Robert Langdon konnte den Blick nicht von dem violett leuchtenden Text lösen, den Saunière auf dem Parkettboden hinterlassen hatte. Eine rätselhaftere, verrücktere Abschiedsbotschaft als Jacques Saunières letzte Mitteilung konnte Langdon sich schwerlich vorstellen. Sie war in Englisch geschrieben und lautete:
13-3-2-21-1-1-8-5 O, Draconian devil! Oh, lame saint!
Langdon hatte nicht den blassesten Schimmer, was diese Zeilen bedeuteten, konnte aber gut verstehen, dass Fache das Pentagramm instinktiv mit Teufelsanbetung in Verbindung gebracht hatte.
O, Draconian devil! Saunière hatte einen ausdrücklichen Verweis auf den Teufel hinterlassen, auf einen drakonischen gar. Nicht minder absonderlich war die Zahlenfolge.
»Das erinnert mich ein bisschen an einen Zahlencode«, meinte Langdon.
»Ja«, sagte Fache, »unsere Dechiffrierabteilung ist schon an der Arbeit. Wir glauben, dass diese Zahlen einen Hinweis auf den Mörder liefern könnten. Vielleicht ist es eine Telefonnummer oder sonst eine Erfassungsnummer. Aber vielleicht sind Sie ja in der Lage, diesen Zahlen eine symbolische Bedeutung abzugewinnen?«
Langdon betrachtete die Zahlenfolge erneut. Er ahnte, dass ihn dieses Unterfangen Stunden kosten würde. Falls Saunière überhaupt an so etwas gedacht hat. Die Zahlen kamen Langdon völlig willkürlich vor. Er war an Symbolmuster gewohnt, die einen inneren Zusammenhang erkennen ließen, aber hier … das Pentagramm, der Text, die Zahlenfolge … alles passte vorn und hinten nicht zusammen.
»Sie haben vorhin angedeutet, dass Saunières Bemühen vermutlich darauf abzielte, eine Botschaft über Weiblichkeitskulte und derartige Dinge zu übermitteln«, sagte Fache. »Wie passt das zu dem hier?«
Langdon wusste, dass es eine rhetorische Frage war. Diese bizarren Zeilen fügten sich eben gerade nicht in diesen Zusammenhang.
Oh, drakonischer Teufel? Oh, lahmer Heiliger?
»Die Zeilen scheinen irgendwie einen Vorwurf auszudrücken«, sagte Fache. »Meinen Sie nicht?«
Langdon versuchte sich Saunières letzte Minuten vorzustellen – allein in der Grande Galerie eingeschlossen, mit dem Wissen, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. »Ein Vorwurf an die Adresse des Mörders wäre vermutlich nicht unlogisch«, meinte er.
»Mein Beruf verlangt von mir, dem Mörder einen Namen zu geben. Mr Langdon, ich möchte Ihnen eine Frage stellen: Was kommt Ihnen an dieser Botschaft, ungeachtet der Zahlen, am merkwürdigsten vor?«
Am merkwürdigsten? Ein unter Qualen sterbender Mann hatte sich in der Grande Galerie verbarrikadiert, hatte sich ein Pentagramm auf den Leib gemalt und eine mysteriöse Anschuldigung auf den Boden geschrieben. Was war hier nicht äußerst merkwürdig?
»Das Wort drakonisch«, sagte er aufs Geratewohl. Es war das Erste, das ihm in den Sinn kam. Doch Langdon kam die Bezugnahme auf Drakon – den athenischen Gesetzgeber des siebten vorchristlichen Jahrhunderts – durch einen Sterbenden bei dessen letztem Atemzug ziemlich weit hergeholt vor. »› Drakonischer Teufel‹ ist für mich eine seltsame Wortwahl.«
»Seltsam?« Faches Tonfall bekam einen ungeduldigen Beiklang. »Ich glaube nicht, dass Saunières Wortwahl, ob seltsam oder nicht, unser vorrangiges Thema ist.«
Langdon wusste nicht recht, was für Fache das vorrangige Thema war, doch er hatte das Gefühl, Fache und der berüchtigte Grieche aus der Antike wären gut miteinander ausgekommen.
»Saunière war Franzose und hat in Paris gelebt«, sagte Fache beiläufig. »Dennoch hielt er es für angebracht, die Botschaft auf … «
» … Englisch zu schreiben«, vollendete Langdon den Satz, dem aufgegangen war, worauf der Capitaine hinauswollte.
