91. KAPITEL

Silas saß auf dem Beifahrersitz des Jaguar, der in der Nähe der Temple Church geparkt war. Die feuchten Hände um den Schlussstein gekrampft, wartete er auf Rémy, der damit beschäftigt war, Teabing auf der Rückbank mit einem Seil und einem Lappen, die er im Kofferraum entdeckt hatte, zu fesseln und zu knebeln.

Schließlich stieg Rémy hinten aus, ging um den Wagen herum und glitt neben Silas ans Steuer.

»Gut verschnürt?«, fragte Silas.

Rémy lachte in sich hinein, klopfte sich die Regentropfen vom Anzug und blickte über die Schulter durch die offene Trennscheibe nach hinten, wo – im Halbdunkel kaum auszumachen – die zusammengekrümmte Gestalt Leigh Teabings auf dem Boden lag. »Der läuft uns nicht mehr weg.«

Silas hörte Teabings erstickte, dumpfe Proteste. Rémy hatte ein Stück Klebeband von Silas' Fesseln als Knebel wieder verwendet.

»Halt's Maul«, giftete Rémy und hieb auf einen Knopf am aufwändigen Armaturenbrett, worauf sich summend eine Trennscheibe vor die Öffnung zur Passagierkabine schob. Teabing verschwand aus dem Blickfeld, seine Stimme verstummte. »Ich habe mir dieses verdammte Gewinsel lange genug anhören müssen«, höhnte Rémy und schaute Silas Beifall heischend an.


Als die schwere Limousine wenige Minuten später durch die Straßen rollte, meldete sich Silas' Handy. Der Lehrer. Silas meldete sich aufgeregt. »Hallo?«

»Silas«, hörte er den Lehrer in seinem vertrauten, französisch gefärbten Englisch sagen, »ich bin erleichtert, Ihre Stimme zu hören, denn das bedeutet, dass Sie in Sicherheit sind.«

Silas war nicht minder erleichtert, dass der Lehrer sich meldete. In den Stunden seit ihrem letzten Kontakt hatten die Ereignisse sich überschlagen, doch die Aktion lief jetzt endlich wieder auf dem richtigen Gleis. »Ich habe den Schlussstein.«

»Das sind ja wundervolle Neuigkeiten. Ist Rémy bei Ihnen?«

Überrascht nahm Silas zur Kenntnis, dass der Lehrer Rémys Namen nannte. »Ja. Rémy hat mich befreit.«

»Wie von mir angeordnet. Ich bin untröstlich, dass Sie eine so lange Gefangenschaft auf sich nehmen mussten.«

»Die Leiden des Körpers sind unerheblich. Wichtig ist allein, dass wir nun im Besitz des Schlusssteins sind.«

»Ja, und ich möchte ihn unverzüglich in Händen haben. Jede Minute zählt.«

»Gewiss. Es wird mir eine Ehre sein, ihn persönlich bei Ihnen abzuliefern.« Silas brannte darauf, den Lehrer von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen.

»Ich möchte, dass Rémy ihn mir bringt.«

Silas konnte es nicht fassen. Nach allem, was er für den Lehrer auf sich genommen hatte, war er sicher gewesen, dass nun ihm die Ehre zukam, den Preis zu überreichen. Der Lehrer gibt Rémy den Vorzug?

»Ich spüre, dass Sie jetzt enttäuscht sind«, sagte der Lehrer, »und ich schließe daraus, dass Sie meine Absichten nicht begriffen haben.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Sie dürfen mir glauben, dass es mir wesentlich lieber wäre, den Schlussstein von Ihnen entgegenzunehmen, einem Mann Gottes, und nicht aus den Händen eines Kriminellen, aber ich habe mit Rémy noch ein Hühnchen zu rupfen. Er hat meine Anordnungen nicht befolgt und einen schweren Fehler begangen, der unsere ganze Mission zum Scheitern hätte bringen können.«

Silas fröstelte. Er schaute zu Rémy. Teabings Entführung war im Plan nicht vorgesehen gewesen, und die Entscheidung, was man nun mit ihm anfangen sollte, warf neue Probleme auf.

»Sie und ich sind Männer Gottes«, flüsterte der Lehrer. »Wir lassen uns nicht von unserem Ziel abbringen.« Eine bedeutungsschwere Pause folgte, »Einzig aus diesem Grund möchte ich, dass Rémy mir den Schlussstein bringt, begreifen Sie?«

Silas hörte den Zorn, der in der Stimme des Lehrers mitschwang. Es wunderte ihn, dass dieser Mann nicht mehr Verständnis aufbrachte. Rémy hat sein Gesicht gezeigt, doch es war unumgänglich, dachte Silas. Rémy musste es tun, um den Schlussstein zu retten. »Ja, ich verstehe«, brachte Silas mühsam hervor.

»Gut. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie von der Straße verschwinden. Die Polizei wird in Kürze nach der Limousine fahnden, und ich möchte nicht, dass Sie verhaftet werden. Unterhält Opus Dei in London ein Ordenshaus?«

»Ja.«

»Werden Sie dort willkommen sein?«

»Wie ein Bruder.«

»Dann begeben Sie sich vorerst dorthin und halten sich dort versteckt. Sobald ich den Schlussstein in Händen habe und mein derzeitiges Problem gelöst ist, melde ich mich wieder bei Ihnen.«

»Sie sind in London?«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage, dann kann nichts schiefgehen.«

»Jawohl.«

Der Lehrer seufzte, als würde er seinen nächsten Schritt zutiefst bedauern. »Jetzt ist es an der Zeit, dass ich mit Rémy spreche.«

Silas reichte ihm das Handy. Er hatte das Gefühl, dass es Rémy Legaludecs letztes Telefonat sein würde.


Während Rémy das Handy nahm, bedauerte er den armen dummen Mönch, der keine Ahnung hatte, was ihm bevorstand: Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan …

Mein lieber Silas, der Lehrer hat dich nur benutzt.

Und dein Bischof ist auch nur eine Schachfigur.

Rémy konnte immer wieder nur staunen, welche Überredungskunst der Lehrer besaß. Sogar Bischof Aringarosa hatte dem Lehrer aus der Hand gefressen. Seine verzweifelte Lage hatte ihn blind gemacht. Aringarosa war viel zu gutgläubig. Rémy mochte den Lehrer zwar nicht besonders, aber er war stolz darauf, sich das Vertrauen dieses Mannes erworben und ihm bei wichtigen Dingen geholfen zu haben. Du hast dir deinen Zahltag redlich verdient.

»Hören Sie gut zu«, sagte der Lehrer. »Bringen Sie Silas zum Ordenshaus von Opus Dei, aber lassen Sie ihn schon ein Stück vorher aussteigen. Fahren Sie anschließend zum St. James's Park, direkt hinter Big Ben und dem Parlamentsgebäude. Parken Sie an der Horse Guards Parade. Dort unterhalten wir uns weiter.«

Die Verbindung brach ab.

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