrochenem Geschirr und verwohnten Möbeln wäre ihm lieber.«
»Ihm schon, aber die Amerikaner brauchen Heiligtümer. Sie wollen sehen, wie ihre großen Männer gelebt haben. Sie hatten kein fließendes Wasser im Haus, und im Winter war die einzige Heizung der Kamin. Es gab keine Waschmaschinen, Kühlschränke, Öfen, Fernseher.«
»Das mit dem Fernseher wäre heute allerdings ein Segen«, sagte Mrs. Murphy voller Verachtung.
»Kein Telefon, kein Telegraf, kein Fax, keine Autos, keine Flugzeuge...«
»Klingt immer besser.« Die Katze schmiegte sich an den Hund.
»Alles still bis auf die Naturgeräusche. Denk nur, die Menschen haben sich tatsächlich hingesetzt und richtig miteinander geredet. Sie waren darauf angewiesen, sich gegenseitig mit ihren Konversationskünsten zu unterhalten. Und was machen die Leute heute? Sie sitzen im Wohnzimmer - ist das nicht ein dämliches Wort? Jedes Zimmer ist doch zum Wohnen da. Da hocken sie vor dem Fernseher, und wenn sie sich unterhalten, müssen sie gegen die blöde Glotze anreden.«
»Ach, Mrs. Murphy, ganz so barbarisch können sie doch nicht sein.«
»Hmpf«, erwiderte die Katze. Sie sah das Menschentier nicht als Krone der Schöpfung.
Tucker kratzte sich am Ohr.»Ich bin erstaunt, daß du dich so in Geschichte auskennst.«
»Ich hör zu und hör mich um. Ich kenne die Geschichte der Menschheit und unsere Geschichte, und wie man 's auch dreht und wendet, ich bin eine Amerikatze.«
»Und da drüben ist ein Ameristinktier.« Tucker lief zur Eingangstür, die gerade weit genug offenstand, daß sie sich hineinzwängen konnte, während ein dickes Stinktier am Rasenrand sich in der entgegengesetzten Richtung davonmachte.
Mrs. Murphy folgte ihr. Die zwei rannten zu der schmalen Stiege hinter dem Zimmer, dasNorth Square Room< genannt wurde, schwenkten nach links und sprangen hinauf zu Kimballs provisorischem Arbeitszimmer.
Harry, Mrs. Hogendobber und Kimball tränten die Augen. Sie hatten so viele Unterlagen gesichtet, wie sie konnten. Martha Jefferson, die Tochter des zukünftigen Präsidenten, hatte am 23. Februar 1790 Thomas Mann Randolph geheiratet. Aus dieser Ehe waren zwölf Kinder hervorgegangen; elf von ihnen hatten das Erwachsenenalter erreicht, und die meisten waren uralt geworden. Das letzte, Virginia Jefferson Randolph, geboren 1801, war 1882 gestorben. Marthas Kinder hatten ihrerseits fünfunddreißig Nachkommen hervorgebracht. Maria, Marthas Schwester, hatte durch ihren Sohn Francis Eppes, der zweimal verheiratet war, dreizehn Enkelkinder, so daß deren Generation achtundvierzig Häupter zählte. Auch sie waren fruchtbar und mehrten sich - aber nicht alle hatten Nachwuchs. Einige hatten nie geheiratet, dennoch waren die Abkömmlinge insgesamt zahlreich.
Mrs. Hogendobber rieb sich die Nase. »Es ist, als würden wir eine Nadel in einem Heuhaufen suchen.«
»Aber welche Nadel?« warf Harry ein.
»Und in welchem Heuhaufen? Martha oder Maria?« Auch Kimball war am Rande der Erschöpfung.
»Irgend jemand muß sich doch über Medley oder ihr Kind geäußert haben.« Harry sah ihre Freundinnen hereinkommen. »Was habt ihr zwei denn getrieben?«
»Wir hatten eine geschichtliche Besprechung«, antwortete Mrs. Murphy.
»Ja, sehr tiefschürfend.« Tucker ließ sich vor die Füße ihrer Mutter fallen.
»Die traurige Wahrheit ist, daß Schwarze damals offenbar nicht erwähnenswert waren.« Mrs. Hogendobber schüttelte den Kopf.