Fache nickte. »Precisement. Haben Sie eine Erklärung?«
Langdon wusste, dass Saunière perfekt Englisch sprach, aber weshalb er seine letzten Worte ausgerechnet in Englisch verfasst hatte, war ihm unerfindlich. Er zuckte die Achseln.
Fache deutete noch einmal auf das Pentagramm auf Saunières Bauch. »Das soll also nichts mit Teufelsanbetung zu tun haben. Sind Sie da immer noch sicher?«
Langdon war sich über gar nichts mehr sicher. »Der Symbolgehalt und der Text scheinen nicht zusammenzupassen. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«
Fache war ein paar Schritte zurückgetreten. »Vielleicht bringt das ein bisschen mehr Klarheit«, sagte er und stellte an der UV-Lampe einen breiten Strahl ein. »Was halten Sie davon?«
Zu Langdons Erstaunen glühte um die Leiche herum ein unvollkommen gezeichneter Kreis auf. Saunière hatte sich offenbar hingelegt und einen Kreis um sich selbst gezogen, indem er den Filzschreiber mit ausgestreckten Armen um sich herum geschwungen hatte wie einen Zirkel.
Schlagartig würde Langdon die Bedeutung klar. »Die Proportionsstudie nach Vitruv!«, entfuhr es ihm. Saunière hatte eine lebensgroße Kopie von Leonardo da Vincis berühmtester Zeichnung geschaffen.
Da Vincis Proportionsstudie, die als die anatomisch genaueste Darstellung des Menschen aus jener Zeit gilt, war zu einer modernen Chiffre für den Begriff »Kultur« geworden und mittlerweile rund um den Globus auf Plakaten, Mouse-Pads und T-Shirts zu sehen. Die berühmte Zeichnung bestand aus einem Kreis, in den die Gestalt eines nackten Mannes mit weit von sich gestreckten Gliedmaßen eingezeichnet war.
Da Vinci. Langdon bebte vor Erregung. An der Klarheit von Saunières Absicht konnte kein Zweifel mehr bestehen. Im letzten Augenblick seines Lebens hatte er sich seiner Kleidung entledigt und mit seinem eigenen Körper eine Nachbildung von Leonardos »Proportionsstudie« geschaffen.
Der Kreis war das fehlende Element gewesen. Als weibliches Symbol des Beschützens hatte der um den nackten Mann gezogene Kreis der von da Vinci beabsichtigten Botschaft von der Harmonie des Männlichen und Weiblichen zum vollkommenen Ausdruck verholfen. Nun stellte sich allerdings die Frage, warum Saunière die berühmte Zeichnung Leonardos zum Vorbild genommen hatte.
»Mr Langdon«, sagte Fache, »jemand wie Sie muss wohl nicht daran erinnert werden, dass da Vinci eine Neigung zu den schwarzen Künsten besaß.«
Faches Kenntnisse über Leonardo waren für Langdon eine Überraschung. Sie lieferten die Erklärung für Faches Vermutungen hinsichtlich der Teufelsverehrung. Die Historiker, besonders christlicher Provenienz, hatten sich mit Leonardo da Vinci schon immer schwer getan. Dieses visionäre Genie war zugleich ein ausschweifender Homosexueller und Verehrer der göttlichen Ordnung der Natur gewesen, was ihn zum notorischen Sünder gegen den Gott der katholischen Kirche gemacht hatte. Zudem hatte der Künstler in seiner exzentrischen Eigenwilligkeit eine dämonische Aura verbreitet. Da Vinci hatte zum Studium der menschlichen Anatomie Leichen ausgegraben. Er hatte in einer schwer zu entziffernden Spiegelschrift ein geheimnisvolles Notizbuch geführt. Er glaubte sich im Besitz des alchemistischen Wissens, mit dem man Blei in Gold verwandeln und sogar durch die Herstellung eines Lebenselixiers Gott um den Tod betrügen konnte. Außerdem gehörten Kriegsmaschinen und Folterinstrumente von bis dahin nicht gekannter Grausamkeit zum Repertoire seiner vielfältigen Erfindungen.
Was die Menschen nicht begreifen, macht ihnen Angst, dachte Langdon.
