44. KAPITEL

»Zehn Stellen«, sagte Sophie und studierte die Zahlenfolge auf dem Ausdruck. Ihr Herz schlug schneller.

13-3-2-21-1 -1-8-5

Großvater hat die Depotnummer einfach im Louvre auf den Boden geschrieben!

Als Sophie die Fibonacci-Folge auf dem Parkett gesehen hatte, war sie anfangs zunächst davon ausgegangen, dass die Zahlen lediglich dazu dienen sollten, die Dechiffrierabteilung des DCPJ und damit sie selbst auf den Plan zu rufen. Dann hatte sich gezeigt, dass die Zahlen die Anweisung für die Entzifferung der anderen Zeilen enthielten – eine Sequenz mit gestörter Reihenfolge … ein numerisches Anagramm. Und nun stellte sich zu ihrer Verwunderung heraus, dass die Zahlenfolge noch eine weitere und extrem wichtige Bedeutung hatte. Die Zahlen lieferten so gut wie sicher den entscheidenden Schlüssel, um an die geheimnisvolle Schließfachbox des Großvaters zu kommen.

»Er war ein Meister des Spiels mit doppeltem Boden«, sagte Sophie zu Langdon. »Wenn ein Code sich über den anderen schichten ließ, war er begeistert. Eine Verschlüsselung der Verschlüsselung.«

Langdon war schon auf dem Weg zur elektronischen Konsole neben dem Transportband. Sophie schnappte sich den Computerausdruck und eilte ihm nach.

Auf der Konsole befand sich ein Tastenfeld wie bei einem Geldautomaten. Das Firmenzeichen der Bank, das Schweizer Kreuz, erstrahlte auf dem Bildschirm. Neben dem Tastenfeld befand sich das dreieckige Schlüsselloch, in das Sophie unverzüglich den Schlüssel steckte.

Sofort wechselte die Anzeige auf dem Bildschirm.

IHRE DEPOTNUMMER: ------------------

Auffordernd blinkte der Cursor.

Zehn Stellen. Sophie las die Zahlen vom Ausdruck ab, Langdon tippte sie ein.

IHRE DEPOTNUMMER: 1 3 3 2 2 1 1 1 8 5

Nach Eingabe der letzten Ziffer wechselte die Anzeige erneut. Eine mehrsprachige Anweisung erschien.

VORSICHT Vor Betätigen der Enter-Taste sollten Sie unbedingt die von Ihnen eingegebene Depotnummer noch einmal sorgfältig auf ihre Richtigkeit prüfen. Wenn der Computer die richtige Nummer nicht erkennt, wird der Vorgang zu Ihrer eigenen Sicherheit endgültig abgebrochen.

»K.O.-System«, sagte Sophie und runzelte die Stirn. »Sieht ganz danach aus, dass man uns nur einen Versuch gönnt.« Gewöhnliche Geldautomaten ließen dem Benutzer immerhin drei Versuche, bevor sie die Scheckkarte einzogen. Aber ein gewöhnlicher Geldautomat war das hier gewiss nicht.

Langdon verglich die Zahl noch einmal eingehend mit dem Computerausdruck. »Die Zahl ist in Ordnung«, meinte er dann und deutete auf die ENTER-Taste. »Dann mal los!«

Sophie hatte schon den Finger ausgestreckt, um die Taste zu drücken, als sie zögerte.

»Nun machen Sie schon«, drängte Langdon. »Vernet wird gleich wieder hier sein.«

»Nein.« Sie zog die Hand zurück. »Das ist nicht die richtige Nummer.«

»Natürlich ist es die richtige Nummer! Zehn Stellen – was wollen Sie noch?«

»Die Nummer ist zu beliebig.«

Zu beliebig! Langdon stutzte. Jede Bank forderte ihre Kunden auf, sich möglichst beliebige Pin-Nummern auszudenken, damit niemand sie erraten konnte. Und für die Kunden dieser Bank galt das erst recht.

Sophie löschte die gesamte Eingabe und blickte Langdon selbstsicher an. »Dass diese angeblich beliebige Depotnummer sich als Fibonacci-Folge ordnen lässt, ist alles andere als Zufall.«

Langdon musste gestehen, dass Sophie nicht ganz Unrecht hatte. Zuvor hatte sie aus der Zahlenfolge durch Umstellen die Fibonacci-Folge konstruiert. War das Zufall gewesen?

Sophie tippte schon wieder aufs Tastenfeld. Wie aus dem Gedächtnis gab sie eine neue Nummer ein. »Außerdem scheint es mir bei der Begeisterung meines Großvaters für symbolische Bedeutungen und Codes auf der Hand zu liegen, dass er sich eine Zahl ausgesucht hat, die für ihn etwas bedeutet und deshalb leicht einzuprägen ist.« Sie tippte weiter. »Eine Ziffernfolge, die beliebig aussieht, es aber nicht ist.«

Langdon betrachtete die Zahl auf dem Bildschirm.

IHRE DEPOTNUMMER: 1 1 2 3 5 8 1 3 2 1

Es dauerte einen kleinen Moment, dann hatte er begriffen. Sophie hatte Recht.

Die Fibonacci-Folge.

