In der Kirche Saint-Sulpice gab es im Obergeschoss neben der Orgelempore eine spartanisch eingerichtete Zweizimmerklause mit Steinfußboden. Die bescheidene Unterkunft war seit mehr als zehn Jahren das Heim von Schwester Sandrine Bieil. Ihre offizielle Adresse war das nahe Kloster, falls jemand danach fragte, aber in der Kirche fand sie es ruhiger. Mit einer kleinen Bettstatt, einem Telefon und einer Kochplatte hatte sie es sich hier für ihre Begriffe recht gemütlich gemacht.
Als conservatrice d'affaires der Kirche war Schwester Sandrine für alle nichtreligiösen Aspekte des Kirchenbetriebs verantwortlich, etwa die Hausverwaltung, die Einstellung von Hilfs- und Reinigungskräften und Fremdenführern, das Verschließen des Gebäudes am Abend, die Bestellung von Messwein und Oblaten für die heilige Kommunion und vieles andere mehr.
Das Schrillen des Telefons ließ sie in ihrem kleinen Bert hochfahren. Schlaftrunken griff sie nach dem Hörer.
»Sœur Sandrine, Eglise Saint-Sulpice.«
»Hallo, Schwester«, sagte der französische Anrufer.
Schwester Sandrine setzte sich auf. Wie viel Uhr ist es eigentlich: Sie erkannte die Stimme ihres Vorgesetzten. In fünfzehn Jahren war es noch nie vorgekommen, dass er sie aus dem Schlaf geklingelt hatte. Der Abbé war ein frommer, tief religiöser Mann, der sich nach der Abendmesse stets sofort nach Hause und unverzüglich zu Bett begab.
»Es tut mir Leid, Schwester, wenn ich Sie aus dem Schlaf gerissen habe«, sagte der Abbé, dessen Stimme ebenfalls ziemlich schlaftrunken klang. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Ich habe soeben von einem einflussreichen amerikanischen Bischof einen Anruf erhalten. Sie kennen ihn vielleicht. Es handelt sich um Bischof Manuel Aringarosa.«
»Der Prälat des Opus Dei?« Natürlich kenne ich ihn. Wer in der katholischen Kirche kennt ihn nicht? Aringarosas konservative Organisation war in den letzten Jahren sehr mächtig geworden. Ihr Aufstieg zu Ehre und Ansehen hatte im Jahr 1982 gewaltigen Rückenwind erhalten, als Papst Johannes Paul II. dem Opus Dei unerwartet den Rang einer »Personalprälatur« verliehen hatte, womit sämtliche ins Kreuzfeuer der Kritik geratenen Praktiken des Ordens offiziell abgesegnet waren. Der Aufstieg des Opus Dei erfolgte eigentümlicherweise im gleichen Jahr, in dem die wohlhabende Organisation angeblich fast eine Milliarde Dollar auf das Vatikanische Institut für Religiöse Werke – besser unter dem Namen Vatikanbank bekannt – transferiert und damit in letzter Sekunde einen blamablen Bankrott des Instituts abgewendet hatte. Des Weiteren setzte der Papst in einem befremdlichen Schnellverfahren den Gründer von Opus Dei auf die Liste der Heiligsprechungen und verkürzte in diesem Fall die oft Jahrhunderte währende Wartezeit auf lediglich zwanzig Jahre. Schwester Sandrine begegnete dem hohen Ansehen, das Opus Dei in Rom genoss, mit abgrundtiefem Misstrauen, aber man konnte ja schließlich nicht vom Heiligen Stuhl Rechenschaft verlangen.
»Bischof Aringarosa hat mich telefonisch um einen Gefallen gebeten«, erklärte der Abbé. Seine Stimme klang nervös. »Einer seiner Numerarier ist heute Abend in Paris … «
Je länger Schwester Sandrine der merkwürdigen Bitte lauschte, desto suspekter kam ihr die Sache vor. »Entschuldigung, habe ich Sie richtig verstanden? Der Besuch dieses Numerariers kann nicht bis morgen warten?«
»Ich fürchte nein. Er hat immer schon davon geträumt, Saint-Sulpice zu sehen, aber sein Flugzeug geht morgen schon in aller Herrgottsfrühe.«
»Aber die Kirche ist doch am Tag viel interessanter. Der Sonneneinfall durch den Oculus, das schrittweise Vorrücken des Scharrens auf dem Gnomon – das ist es doch, was diese Kirche so einmalig macht.«
»Ich bin ja vollkommen Ihrer Meinung, Schwester, aber Sie würden mir trotzdem einen großen persönlichen Gefallen tun, wenn Sie den geistlichen Herrn noch in dieser Nacht einlassen würden. Er könnte um … sagen wir, ein Uhr bei Ihnen sein. Also in zwanzig Minuten.«
»Gewiss, es ist mir ein Vergnügen«, schwindelte Schwester Sandrine und zog die Stirn kraus.
Der Abbé bedankte sich und legte auf.
Schwester Sandrine blieb noch einen Moment in ihrem warmen Bett. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und versuchte, die Spinnweben im Gehirn zu vertreiben. Ihr sechsundsechzigjähriger Körper wurde nicht mehr so schnell wach wie früher, auch wenn der Anruf alles andere als beruhigend gewesen war. Opus Dei hatte sie immer schon argwöhnisch gemacht. Neben dem altertümlichen Festhalten am Ritual der Selbstkasteiung und Selbstgeißelung beharrte Opus Dei zudem auf einem Frauenbild, das man bestenfalls mittelalterlich nennen konnte. Schwester Sandrine hatte mit ungläubigem Erstaunen gehört, dass die Numerarierinnen angehalten waren, ohne jedes Entgelt die Wohnräume der männlichen Numerarier zu putzen, während diese die Messe besuchten. Frauen mussten auf dem nackten Dielenboden schlafen, während den Männern wenigstens Strohmatten zugestanden wurden. Außerdem wurde Frauen ein größeres Maß an Selbstkasteiung abverlangt – alles als zusätzliche Bußübung für die von Eva über die Menschheit gebrachte Erbsünde. Es hatte den Anschein, dass die Frauen auf ewig dazu verurteilt waren, für Evas Biss in den Apfel der Erkenntnis die Zeche zu zahlen. Während sich die katholische Kirche, was die Rechte der Frauen betraf, allmählich in die richtige Richtung bewegte, drohte Opus Dei den soeben in Gang gekommenen Prozess wieder rückgängig zu machen. Doch wie auch immer, Schwester Sandrine hatte ihre Anweisungen.
Sie schwang das linke Bein aus dem Bett und stand auf. Während ihr die Kälte des Steinbodens durch die nackten Fußsohlen drang, bekam sie es plötzlich mit der Angst.
Weibliche Intuition?
Als fromme Frau hatte Schwester Sandrine gelernt, sich dem beruhigenden Zuspruch der tröstenden Stimmen ihrer Seele anzuvertrauen. Heute Nacht aber waren diese Stimmen so stumm wie die menschenleere Kirche, die sie nun öffnen sollte.