Sogar da Vincis gewaltige Produktivität an atemberaubenden Gemälden mit religiösen Inhalten trug zur Verbreitung des gegen ihn erhobenen Vorwurfs spiritueller Heuchelei bei. Er malte Hunderte von lukrativen Auftragswerken für den Vatikan, schuf die Gemälde jedoch nicht als frommen Ausdruck seines eigenen Glaubens, sondern verstand sie als Mittel zur Finanzierung seines aufwändigen Lebensstils. Zu seinem Pech war Leonardo da Vinci überdies ein Querkopf, der oft Gefallen daran fand, unvermutet die Hand zu beißen, die ihn fütterte. In viele seiner Gemälde mit Darstellungen von Heiligen arbeitete er symbolische Bezüge ein, die seinen eigenen Überzeugungen verpflichtet und alles andere als christlich waren – und streckte damit unterschwellig der Kirche die Zunge heraus. In der National Gallery in London hatte Langdon einmal einen Vortrag gehalten mit dem Titel »Das geheime Leben Leonardos – heidnische Symbolik in der christlichen Kunst«.
»Ich verstehe Ihre Vorbehalte«, sagte Langdon nun zu Fache, »aber da Vinci hat nie die schwarze Kunst praktiziert. Er war ein ungewöhnlich spiritueller Mensch, auch wenn er sich im Dauerkonflikt mit der katholischen Kirche befand, und … « Langdon hielt inne. Ihm schoss ein gewagter Gedanke durch den Kopf. Er betrachtete die Botschaft auf dem Boden. O, Draconian devil! Oh, lame saint!
»Und weiter?«, sagte Fache auffordernd.
Langdon wog seine Worte sorgfältig ab. »Mir ist soeben durch den Kopf gegangen, dass Saunière eine Reihe der spirituellen Überzeugungen da Vincis geteilt hat, darunter auch dessen Zorn über die Unterdrückung der Vorstellung vom göttlich Weiblichen durch die Kirche. Indem er da Vincis berühmte Zeichnung nachahmte, wollte Saunière vielleicht nur die gemeinsame Besorgnis über die Dämonisierung der Göttinnen im modernen kirchlichen Religionsverständnis anklingen lassen.«
Faches Blick wurde hart. »Sie meinen, Saunière nennt die Kirche einen lahmen Heiligen und einen drakonischen Teufel?«
Langdon musste zugeben, dass der Gedanke weit hergeholt war; dennoch schien das Pentagramm ihn auf gewisse Weise zu stützen. »Ich möchte lediglich sagen, dass Monsieur Saunière sein Leben der Erforschung der Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttinnen gewidmet hat, die von niemandem rücksichtsloser unterdrückt wurden als von der katholischen Kirche. Es ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass Saunière seinem Bedauern darüber in seiner … Abschiedsbotschaft Ausdruck verleihen wollte.«
»Bedauern?«, meinte Fache. Sein Tonfall war ablehnend geworden. »Diese Botschaft sieht für mich viel mehr nach Zorn als nach Bedauern aus. Meinen Sie nicht auch?«
Langdon war allmählich am Ende seines Geduldsfadens angelangt. »Capitaine, Sie haben mich gefragt, wie ich Saunières Tun einschätze, und das habe ich Ihnen gesagt.«
Faches Miene wurde hart. »Sie wollen mir erzählen, dass wir hier eine Anklage gegen die katholische Kirche vor uns haben?« Er schüttelte den Kopf. »Mr Langdon, ich habe in meinem Berufsleben schon viele Tote gesehen. Wenn jemand ermordet wird, schreibt er als letzte Botschaft keine verquasten spirituellen Weisheiten nieder, die sowieso keiner versteht, das können Sie mir glauben. In dieser Situation denkt man nur an eines.« Fache spie das Wort hervor: »An Rache. Meiner Meinung nach wollte Saunière uns mitteilen, wer ihn umgebracht hat.«
Langdon schaute ihn betroffen an. »Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Nein?«
»Nein!«, gab Langdon scharf zurück. Er war die ganze Sache leid. »Sie haben mir doch gesagt, dass Saunière in seinem Büro von jemand angegriffen worden ist, den er offensichtlich bereitwillig eingelassen hatte.«
»Das stimmt.«
»Man darf also davon ausgehen, dass er seinen Mörder gekannt hat.«
Fache nickte. »Weiter.«
»Wenn Saunière wusste, wer sein Mörder war, was soll dann dieses Geschreibsel?« Langdon zeigte auf den Boden. »Ein Zahlencode? Ein lahmer Heiliger? Ein drakonischer Teufel? Was soll das? Das ist doch alles viel zu umständlich.«
Fache Legte nachdenklich die Stirn in Falten, als wäre ihm diese Idee noch gar nicht gekommen. »Da ist was dran«, räumte er ein.
