33. KAPITEL

An Botschaften und Konsulaten vorbei jagte Sophie mit dem Smart durchs Diplomatenviertel. Schließlich gelangte sie auf eine Querstraße, von der sie nach rechts in die große Hauptachse der Champs-Elysees einbiegen konnte.

Langdon drückte sich in den Beifahrersitz. Er hielt sich so krampfhaft fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und wünschte sich sehnlichst, nicht geflüchtet zu sein.

Du bist ja nicht geflüchtet, beruhigte er sich. Sophie hat dir die Entscheidung abgenommen. Sie hat den Minisender zum Toilettenfenster hinausgeworfen.

Während die Entfernung von der amerikanischen Botschaft stetig wuchs und Sophie im spärlichen nächtlichen Verkehr im Zickzackkurs über die Champs-Elysees jagte, spürte Langdon seine Felle weiter davonschwimmen. Sophie hatte zwar die Polizei abgehängt, doch Langdon bezweifelte, dass ihr Glück von langer Dauer war.

Sophie lenkte mit einer Hand, während sie mit der anderen in ihrer Pullovertasche wühlte. Schließlich zog sie einen kleinen Gegenstand ans Metall heraus und hielt ihn Langdon hin. »Werfen Sie mal einen Blick darauf, Robert. Das hat mein Großvater mir hinter Leonardos Felsgrottenmadonna hinterlassen.«

Gespannt nahm Langdon den schweren kreuzförmigen Gegenstand in die Hand. Er betrachtete prüfend den prismenförmigen Schaft am Kreuz, der mit Hunderten winziger Sechsecke übersät war, die mit einem Präzisionswerkzeug in zufälliger Folge hineingeprägt worden zu sein schienen.

»Das ist ein lasergefertigter Schlüssel«, erläuterte Sophie. »Diese Sechsecke werden von einem elektronischen Auge abgetastet.«

Ein Schlüssel? Langdon hatte so etwas noch nie gesehen.

»Schauen Sie sich mal die andere Seite an«, sagte Sophie und wechselte mitten auf einer Kreuzung geschickt die Spur.

Als Langdon den Schlüssel herumdrehte, riss er vor Überraschung die Augen auf. Säuberlich in die Mitte der Kreuzbalken eingraviert, befand sich eine stilisierte Lilie mit den Initialen P.S.

»Sophie«, stieß er hervor, »das ist das Emblem, von dem ich Ihnen erzählt habe! Das offizielle Emblem der Prieuré de Sion

Sophie nickte. »Wie gesagt, ich habe den Schlüssel vor langer Zeit schon einmal gesehen. Mein Großvater hat damals von mir verlangt, nie wieder von diesem Schlüssel zu reden.«

Langdon konnte den Blick nicht von dem gravierten Schlüssel wenden. In seiner High-Tech-Funktionsweise und seinem uralten Symbolgehalt vermischten sich auf gespenstische Weise die Welten der Vorzeit und der Moderne.

»Mein Großvater sagte damals, der Schlüssel gehöre zu einer Kiste, in der er seine Geheimnisse hüte.«

Langdon versuchte vergeblich, sich vorzustellen, welche Geheimnisse Jacques Saunière hüten mochte. Was eine uralte Bruderschaft mit einem futuristischen Schlüssel im Sinn hatte, war ihm ein ebensolches Rätsel. Die Prieuré existierte einzig zu dem Zweck, ein Geheimnis zu hüten – ein Geheimnis, das seinem Hüter ungeheure Macht verlieh. Könnte es sein, dass der Schüssel etwas damit zu tun hat? Was für eine atemberaubende Vorstellung.

»Wissen Sie, wozu dieser Schlüssel dient?«

Sophie schaute ihn an. »Ich dachte, das wüssten Sie.«

Langdon erwiderte nichts. Versonnen drehte er den kreuzförmigen Gegenstand in seinen Händen.

»Könnte der Schlüssel ein christliches Symbol sein?«, versuchte Sophie ihm auf die Sprünge zu helfen.

