46. KAPITEL

Silas lag ausgestreckt auf der Segeltuchmatte in seinem Zimmer. Das Blut auf seinem gegeißelten Rücken gerann allmählich. Nach der zweiten Geißelung am heutigen Tag fühlte er sich benommen und schwach. Auch den Bußgürtel hatte er noch nicht abgelegt. Er spürte das warme Blut an der Innenseite des Oberschenkels, doch für die Beendigung der Marter war es noch zu früh.

Du hast vor der Kirche versagt.

Schlimmer noch, du hast vor Bischof Aringarosa versagt.

Die heutige Nacht hätte dem Bischof die Erlösung bringen sollen. Vor fünf Monaten war er entmutigt von einer Sitzung im vatikanischen Observatorium zurückgekehrt. Nach wochenlanger Niedergeschlagenheit hatte er sich schließlich Silas anvertraut.

»Aber das ist völlig unmöglich!«, hatte Silas fassungslos gerufen.

»Trotzdem ist es wahr«, hatte Aringarosa erwidert. »Unglaublich, aber wahr. In sechs Monaten schon.«

Die Worte des Bischofs hatten Silas in Furcht und Schrecken versetzt. Er betete um Erlösung. Selbst in jenen dunklen Tagen war sein Vertrauen in Gott und den Weg nie schwankend geworden. Und einen Monat später waren – o Wunder! – die dunklen Wolken des Unheils aufgerissen und hatten den Lichtstrahl der Hoffnung hindurchscheinen lassen.

Eine göttliche Intervention hatte Aringarosa gesagt. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er wieder Hoffnung geschöpft. »Silas«, hatte er geflüstert, »Gott hat uns eine Möglichkeit aufgezeigt, den Weg zu schützen. Wie jeder Kampf wird auch dieser Opfer fordern. Möchtest du ein Kämpfer Gottes sein?«

Silas war vor Bischof Aringarosa – dem Mann, der ihm ein neues Leben geschenkt hatte – auf die Knie gefallen. »Ich bin ein Schäflein Gottes«, hatte er gesagt. »Seid mein Hirte, ganz wie Euer Herz es Euch befiehlt.«

Als Aringarosa ihm den möglichen Ausweg erläutert hatte, war Silas sofort klar geworden, dass Gottes Hand im Spiel gewesen sein musste. Aringarosa hatte für Silas die Verbindung zu jenem Mann hergestellt, der sich selbst der Lehrer nannte. Silas und der Lehrer waren einander zwar nie von Angesicht zu Angesicht begegnet, doch nach jedem Telefonat hatten die unermesslichen Kenntnisse und die immense Machtfülle des Lehrers Silas stets aufs Neue mit Ehrfurcht erfüllt. Der Lehrer schien alles zu wissen, schien die Augen und Ohren überall zu haben. Wie der Lehrer an seine Informationen gelangte, wusste Silas nicht, doch Aringarosa hatte sein ganzes Vertrauen in den Lehrer gesetzt und Silas aufgefordert, dies ebenfalls zutun. »Tue alles, was der Lehrer von dir verlangt«, hatte der Bischof zu Silas gesagt. »Dann werden wir obsiegen.«

Obsiegen. Silas starrte auf den nackten Fußboden vor sich. Der Sieg war ihnen durch die Finger geronnen. Der Lehrer war übertölpelt worden. Der Schlussstein hatte sich als trügerische Chimäre erwiesen – als Täuschung, an der alle Hoffnung zuschanden geworden war.

Silas wünschte sich, er könnte Bischof Aringarosa anrufen, um ihn zu warnen, aber der Lehrer hatte heute Nacht sämtliche direkten Verbindungen zum Bischof gekappt. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.

Schließlich, nachdem er seine Skrupel niedergerungen hatte, kroch Silas auf allen vieren zu seiner Kutte, die auf dem Boden lag, und zog das Handy aus der Tasche. Mit hängendem Kopf wählte er die Nummer.

»Verehrter Lehrer«, flüsterte er in den Apparat, »alles ist verloren. Man hat uns hereingelegt.« Er berichtete in allen Einzelheiten, was geschehen war.

»Sie werfen die Flinte zu schnell ins Korn«, tadelte der Lehrer. »Soeben hat mich eine Nachricht erreicht – eine unerwartete und sehr willkommene Nachricht. Das Geheimnis lebt noch. Jacques Saunière hat es vor seinem Tod weitergegeben. Sie werden bald von mir hören. Unsere Arbeit ist noch nicht beendet.«

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