»Wenn Saunière vorhatte, seinen Mörder zu nennen, müsste man in Anbetracht der Umstände doch erwarten, dass er dessen Namen niedergeschrieben hätte«, sagte Langdon.
Zum ersten Mal in dieser Nacht glitt ein Lächeln über Faches Züge – ein selbstgefälliges Lächeln. »Precisement«, sagte er. »Precisement.«
Du bist Zeuge einer Meisterleistung, ging es Leutnant Collet durch den Kopf, während er Capitaine Faches Stimme im Kopfhörer verfolgte. Der agent supérieur wusste, dass der Capitaine durch Tricks wie diese an die Spitze der französischen Strafverfolgungsbehörden gelangt war.
Was Fache fertig bringt, schafft sonst keiner.
Die Kunst des cajoler – aufs Glatteis führen – war in der modernen Verbrechensbekämpfung ziemlich verloren gegangen. Es war eine Kunst, bei der man unter hohem psychischem Druck gleichzeitig ein außerordentliches Fingerspitzengefühl an den Tag legen musste. Nur wenige besaßen die Nerven, die man für dieses Vorgehen braucht, aber Fache schien geradezu dafür geboren. Seine Selbstbeherrschung und Geduld schienen menschliche Maßstäbe zu sprengen.
Bedingungslose Entschlossenheit schien Faches einzige Gefühlsregung zu sein. In dieser Nacht schien er der Verhaftung des Täters eine große persönliche Bedeutung beizumessen. Die Einweisung seiner Beamten in ihre Aufgaben in der Stunde zuvor war ungewöhnlich knapp und klar gewesen. Ich weiß, wer Jacques Saunières Mörder ist, hatte Fache verkündet. Sie kennen Ihre Aufgaben. Und dass mir heute Nacht keiner einen Fehler macht!
Und bis jetzt war alles tadellos gelaufen.
Collet wusste bislang noch nichts von dem Beweis, der Fache zu der felsenfesten Überzeugung gebracht hatte, den Schuldigen gefunden zu haben, doch Collet würde sich hüten, den Instinkt des »Bullen« in Frage zu stellen. Manchmal schien Fache mit einer übernatürlichen Intuition gesegnet zu sein. Er lässt sich von Gott was ins Ohr flüstern, hatte ein Kollege es einmal nach einer besonders beeindruckenden Demonstration von Faches sechstem Sinn ausgedrückt. Falls es überhaupt einen Gott gab, stand Fache auf der Liste Seiner Günstlinge, musste Collet zugeben. Der Capitaine war ein eifriger Messgänger und beichtete regelmäßig; es war etwas ganz anderes als die feiertäglichen Pflichtübungen, die seine Amtskollegen der öffentlichen Meinung halber absolvierten. Als der Papst vor ein paar Jahren Paris besuchte, hatte Fache sämtliche Beziehungen spielen lassen, um die Ehre einer Audienz zu bekommen. In seinem Büro hing ein von seinen Beamten verstohlen als »päpstliche Bulle« bezeichnetes Foto dieser denkwürdigen Begegnung.
Collet betrachtete es als Ironie, dass eine der seltenen öffentlichen Stellungnahmen Faches in den letzten Jahren seine heftige Reaktion auf die ruchbar gewordenen Skandale im Hinblick auf Kindesmissbrauch in der katholischen Priesterschaft, gewesen war. »Diese Priester sollten zweimal aufgeknüpft werden«, hatte Fache erklärt, »einmal für ihr Vergehen an den unschuldigen Kindern und dann noch einmal, weil sie die katholische Kirche in Verruf gebracht haben.«
Irgendwie hatte Collet das Gefühl gehabt, dass Letzteres für Fache das weitaus größere Ärgernis war.
Collet wandte sich seinem Notebook zu, das an ein GPS-Ortungssystem anschlossen war. Collet hatte einen detaillierten Lageplan des Denon-Flügels auf dem Bildschirm, den er sich aus der Datenbank des Louvre-Sicherheitsdienstes heruntergeladen hatte. Sein Blick glitt über die Fluchten der Gänge und Galerien, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Tief im Herzen der Grande Galerie blinkte ein winziger roter Punkt.
La marque.
Fache hielt seinen Fang heute Nacht an sehr kurzer Leine, und das zu Recht. Robert Langdon hatte sich bisher als sehr gewiefter Kunde erwiesen.