Sophie sah Langdon fassungslos an. »Der Heilige Gral?«
Langdon nickte. Er sah nicht aus wie jemand, der sich einen Spaß erlaubte. »Der Heilige Gral ist die wörtliche Übersetzung von Sangreal. Das Wort kommt vom französischen Sangraal, aus dem es sich entwickelt hat. Im Lauf der Zeit sind zwei Wörter daraus geworden, nämlich San Greal, wobei San bekanntlich ›heilig‹ heißt.«
Der Heilige Gral. Sophie ärgerte sich, dass sie nicht gleich die Wortverwandtschaft erkannt hatte. Trotzdem konnte sie in Langdons Erklärung wenig Sinn erkennen. »Ich dachte immer, der Heilige Gral sei ein Kelch, und nun behaupten Sie, der Gral … Sangreal … sei eine Sammlung von Dokumenten, in denen ein uraltes, düsteres Geheimnis verborgen ist.«
»Das stimmt, aber die Sangreal-Dokumente sind nur die eine Hälfte des Gralsschatzes. Sie sind zusammen mit dem Gral irgendwo vergraben … und erst durch sie enthüllt sich seine wahre Bedeutung. Nur weil sich erst durch die Dokumente die eigentliche Natur des Grals zeigt, konnten die Tempelritter diese Machtfülle erlangen.«
Die eigentliche Natur des Grals? Sophie war völlig verwirrt. Sie hatte immer gedacht, der Heilige Gral sei der Kelch, aus dem Jesus beim Letzten Abendmahl getrunken hatte und in dem Joseph von Arimatäa später das Blut des Gekreuzigten aufgefangen hatte. »Der Heilige Gral ist der Abendmahlskelch Christi«, sagte sie. »Was könnte einfacher sein?«
»Sophie, der Prieuré de Sion zufolge ist der Heilige Gral überhaupt kein Kelch«, sagte Langdon leise und lehnte sich zu ihr herüber. »Die Bruderschaft behauptet, die Gralslegende vom Abendmahlskelch sei eine genial erdachte Allegorie. In der Gralslegende wird der Kelch als Methapher für etwas weitaus Machtvolleres benutzt – etwas, das nahtlos zu dem passt, was Ihr Großvater uns heute Nacht zu sagen versucht hat, einschließlich der mythologischen Bezüge zum göttlich Weiblichen.«
Sophie war immer noch nicht überzeugt, auch wenn sie an Langdons geduldigem Lächeln ablesen konnte, dass er ihre Verwirrung sehr gut verstand. Doch sein Blick war nach wie vor ernst.
»Aber wenn der Gral kein Kelch ist, was ist er dann?«
Langdon hatte die Frage erwartet, wusste aber nicht, wie er sie beantworten sollte. Wenn er die Antwort nicht in das entsprechende historische Umfeld einzubetten verstand, würde Sophie nichts damit anfangen können – genau wie sein Lektor, dem Langdon einige Monate zuvor den Entwurf seines Manuskripts gezeigt hatte.
»In diesem Manuskript behaupten Sie was?«–, hatte der Lektor hervorgestoßen, nachdem ihm beinahe das Weinglas aus der Hand gefallen war. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Immerhin so ernst, dass ich ein ganzes Jahr Recherche darauf verwendet habe.«
Der prominente New Yorker Lektor Jonas Faulkman zupfte nervös an seinem Spitzbart. Er hatte sich während seiner illustren Karriere so manche abstruse Idee anhören müssen, aber das war der Gipfel.
»Robert«, sagte er schließlich begütigend, »verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich schätze Ihre Arbeit. Wir haben schon so manches Projekt miteinander durchgezogen, nicht wahr? Aber wenn ich mich dazu hergebe, einen solchen Unsinn an die Öffentlichkeit zu bringen, muss ich in den nächsten Monaten mit Sit-ins vor meiner Bürotür rechnen. Und Ihr guter Ruf ist dann auch dahin. Sie sind Harvard-Historiker, Robert, und kein Phantast. Es würde mich wundern, wenn Sie überhaupt etwas an glaubhaftem Beweismaterial zu bieten hätten.«
Langdon hatte mit stillem Lächeln eine vorbereitete Liste aus der Innentasche seines Tweedjacketts gezogen und sie Faulkman überreicht. Auf dem eng beschriebenen Blatt stand eine Bibliographie von mehr als fünfzig Titeln – alles Bücher renommierter Historiker, zeitgenössischer und längst verstorbener –, von denen viele in Gelehrtenkreisen Bestseller waren. Sämtliche Titel wiesen in die gleiche Richtung wie Langdons Buchprojekt. Als Faulkman nach der Lektüre der Liste wieder den Blick hob, sah er aus wie ein Mann, der soeben entdeckt hatte, dass die Erde doch eine Scheibe war. »Viele dieser Namen sind mir bestens bekannt … alles echte Historiker von Rang«, sagte er staunend.