»Es gibt aber reichlich Hinweise auf Jupiter, Jeffersons Leibwächter, und auf King, Sally und Betsey Hemings - die Liste ließe sich ewig fortsetzen. Medley dagegen kommt bloß in einer Fußnote vor.« Kimball zog an seiner Unterlippe, eine alte Angewohnheit von ihm, wenn er angestrengt nachdachte. »Was ist mit Madison Hemings? Er muß eine Sensation ausgelöst haben. Thomas Jeffersons Ebenbild - aber mit dunkelbrauner Hautfarbe. Er hat die Gäste beim Essen bedient. Wetten, er hat ihnen einen ordentlichen Schrecken eingejagt?« Harry fragte sich, wie es auf die Leute gewirkt haben mußte, einen jungen Mulatten in Livree zu sehen, in dem unverkennbar das Blut des Präsidenten floß.
»Er war 1805 geboren, und als alter Mann behauptete er, Jeffersons Sohn zu sein. Er sagte, Sally, seine Mutter, hätte es ihm erzählt.« Kimball sprang auf. »Aber das war vielleicht bloß der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen. Und Jefferson hatte massenhaft männliche Verwandte, von denen jeder einzelne dazu imstande gewesen wäre, mit Sally oder ihrer hübschen Schwester Betsey zu schlafen. Und wie steht es mit den anderen weißen Beschäftigten auf der Plantage?«
»Thomas Jefferson Randolph, Marthas ältester Sohn, der von 1792 bis 1875 lebte, behauptete, Sally sei Peter Carrs bevorzugte Geliebte und Sallys Schwester Betsey die Geliebte von Sam Carr gewesen. Peter und Sam waren Jeffersons Neffen, die Söhne von Dabney Carr und Martha Jeffersons jüngerer Schwester. Und wild wie die Ratten waren sie, die zwei.« Kimball lächelte bei der Vorstellung eines schwarzen Harems mit einem einzigen weißen Sultan, oder in diesem Fall mit zweien.
»Ob Sally und Betsey das wohl so großartig fanden?« Harry konnte sich diese Frage nicht verkneifen.
»Hm« - Kimball blinzelte - »naja, vielleicht nicht, aber, Harry, erotische Phantasien gehören nun mal zum Leben eines Mannes. Ich meine, wir alle sehen uns in unserer Vorstellung gerne in den Armen einer schönen Frau.«
»Ja, ja«, brummte Harry. »Gegen die Phantasie ist nichts einzuwenden, aber gegen das Tun, wenn man verheiratet ist. Aber naja, diese Debatte ist uralt.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, lenkte Kimball ein.
»Und wer hat mit Medley geschlafen?« Mrs. Murphy schlug mit dem Schwanz.»Wenn sie wirklich so hübsch war, wie von ihr behauptet wird, wird sie doch sicher dem einen oder anderen weißen Mann den Kopf verdreht haben.«
Kimball bewunderte Mrs. Murphy. »Wie laut sie schnurrt.«
Tucker wackelte mit ihrem Schwanz, in der Hoffnung, beachtet zu werden.»Du solltest sie mal rülpsen hören.«
»Eifersüchtig«, stellte Mrs. Hogendobber lakonisch fest.
»Sie hat dich durchschaut, Stummelchen«, neckte Mrs. Murphy ihre Freundin, die nicht antwortete, weil Kimball sie gerade streichelte.
»Irre ich mich, oder gibt es da so eine Art stillschweigende Vereinbarung, über Medley Orion und ihr Kind nichts preiszugeben?« Wie ein Jagdhund witterte Harry eine schwache, ganz schwache Fährte.
Kimball und Mrs. Hogendobber starrten sie an.
»Ist das nicht offensichtlich?« meinte Kimball.
