71. KAPITEL

Als die Hawker die Reiseflughöhe erreicht hatte und die Nase gen England richtete, stellte Langdon das Rosenholzkästchen, das er beim Start schützend auf dem Schoß gehalten hatte, vorsichtig auf den Kabinentisch. Sophie und Teabing beugten sich erwartungsvoll vor.

Langdon entriegelte den Deckel und klappte ihn auf. Seine Aufmerksamkeit galt nicht dem Kryptex mit seinen buchstabenbedeckten Einstellscheiben, sondern dem kleinen Loch in der Innenseite des Deckels, in das er vorsichtig mit der Spitze eines Kugelschreibers hineinfuhr.

Die Rose löste sich vom Deckel und gab den darunter liegenden Text frei. Sub rosa. Langdon hoffte, dass ein neuerlicher Blick auf diesen Text die erhoffte Klarheit brachte. Konzentriert betrachtete er die vier eigenartigen Zeilen.

»Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich damit anfangen soll«, sagte er nach einigen Sekunden enttäuscht.

Sophie konnte von ihrem Platz aus den Text nicht sehen, aber dass Langdon nicht in der Lage war, das Idiom zu erkennen, überraschte sie. Großvater hat eine alte Sprache beherrscht, die sogar einem Symbolologen Rätsel aufgibt?

Teabing, der Sophie gegenübersaß, konnte kaum noch an sich halten. Gespannt versuchte er, an Langdon vorbei einen Blick auf den Text zu werfen.

»Ich weiß nicht«, murmelte Langdon, »meine erste Vermutung wäre, dass es sich um eine semitische Schrift handelt, aber das passt irgendwie nicht, weil die nekkudot fehlen, die man bei fast allen primären semitischen Schriften findet.«

»Vielleicht ist die Schrift sehr alt«, meinte Teabing.

»Was sind nekkudot?«, fragte Sophie.

Teabing nahm den Blick nicht vom Kästchen. »In den meisten modernen semitischen Alphabeten gibt es anstelle der Vokale so genannte nekkudot – kleine Punkte und Häkchen unterhalb oder innerhalb der Konsonanten, die den Vokalwert angeben, der den Konsonanten begleitet. Nekkudot sind historisch gesehen ein relativ junger Schriftzusatz.«

Langdon war immer noch über die Inschrift gebeugt »Es konnte vielleicht eine sephardische Transliteration sein … «

Teabing konnte nicht mehr an sich halten. »Vielleicht darf ich mal … « Er griff über den Tisch und zog das Kästchen zu sich heran. Mit einer Mischung aus Staunen, Ehrfurcht und unstillbarer Neugier wanderte sein Blick über die eingravierten Zeilen. Dann schüttelte er resigniert den Kopf. »Ich bin ebenfalls überfragt. Eine solche Schrift ist mir noch nie unter die Augen gekommen.«

»Darf ich mal sehen?«, fragte Sophie.

Teabing tat, als hatte er sie nicht gehört. »Robert«, wandte er sich an Langdon, »sagten Sie vorhin nicht, Sie hätten etwas Ähnliches schon einmal gesehen?«

»Ja, es kam mir so vor, aber ich bin nicht sicher. Irgendwie erinnert mich die Schrift an etwas … «

»Sir Leigh«, meldete Sophie sich erneut zu Wort, sichtlich verärgert, einfach übergangen zu werden. »Dürfte ich auch mal einen Blick auf die Zeilen werfen?«

»Aber gewiss, meine Liebe«, sagte Teabing und schob ihr den Kasten hin, ohne ihr einen Blick zu gönnen, als wolle er damit andeuten, dass Sophie Lichtjahre an Kompetenz und Wissen fehlten. Wenn nicht einmal ein Historiker der britischen Royal Society und ein Harvard-Professor die Sprache des Vierzeilers identifizieren konnten …

»Aha«, sagte Sophie, nachdem sie einen kurzen Blick auf die Inschrift geworfen hatte. »Das dachte ich mir gleich.«

Teabing und Langdon blickten sie mir großen Augen an. »Was dachten Sie sich gleich?«, fragte Teabing. »Dass mein Großvater diese Schrift und diese Sprache benutzt hat.«