Langdon grinste. »Wie Sie sehen, Jonas, handelt es sich hier keineswegs nur um meine Privattheorie, sondern um uraltes Gedankengut, auf das ich mich lediglich gestützt habe. Es gibt bislang keine Arbeit, die sich unter symbolkundlichem Aspekt mit dem Heiligen Gral beschäftigt. Die ikonographische Beweislage, die ich sichern konnte und die meine Theorie erhärtet, ist erdrückend.«
Faulkman blickte wieder auf die Liste. »Mein Gott, Sie haben ja sogar ein Buch des britischen Historikers Sir Leigh Teabing von der Royal Society auf Ihrer Liste!«
»Teabing hat sich die meiste Zeit seines Lebens mit der Erforschung der Gralslegende beschäftigt. Ich hatte Gelegenheit, ihn kennen zu lernen. Einen großen Teil meiner Inspiration verdanke ich ihm. Er ist ein Mann, der wirklich an seine Sache glaubt, Jonas – wie übrigens alle anderen auf dieser Liste auch.«
»Und Sie behaupten, alle diese hochkarätigen Wissenschaftler glauben an den … « Faulkman schluckte. Er brachte das Wort offenbar nicht über die Lippen.
»An den Gral.« Langdon nickte. »Der Heilige Gral ist vermutlich der meistgesuchte Schatz in der Geschichte der Menschheit. Er hat Legenden hervorgebracht, Kriege ausgelöst und zu lebenslangen Forschungen angespornt. Und der Grund für das alles soll ein schlichter Kelch sein? Wenn man das bejaht, müssten andere Reliquien ein ähnliches oder sogar noch größeres Interesse hervorgerufen haben – die Dornenkrone zum Beispiel, das wahre Kreuz oder die Kreuzinschrift –, aber das ist nicht der Fall. Nichts in unserer Geschichte war so interessant wie der Heilige Gral – und jetzt wissen Sie auch, warum.«
Faulkman wiegte das Haupt. »Aber wieso weiß man so wenig darüber, wo es doch so viele Bücher zu diesem Thema gibt?«
»Diese Bücher kommen nicht gegen ein über viele Jahrhunderte aufgebautes Geschichtsbild an, besonders wenn dieses Bild durch den Bestseller aller Zeiten verbreitet wird.«
Faulkman lachte. »Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass es bei Harry Potter in Wirklichkeit um den Heiligen Gral geht.«
»Ich dachte eigentlich mehr an die Bibel.«
»Hab ich mir fast schon gedacht.«
»Laissez-le!« Sophies Aufschrei gellte durch das Taxi. »Legen Sie das Mikro weg!«
Langdon schrak zusammen, als Sophie nach vorn schnellte und den Taxifahrer über die Lehne des Vordersitzes anschrie, als der Mann nach dem Funkmikrofon gegriffen hatte und sich melden wollte.
Sophie fuhr herum. Ihre Hand glitt in Langdons Jacketttasche. Bevor dieser begriffen harte, was los war, hatte Sophie ihm die Pistole aus der Tasche gerissen und dem Taxifahrer die Mündung an den Hinterkopf gedrückt. Der Fahrer ließ das Mikro fallen und hob die nun freie Hand über den Kopf.
»Sophie!«, rief Langdon. »Was, zum Teufel … «
»Anhalten!«, schrie Sophie den Fahrer an.
Der Mann gehorchte. Er zitterte am ganzen Körper. Er fuhr rechts ran und brachte den Wagen zum Stehen. Der Motor lief im Leerlauf weiter.
Erst jetzt hörte Langdon die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher des Taxifunks im Armaturenbrett. » … qui s'appelle Agent Sophie Neveu … «, statisches Rauschen und Krachen, » … et un Americain, Robert Langdon … «
Langdon erstarrte. Das ging aber schnell.
»Steigen Sie aus!«, fuhr Sophie den Fahrer an.
Der Mann stieg mit erhobenen Händen aus dem Wagen und trat ein paar Schritte zurück.
Sophie hatte das Fenster heruntergekurbelt und hielt die Waffe auf den Taxifahrer gerichtet. »Robert«, sagte sie ruhig. »Sie werden fahren. Setzen Sie sich ans Steuer.«
Langdon war nicht in der Stimmung, mit einer Frau zu diskutieren, die mit einer Pistole herumfuchtelte. Begleitet von den Flüchen und Verwünschungen des Fahrers, der immer noch die Hände in die Luft reckte, stieg er aus, lief vorn um das Taxi herum und schwang sich hinters Steuer.
»Ich nehme an, Robert«, ließ Sophie sich vom Rücksitz vernehmen, »Sie haben jetzt genug von unserem Märchenwald gesehen.«
Langdon nickte. Mehr als genug.
»Gut. Dann lassen Sie uns hier verschwinden.«
Langdon betrachtete die Hebel und Pedale. Mist! Er fuhrwerkte mit Schalthebel und Kupplung. »Sophie, vielleicht sollten Sie lieber … «
»Fahren Sie schon!«, rief Sophie.
Mehrere Prostituierte näherten sich neugierig dem Wagen. Eine zog ein Handy hervor und wählte eine Nummer. Langdon trat auf die Kupplung und drückte den Schalthebel dorthin, wo er den ersten Gang vermutete. Er gab Gas und ließ für seine Begriffe sehr vorsichtig die Kupplung kommen.
Mit kreischenden Reifen und schleuderndem Heck machte das Taxi einen Satz nach vorn. Die Dame mit dem Handy sprang mit einem Aufschrei zur Seite.
»Sachte!«, rief Sophie, während der Wagen holpernd auf die Fahrbahn schleuderte. »Was machen Sie denn?«
»Ich hab Sie gewarnt«, rief Langdon über den Lärm des krachenden Getriebes. »Ich fahre privat Automatik.«