»Das Offensichtliche ist eine trügerische Versuchung.« Mrs. Hogendobber, die ja mit Harry arbeitete, schwenkte jetzt ebenfalls auf Harrys Linie ein. »Wir haben etwas übersehen.«
»Der Master von Monticello hat vielleicht nicht gewußt, was mit Medley los war oder wer den Mann umgebracht hat, aber ich gehe jede Wette ein, daß Martha es wußte, und deswegen hat sie Medley bei sich aufgenommen. Man hätte sie ohne weiteres verkaufen können. Die Jeffersons hätten diese Sklavin loswerden können, wenn sie ihnen lästig geworden wäre.«
»Harry, die Jeffersons haben ihre Sklaven nicht verkauft.« Kimball hörte sich beinahe an wie Mim. Er irrte sich aber. Jefferson hatte seine Sklaven sehr wohl verkauft, aber nur, wenn er wußte, daß sie in gute Hände kamen. Jefferson hatte mit seiner Taktik mehr Rücksichtnahme gezeigt als viele andere Sklavenbesitzer, doch die Veräußerung von Menschen war schon einigen von Jeffersons Zeitgenossen gefühllos und gewinnsüchtig erschienen.
»Sie hätten sie weggeben können, nachdem Thomas gestorben war.« Mrs. Hogendobber rutschte auf ihrem Stuhl hin und her; ihre Gedanken überschlugen sich. »Medley wurde von einer oder von beiden Töchtern beschützt. Marthaund Maria.«
Kimball fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Warum?«
»Warum, warum.« Harry schrie beinahe. »Warum hat nicht ein einziges Familienmitglied vorgeschlagen, Sally und Betsey Hemings zum Teufel zu jagen? Mein Gott, man hat Jefferson wegen seiner angeblichen Affäre die Hölle heiß gemacht. Bedenken Sie, Kimball, auch wenn es zweihundert Jahre her ist, Politik bleibt Politik, und die Menschen haben sich erstaunlich wenig geändert.«
»Eine Vertuschung?« flüsterte Kimball.
»Ah« - Mrs. Hogendobber hob den Zeigefinger wie eine Schullehrerin -, »nicht Vertuschung, sondern Stolz. Hätte man die Hemings, sagen wir,>entlassen<, wäre das ein Schuldbekenntnis gewesen.«
»Aber sie hier auf dem Hügel zu behalten hat doch den Klatschmäulern bestimmt erst recht Nahrung gegeben«, platzte Kimball frustriert heraus.
»Schon, aber Jefferson ist nicht darauf eingegangen. Wenn er schweigt, was können sie dann schon machen? Sie können Geschichten erfinden. Die Zeitungen heutzutage sind voll von solchen Mutmaßungen, die als Tatsachen verkauft werden. Aber Jefferson war ihnen mit seiner Gelassenheit überlegen, er hat ihnen einfach den Wind aus den Segeln genommen. Ich will damit sagen, er ist nie vor dem Feind in die Knie gegangen, und er hat bewußt die Entscheidung getroffen, die Hemings nicht zu feuern.«
»Harry, diese Sklavinnen kamen vom Landsitz seiner Mutter.«
»Ja, Kimball, na und?«
»Er war ein sehr anhänglicher Mensch. Als sein bester Freund Dabney Carr in jungen Jahren starb, hat Jefferson die Familiengruft für ihn angelegt, und dann hat er sich an sein Grab gelehnt und gelesen, um ihm nahe zu sein.«
Harry hob die Hände, als wollte sie um einen Waffenstillstand bitten. »Okay, okay, dann versuchen wir es mal so: Sallys und Betseys Mutter, Betty Hemings, war halb weiß. Sie war nicht wie die anderen Sklaven, denn ihr Vater war ein englischer Kapitän. Thomas Jefferson ließ Sallys und Betseys Brüder Bob und James 1790 frei. Mit Ausnahme einer weiteren Tochter, Thenia, die von James Monroe gekauft wurde, sind alle Hemings in Monticello geblieben. Sie standen in dem Ruf, tüchtige Arbeiter und intelligent zu sein. Sally kam nie frei, aber Jefferson ließ ihre Tochter 1822 gehen. Das entnehme ich zumindest diesen Papieren.«
»Das weiß ich alles«, sagte Kimball gereizt.
»Ich nicht.« Mrs. Hogendobber machte Harry ein Zeichen, fortzufahren.
»Jefferson verfügte, daß Sallys Söhne Madison und Eston nach Vollendung ihres 21. Lebensjahres freigelassen werden sollten. Das hätte er bestimmt nicht getan, wenn er nicht sicher gewesen wäre, daß sie sich auch so ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Sonst wäre es grausam gewesen, sie in die Welt zu schicken, stimmt's?«
»Stimmt.« Kimball ging auf und ab.
