18. KAPITEL

Während Fache noch die Grande Galerie hinunterstürmte, plärrte sein Funkgerät.

»Er ist gesprungen!«, rief Collet. »Ich bekomme das Signal nicht mehr aus der Toilette, sondern von draußen, von der Straße! Und es bewegt sich auch nicht mehr. Ich glaube, Langdon ist tot!«

Fache hörte es, lief aber trotzdem weiter. Die Gänge schienen kein Ende zu nehmen. Nachdem er an Saunières Leiche vorbeigerannt war, hielt er nach den Stellwänden am äußersten Ende des Denon-Flügels Ausschau. Das Alarmgeräusch wurde immer lauter.

»Warten Sie«, erklang Collets schrille Stimme wieder aus dem Gerät. »Er bewegt sich! Mein Gott, er lebt noch! Langdon bewegt sich!«

Fache rannte weiter. Mit jedem Schritt fluchte er lauter über die schier endlos langen Gänge.

»Jetzt bewegt er sich schneller!« Collet hing immer noch am Funkgerät. »Er rennt die Laumière hinunter … warten Sie! Was ist das? So schnell kann niemand laufen!«

Fache war an den Stellwänden angekommen. Er schlängelte sich dazwischen durch, sah die Toilettentür und stürmte darauf zu. Über dem Lärm der Alarmglocke war das Walkie-Talkie kaum zu vernehmen.

»Ja, natürlich, er sitzt in einem Auto! Ich kann nicht … «

Als Fache mit gezogener Waffe in die Toilette stürmte, ging Collets Stimme im durchdringenden Schrillen der Alarmglocke unter. Faches Blick huschte durch den Raum.

Leer.

Dann sah er das eingeschlagene Fenster am Ende des Vorraums. Fache rannte hin und schaute über den Sims. Nirgends eine Spur von Langdon. Fache konnte sich auch nicht vorstellen, dass jemand einen solchen Sprung riskiert hätte. Langdon hatte nach dem Sturz schwer verletzt unten auf dem Boden liegen müssen.

Endlich verstummte der Alarm. Collets Stimme aus dem Sprechfunkgerät war wieder zu hören.

» … bewegt sich nach Süden und überquert die Seine auf dem Pont du Carousel … «

Fache schaute nach links. Auf der Brücke befand sich nur ein einziges Fahrzeug, ein riesiger Sattelschlepper mit offener Ladefläche, der sich in südlicher Richtung vom Louvre entfernte. Über die Pritsche war eine große Plane gespannt. Das Ganze erinnerte ein bisschen an eine riesige Hängematte … Fache zuckte zusammen, als er plötzlich die Möglichkeit erkannte, dass Langdon auf die Plane gesprungen sein könnte. Der Laster hatte vermutlich noch vor ein paar Augenblicken direkt unter dem Toilettenfenster an der roten Ampel gestanden.

Eine verdammt riskante Sache, schoss es Fache durch den Kopf. Langdon konnte unmöglich wissen, was der LKW unter der Plane auf der Ladefläche transportierte. Was, wenn es Stahlplatten gewesen wären? Oder Steine? Oder auch nur Müll? Ein Sprung aus fünfzehn Metern Höhe! Fache konnte nur den Kopf schütteln. »Der Punkt ändert die Richtung«, meldete Collet. »Er biegt nach rechts ab in die Rue des Saints-Pères.«

Tatsächlich verlangsamte der Laster seine Fahrt, blinkte und bog rechts ab in die von Collet genannte Straße. Du kommst trotzdem nicht davon, Langdon, dachte Fache, als der LKW um die Ecke bog. Die um das Gebäude verteilten Beamten verließen auf Collets Alarm hin bereits ihre Posten und sprangen in die Funkstreifenwagen, um die Verfolgung des LKW aufzunehmen, während Collet laufend die Position des Flüchtigen durchgab wie bei einem Computerspiel.

Es ist vorbei. Fache wusste, dass seine Leute den LKW innerhalb von Minuten gestellt haben würden. Langdon kam nicht weit.