»Wollen Sie etwa behaupten, Sie könnten das lesen?« »Mühelos«, sagte Sophie, die diese Situation sichtlich genoss, mit fröhlichem Lächeln. »Mein Großvater hat mich diese Schrift gelehrt, als ich noch keine sechs Jahre alt war. Ich kann sie vorwärts und rückwärts.« Sie lächelte Teabing an. »Ehrlich gesagt, Sir Leigh, hätte ich mehr von Ihnen erwartet. Ein Mann, der mit der Royal Society auf so vertrautem Fuß steht wie Sie … ich bin überrascht, dass Sie nicht von allein auf die Lösung gekommen sind.« Plötzlich fiel es Langdon wie Schuppen von den Augen. Kein Wunder, dass diese Schrift ihm so merkwürdig vertraut vorkam! Einige Jahre zuvor hatte er eine Veranstaltung im Fogg Museum von Harvard besucht. Der Studienabbrecher Bill Gates war an seine alte Alma Mater zurückgekehrt, um dem Museum eine seiner unschätzbaren Erwerbungen als Leihgabe zu überlassen – achtzehn Blätter, die er auf einer Auktion aus den Beständen von Armand Hammer erworben hatte.

Sein Gebot, das ihm den Zuschlag gebracht hatte, belief sich auf 30,8 Millionen Dollar.

Der Autor des Manuskripts war Leonardo da Vinci.

Die achtzehn Blätter, die nach ihrem Besitzer, dem Earl von Leicester, unter der Bezeichnung Codex Leicester bekannt sind, waren der Rest eines der faszinierendsten Werkbücher des Künstlers, das Anmerkungen und Zeichnungen seiner überaus fortschrittlichen Überlegungen zur Astronomie, Geologie, Archäologie und Hydrologie enthielt.

Doch die Blätter waren nicht ohne weiteres zu entziffern. Sie waren zwar tadellos erhalten und trugen eine saubere und klare Handschrift in karmesinroter Tinte auf cremefarbenem Papier, doch es sah wie sinnloses Geschreibsel aus. Wer hoffte, auch nur ein einziges italienisches Wort entziffern zu können, sah sich enttäuscht.

Des Rätsels Lösung bestand darin, dass da Vinci eine Spiegelschrift beherrscht hatte, die für den normalen Betrachter unleserlich war. Die Gelehrten diskutierten noch immer darüber, ob da Vinci diese Schrift lediglich zum eigenen Vergnügen benutzt hatte oder weil er verhindern wollte, dass Jemand seine Ideen stahl.

»Ich habe die erste Zeile schon entziffert«, sagte Sophie. »Der Text ist englisch.«

»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!«, stieß Teabing unwirsch hervor.

»Spiegelschrift«, sagte Langdon knapp. »Wir brauchen einen Handspiegel.«

»Nein, den brauchen wir nicht«, sagte Sophie. »Dieses Furnier dürfte dünn genug sein.« Sie hielt den Deckel des Rosenholzkästchens vor einen Punktstrahler, der in die Wandverkleidung eingelassen war, und betrachtete die Innenseite. Jacques Saunière hatte nicht in Spiegelschrift schreiben können. Er hatte stets gemogelt, indem er die Unterseite des Papiers in Normalschrift beschrieben, das Blatt umgedreht und den durchscheinenden Text auf der anderen Seite nachgezeichnet hatte. Sophie vermutete, dass er die vier Zeilen in ein Brettchen eingebrannt und es dann so lange dünn geschliffen hatte, bis die eingebrannten Zeilen sich durchs Holz hindurch schwarz abzeichneten. Dann hatte er das Brettchen einfach umgedreht, zugeschnitten, die Schrift nachgezogen und in die Vertiefung eingelegt.

Sophie hielt den Deckel noch näher ans Licht. Sie hatte sich nicht getäuscht. Im hellen Licht des Strahlers, das durchs papierdünne Holz drang, erschien der Text klar und deutlich in normaler Schrift auf der Innenseite des Deckels.

»Englisch!«, stieß Teabing hervor. »Meine Muttersprache!«


Rémy Legaludec, der Butler, spitzte die Ohren, um im Heck der Kabine trotz des Lärms der Triebwerke etwas vom Gespräch im vorderen Teil der Maschine mitzubekommen, jedoch vergeblich. Der Lauf der Ereignisse in dieser Nacht machte Rémy zu schaffen – sehr sogar. Er blickte auf den gefesselten Mönch zu seinen Füßen. Der Hüne lag jetzt völlig bewegungslos da, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben …


Загрузка...