»Und die Liebhaber von Sally und Betsey waren vielleicht gar nicht die Brüder Carr. Die Sklaven sagten, daß John Wayles Sally zu seiner, wie soll ich sagen, Lebensgefährtin machte, nachdem seine dritte Frau gestorben war, und daß Sally sechs Kinder von ihm hatte. John Wayles war Martha Jeffersons Bruder, T. J.'s Schwager. Jefferson hat für jedes Mitglied seiner Familie die Verantwortung übernommen. Er hat Martha über alles geliebt. In diesem Licht ergibt seine Fürsorge einen Sinn. Andere sagten freilich, John Wayles sei der Liebhaber von Betty Hemings gewesen, dann wären Sally und Betsey Marthas Cousinen. Wir werden es wohl nie genau erfahren, aber der springende Punkt ist, daß Sally und Betsey eine Verwandtschafts- oder innige Herzensbeziehung mit T.J. hatten.«
Kimball setzte sich wieder hin. Er sprach langsam. »Das klingt logisch. Dadurch wäre er gezwungen gewesen, zu den Vaterschaftsverleumdungen zu schweigen.«
»John Wayles war nicht imstande, mit einer solchen Kalamität fertig zu werden. Jefferson schon.« Mrs. Hogendobber hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Und selbst wenn sie Jefferson gekränkt haben, die Verleumder, seine Macht konnten sie nicht beschneiden.«
»Warum nicht?« Kimball war verblüfft.
»Hätten sie all die weißen Rammler aus dem Dornengestrüpp aufscheuchen sollen?« Mrs. Hogendobber lachte. »Die Frage ist nicht, welche Südstaaten-Gentlemen mit Sklavinnen geschlafen haben, die Frage ist, wer es nicht getan hat.«
»Oh, jetzt verstehe ich.« Kimball rieb sich das Kinn. »Die Yankees konnten ordentlich wettern, aber die Südstaatler hielten den Mund und sahen sozusagen in die andere Richtung.«
»Na klar, sie hätten doch Jefferson nicht für ihre eigenen Sünden ans Kreuz genagelt.« Harry lachte. »Die Nordstaatler hätten das Kreuzigen besorgt, aber sie konnten ihn nie richtig packen. Er war viel zu schlau, um zu reden, und er hat immer diejenigen in Schutz genommen, die schwächer waren als er.«
Mrs. Hogendobber lächelte. »Er hatte sehr, sehr breite Schwingen.«
»Und wo bleibt Medley Orion bei alledem?« Kimball stand auf und fing wieder an, auf und ab zu gehen.
»Sie könnte mit den Hemings verwandt gewesen sein oder auch nicht. Gemäß ihrer Beschreibung als>hell< war sie offensichtlich viertel, wenn nicht halb weiß. Und ihr Liebhaber war ein Weißer. Der Liebhaber ist der Schlüssel. Er wurde beschützt«, sagte Harry.
»Das glaube ich nicht. Ich denke, Medley war diejenige, die beschützt wurde. Ich kann's nicht beweisen, aber meine weibliche Intuition sagt mir, daß das Opfer Medleys weißer Liebhaber war.«
»Was?« Kimball blieb abrupt stehen.
»Die Jeffersons haben vielen Menschen ihr Wohlwollen erwiesen: Wayles, falls er der Geliebte von Betty Hemings oder ihrer Tochter Sally war, den Carrs, falls sie in die Geschichte verwickelt waren. Die Leiche in Hütte Nummer vier war kein Familienmitglied. Die Abwesenheit des Mannes oder sein Tod muß irgendwo bemerkt worden sein. Jemand mußte dafür eine Erklärung abgeben. Sehen Sie nicht, wer immer der Mann ist - oder war, sollte ich wohl besser sagen - , als die Jeffersons dahinterkamen, hat er ihnen nicht gepaßt.«
Sie hielt inne, um Atem zu holen, und Kimball warf ein: »Aber deswegen einen Mord billigen?«
Mrs. Hogendobber senkte eine Sekunde den Kopf, dann blickte sie hoch. »Es gibt schlimmere Sünden als Mord, Kimball Haynes.«