Fache steckte die Waffe weg und machte sich auf den Rückweg. Während er durch die Grande Galerie zurück eilte, rief er Collet über Funk. »Lassen Sie meinen Wagen vorfahren. Ich will bei der Verhaftung dabei sein. »Er fragte sich, oh Langdon den Sprung überhaupt überlebt hatte.

Nicht, dass es darauf noch angekommen wäre.

Langdon ist geflüchtet. Schuldig im Sinne der Anklage.

Keine fünf Meter von der Toilette entfernt standen Sophie und Langdon in der Dunkelheit der Grande Galerie und drückten sich an die Rückseite einer der Stellwände. Sie hatten sich gerade noch verstecken können, als Fache mit der Waffe in der Hand an ihnen vorbeigerannt und in der Toilette verschwunden war.

In den letzten neunzig Sekunden war alles sehr schnell gegangen.

Während Langdon noch zögerte, vor einem Verbrechen davonzulaufen, das er nicht begangen hatte, hatte Sophie zuerst das Fensterglas mit den Alarmdrähten inspiziert und dann die Entfernung zur Fahrbahn hinunter abgeschätzt.

»Wenn wir gut Maß nehmen, kriegen wir Sie hier raus«, hatte sie gesagt.

Maß nehmen? Unbehaglich war Langdon ihrem Blick gefolgt. Ein riesiger Sattelschlepper mit Pritschenauflieger näherte sich der roten Ampel unter dem Fenster. Die Ladefläche war mit einer großen Plane zugedeckt.

»Wenn Sie glauben, Sophie, dass ich da runter … «

»Holen Sie den Minisender aus der Tasche.«

Neugierig geworden, fummelte Langdon den Metallknopf aus seinem Jackett heraus. Sophie nahm ihm den Sender ab, ging zum Waschbecken, drückte den Knopf mit dem Daumen tief in ein feuchtes Stück Seife und schmierte das Loch wieder zu.

Sie drückte Langdon die Seife in die Hand; dann zerrte sie unter dem Waschbecken den schweren zylindrischen Edelstahlbehälter für die gebrauchten Handtücher hervor. Bevor Langdon Einspruch erheben konnte, hielt Sophie den Behälter wie einen Rammbock vor sich und stürmte auf das Fenster los. Der Boden des Behälters krachte mitten in die Scheibe. Glas splitterte und flog hinaus in die Dunkelheit.

Das ohrenbetäubende Schrillen einer Alarmglocke erklang direkt über ihren Köpfen.

»Geben Sie mir die Seife!«, rief Sophie, die den Lärm kaum zu übertönen vermochte. Langdon drückte ihr den Seifenquader in die Hand.

Sophie spähte zum wartenden Sattelschlepper hinunter, der keine vier Meter vom Gebäude entfernt vor der Ampel stand. Die Plane stellte ein angenehm großes ruhendes Ziel dar. Sophie holte tief Luft und warf das Seifenstück hinaus in die Nacht.

Als die Ampel auf Grün sprang und der LKW anfuhr, glitt das Stück Seife der Neigung folgend über die Plane und bis auf den Grund der Mulde in der Mitte der Ladefläche.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Sophie und zerrte Langdon zur Tür. »Sie sind soeben aus dem Louvre geflohen!«

Sie hatten sich gerade noch hinter die Stellwände flüchten können, bevor ein von der Anstrengung des schnellen Laufens keuchender Fache auch schon auf der Bildfläche erschien.


Als der Feueralarm endlich verstummte, konnte Langdon die Martinshörner hören, die sich vom Louvre entfernten. Ein Exodus der Polizei. Fache war den Gang hinuntergestürmt und verschwunden. Die Grande Galerie war verlassen.

»Hier kommt nach fünfzig Metern ein Notausgang mit Treppenhaus«, sagte Sophie. »Die Wachposten haben sich verzogen. Lassen Sie uns verschwinden.«

Langdon beschloss, von nun an lieber den Mund zu halten.

Sophie Neveu war eindeutig cleverer als er.

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