Langdon war sich keineswegs sicher. Der Griff des Schlüssels besaß nicht die traditionelle christliche Kreuzform mit dem langen und dem kurzen Balken, sondern wies vier gleich lange Balken auf – eine Form, die anderthalb Jahrtausende älter war als das Christentum. Solche Kreuze besaßen nicht den christlichen Symbolgehalt der Kreuzigung wie das lateinische Kreuz mit dem langen unteren Balken, das die Römer als Folterinstrument erfunden hatten. Langdon wunderte sich immer, dass Christen, wenn sie ein Kreuz betrachteten, in den seltensten Fällen wussten, dass schon der Name dieses zentralen christlichen Symbols seine Gewaltsamkeit widerspiegelte. Das Wort »Kreuz« leitete sich vom lateinischen »cruciare« ab, was nichts anderes als »quälen« oder »foltern« bedeutete.

»Ich kann Ihnen lediglich sagen, Sophie, dass solche Kreuze mit gleich langen Balken friedliche Symbole sind. Allein schon wegen ihrer quadratischen Form wären sie für Kreuzigungszwecke … nun, unpraktisch. Die Ausgeglichenheit der senkrechten und waagerechten Komponenten bezeichnet das natürliche Einssein von männlich und weiblich, wodurch ihr Symbolgehalt bestens zur Weltanschauung der Prieuré passt.«

Sophie blickte ihn müde an. »Einen anderen Reim können Sie sich nicht darauf machen?«

Langdon zuckte die Schultern. »Absolut nicht.«

»Okay, wir müssen langsam von der Straße verschwinden«, sagte Sophie und schaute in den Rückspiegel. »Wir müssen irgendwo unterkriechen und uns in aller Ruhe überlegen, wofür dieser Schlüssel ist.«

Langdon dachte sehnsüchtig an sein Zimmer im Ritz, das aus nahe liegenden Gründen aber nicht in Frage kam. »Wie wär's mit meinen Gastgebern an der amerikanischen Universität von Paris?«

»Zu offensichtlich. Sie werden bestimmt schon von Fache überwacht.«

»Sie müssen doch irgend jemanden kennen, Sophie. Sie leben hier.«

»Fache wird sämtliche Nummern aus meinem Telefon- und E-Mail-Verzeichnis abklappern und meine Verbindungen kappen. Und in ein Hotel können wir auch nicht, weil man sich dort ausweisen muss.«

Langdon fragte sich zum wiederholten Mal, ob es nicht besser gewesen wäre, sich von Fache im Louvre verhaften zu lassen. »Lassen Sie mich die Botschaft anrufen. Ich werde die Situation darlegen und darum bitten, dass man jemanden schickt, der uns irgendwo abholt.«

»Uns abholen?« Sophie blickte ihn entgeistert an, als wäre er plötzlich übergeschnappt. »Ihre Botschaft hat außerhalb ihres eigenen Territoriums keinerlei Befugnisse, Robert. Wenn sie uns jemand schicken, um uns abzuholen, würden sie sich der Beihilfe zur Flucht vor der französischen Justiz schuldig machen. Das ist völlig ausgeschlossen. Wenn Sie in Ihre Botschaft hineinmarschieren und um vorübergehendes Asyl bitten, ist das eine Sache, aber was Sie sich da ausmalen, wäre Behinderung der französischen Strafverfolgungsbehörden.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie Ihre Botschaft jetzt anrufen, wird man Ihnen raten, die Sache nicht noch schlimmer zu machen und sich unverzüglich der Polizei zu stellen. Man wird Ihnen bestenfalls versprechen, alle diplomatischen Hebel in Bewegung zu setzen, damit Sie einen fairen Prozess bekommen.« Sophie schaute die eleganten Läden an der Champs-Elysees entlang. »Wie viel Bargeld haben Sie dabei?«

Langdon sah in seine Brieftasche. »Ein paar Hundert Dollar und ein paar Euro. Warum?«

»Kreditkarten?«

»Ja.«

Sophie trat wieder aufs Gas. Unmittelbar vor ihnen erhob sich am Ende der Champs-Elysees der Arc de Triomphe, Napoleons fünfzig Meter hohe Reverenz an sein eigenes militärisches Genie, umgeben vom größten Kreisverkehr Frankreichs, einem Straßenmoloch mit neun Fahrspuren, dem sie sich nun näherten. Sophie blickte wieder in den Rückspiegel. »Vorerst haben wir die Polizei abgehängt«, sagte sie, »aber das kann sich schon in den nächsten Minuten ändern, wenn wir dieses Auto nicht loswerden.«