1-1-2-3-5-8-13-21

Wenn man die Fibonacci-Folge als zehnstellige Ziffer niederschrieb, war sie mit einem Mal nicht mehr als solche zu erkennen leicht einzuprägen und dennoch scheinbar völlig beliebig. Es war eine zehnstellige geheime Depotnummer, die Saunière niemals entfallen konnte. Außerdem war jetzt klar, weshalb sich aus den Zahlen, die Saunière auf das Parkett des Louvre gekritzelt hatte, die berühmte Fibonacci-Folge herstellen ließ.

Sophie legte den Finger auf die ENTER-Taste und drückte.

Nichts geschah.

Jedenfalls nichts, das sie und Langdon unmittelbar hätten bemerken können.


Tief im geräumigen unterirdischen Tresor der Bank erwachte ein Transport-Roboter zum Leben. Der nach sämtlichen Richtungen beweglich an einer Laufkatze unter der Decke montierte Greifarm machte sich auf die Suche, wobei er die angegebenen Koordinaten berücksichtigte. Auf dem Betonboden unter dem Roboter waren Hunderte identischer Kunststoffbehälter wie auf einem gigantischen Schachbrett angeordnet; sie sahen wie kleine Särge in einer Gruft aus.

Summend kam der Greifer über dem angegebenen Punkt zum Stehen und bewegte sich nach unten. Nachdem sein elektronisches Auge den Strichcode auf der Tresorbox überprüft hatte, hakte sich die Hakenlaue in die massive Haltevorrichtung der Box und hob sie an. Die Laufkatze schaltete sich ein und fuhr den Greifer samt Box zum anderen Ende des Tresorbunkers, wo sie über dem Transportband innehielt.

Behutsam setzte der Greifer seine Last ab. Nachdem er wieder in Ruhestellung gegangen war, fuhr das Transportband surrend an.

Als Sophie und Langdon ein paar Etagen höher beobachteten, wie das Transportband sich in Bewegung setzte, atmeten sie erleichtert auf. Sie kamen sich vor, als hätte man sie an die Gepäckausgabe eines Flughafens bestellt, um dort auf einen mysteriösen Koffer mit geheimnisvollem Inhalt zu warten.

Rechts von der Konsole trat das Ende des Transportbands durch einen schmalen Schlitz in den Raum. Die kleine Schiebetür darüber fuhr hoch und spie einen bulligen Behälter aus schwarzen Kunststoffschalen aus. Sophie hatte ihn sich bei weitem nicht so groß vorgestellt. Er ähnelte einem Lufttransportbehälter für größere Hunde, nur ohne Luftlöcher. Gespannt starrten Sophie und Langdon auf die rätselhafte Kiste, die mit einem sanften Ruck vor ihnen zum Stillstand kam.

Wie alles in dieser Bank wirkte auch dieser Kasten irgendwie fabrikmäßig – aufgenietete Metallbeschläge, obenauf ein großer Aufkleber mit einem Strichcode, zwei kräftige Schalengriffe. Für Sophie sah er wie ein Werkzeugkasten aus.

Sie griff unverzüglich nach den beiden Schlossbügeln und hakte sie auf. Gemeinsam mit Langdon klappte sie den schweren Deckel auf, trat einen Schritt vor und lugte in den Bauch der Plastikkiste.

Auf den ersten Blick wirkte der Behälter leer. Dann erspähte Sophie etwas auf dem Grund. Einen einzigen Gegenstand.

Es war ein glänzendes Holzkästchen mit ziselierten Scharnieren. Das kräftig gemaserte Holz schimmerte satt in einem tiefen Violett. Rosenholz, dachte Sophie, Großvaters Lieblingsholz. Auf dem Deckel prangte eine kunstvolle Einlegearbeit, eine Rose. Sophie und Langdon sahen einander erwartungsvoll an. Sophie beugte sich vor, griff nach dem Kästchen und hob es heraus.

Ist das schwer!

Sie trug ihre Beute vorsichtig zum Tisch und setzte sie ab. Langdon trat zu ihr. Sie betrachteten das Schatzkästchen, zu dessen Bergung Sophies Großvater sie offensichtlich hierher gelotst hatte.

Langdon bewunderte die Einlegearbeit im Deckel. Er hatte diese Art von Rosen schon oft gesehen. »Eine fünfblättrige Rose«, murmelte er. »Die Prieuré verwendet sie als Symbol für den Heiligen Gral.«

Sophie schaute ihn an. Langdon konnte ihr deutlich ansehen, was sie dachte; er selbst dachte es auch. Die Abmessungen des Kästchens, der gewichtige Inhalt und das Gralssymbol der Prieuré – alles deutete in dieselbe unglaubliche Richtung. In dieser Schatulle befindet sich der Abendmahlskelch Christi. Andererseits war Langdon sich bewusst, wie absurd diese Erwartung war.

»Die Größe würde passen«, flüsterte Sophie. Sie zog das Kästchen zu sich heran, um es zu öffnen, doch etwas Unerwartetes geschah.

Aus der Schatulle drang leise ein merkwürdiges Gluckern.

Langdon war verblüfft. Da drin ist etwas Flüssiges?

Sophie war nicht minder verwirrt. »Haben Sie das gehört …?« Vorsichtig löste sie die Verschlussklammer und hob den Deckel.

Der Gegenstand, der zum Vorschein kam, war mit nichts zu vergleichen, das Langdon je zuvor gesehen hatte.

Eines jedoch war auf den ersten Blick vollkommen klar.

Der Abendmahlskelch Christi war es nicht.

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