Dann klauen wir eben ein anderes, sagte sich Langdon. Jetzt sind wir ohnehin Gesetzesbrecher. »Was haben Sie vor?«

Sophie jagte den Smart durch den Kreisverkehr. »Lassen Sie mich nur machen.«

Langdon erwiderte nichts. Sophie »machen zu lassen«, hatte ihn heute Nacht nicht allzu weit gebracht. Er streifte den Ärmel ein wenig zurück und sah auf die Uhr – ein altes Sammlerstück, eine Mickymaus-Uhr, die er zu seinem zehnten Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Auch wenn er mit dem albernen Zifferblatt öfters verwunderte Blicke auf sich zog, hatte er nie eine andere Uhr besessen. Zeichentrickfilme von Walt Disney waren seine erste Begegnung mit der Magie von Form und Farbe gewesen. Die Mickymaus lieferte ihm täglich den Anreiz, im Herzen jung zu bleiben. Im Moment allerdings befanden sich die Arme der ulkigen Filmmaus – zugleich die Zeiger der Uhr – in einer ungewöhnlichen Stellung, womit sie eine ziemlich ungewohnte Stunde anzeigten.

2.51 Uhr.

»Interessantes Stück«, sagte Sophie mit einem Seitenblick auf Langdons Handgelenk, während sie den Smart rechtsherum durch das weite Rund des Kreisverkehrs lenkte.

»Mit einer langen Geschichte«, meinte Langdon einsilbig und zog den Ärmel wieder herunter.

»Scheint mir auch so.« Sophie ließ ein Lächeln aufblitzen. Sie bog in nördlicher Richtung vom Kreisel ab, schaffte gerade noch zwei Ampeln und schwenkte an der dritten Kreuzung scharf rechts in den Boulevard Malesherbes. Sie waren nun aus dem Diplomatenviertel mit seinen gut ausgebauten dreispurigen Straßen heraus und fuhren durch ein ziemlich düsteres Industrieviertel. Als Sophie unvermutet nach rechts abbog, wusste Langdon auf einmal wieder, wo sie waren.

Am Bahnhof Saint-Lazare.

Vor ihnen erhob sich ein merkwürdiges Gebilde, das aussah wie eine Mischung aus Flugzeughangar und Gewächshaus. Europäische Bahnhöfe kannten keinen Feierabend. Selbst zu dieser Stunde stand ein halbes Dutzend Taxis mit im Leerlauf brummendem Dieselmotor vor dem Haupteingang. Fliegende Händler schoben ihre Verkaufswagen für belegte Brötchen und Mineralwasser durch die Gegend; abgerissene Halbwüchsige mit Rucksäcken kamen aus dem Bahnhof getrottet und rieben sich die Augen, als würden sie sich den Kopf zerbrechen, was das denn nun wieder für eine Stadt sei. Ein Stück weiter standen mehrere Polizisten am Bordstein und wiesen Japanern den Weg.

Obwohl es auf der anderen Straßeseite genügend offizielle Parkplätze gab, stellte Sophie sich hinter ein paar Taxis ins Halteverbot. Bevor Langdon fragen konnte, was sie vorhatte, war sie schon ausgestiegen und ging zu dem Taxi, das vor ihnen stand. Sie sprach den Fahrer durch die heruntergedrehte Seitenscheibe an.

Als auch Langdon ausstieg, sah er Sophie dem Fahrer ein dickes Bündel Banknoten aushändigen. Der Mann nickte. Zu Langdons Verwunderung gab er Gas und fuhr los – allein.

Langdon trat an Sophies Seite und sah dem Taxi nach. »Was sollte das denn?«, wollte er wissen.

Sophie war schon auf dem Weg zum Haupteingang des Bahnhofsgebäudes. »Kommen Sie. Wir besorgen uns zwei Fahrkarten für den nächsten Zug, der abfährt, egal wohin.«

Langdon eilte neben ihr her. Was als Spritztour zur amerikanischen Botschaft begonnen hatte, wuchs sich zu einer kopflosen Flucht aus Paris aus. Die Sache gefiel ihm immer weniger.

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