74. KAPITEL

»Sie sind so still«, sagte Langdon mit einem Blick hinüber zu Sophie auf der anderen Seite der Kabine.

»Nur ein bisschen müde«, antwortete sie. »Und der Vierzeiler. Ich weiß nicht, recht … «

Auch Langdon war ziemlich erschöpft. Hinzu kam das monotone Geräusch der Triebwerke, das eine einschläfernde Wirkung hatte. Außerdem brummte ihm noch der Schädel von dem Schlag des Mönchs. Teabing war immer noch hinten im Flugzeug.

Langdon beschloss, den ungestörten Augenblick zu nutzen, um mit Sophie über etwas zu sprechen, das ihn schon einige Zeit beschäftigte. »Ich glaube, Sophie«, sagte er, »ich kenne den Grund, weshalb Ihr Großvater uns zusammengebracht hat. Vermutlich wollte er, dass ich Ihnen etwas erkläre.«

»Und was?«

Langdon wusste nicht recht, wie er fortfahren sollte. »Ich … nun, ich weiß, weshalb Sie seit zehn Jahren nicht mit Ihrem Großvater gesprochen hatten und warum es zu Ihrem Zerwürfnis kam. Ihr Großvater hat wohl gehofft, dass Sie ihn eher verstehen, wenn ich Ihnen die Sache erkläre.«

»Ich habe Ihnen doch gar nicht erzählt, weshalb wir uns entzweit haben«, sagte Sophie verunsichert.

Langdon blickte sie vielsagend an. »Sie sind Zeugin eines Sexualritus geworden, nicht wahr?«

Sophie zuckte zusammen. »Woher wissen Sie das?«

»Weil Sie mir sagten, Sie hätten etwas beobachtet … etwas, das Sie dem Schluss führte, dass Ihr Großvater einer Geheimgesellschaft angehörte. Und was immer Sie beobachtet haben, es hat Sie so bestürzt, dass Sie seitdem nicht mehr mit Ihrem Großvater gesprochen haben. Ich weiß ein klein wenig über Geheimgesellschaften Bescheid. Man braucht kein da Vinci zu sein, um zu erraten, was Sie gesehen haben.«

Sophie schaute ihn mit großen Augen an.

»War es im Frühjahr?«, wollte Langdon wissen. »Zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche? Mitte März?«

Sophie blickte zum Fenster hinaus. »Ja. Ich war ein paar Tage eher von der Universität nach Hause gekommen … «

»Möchten Sie mir die Geschichte nicht erzählen?«

»Lieber nicht.« Unvermutet wandte Sophie sich vom Fenster ab und blickte ihn an. In ihren Augen spiegelte sich der Widerstreit der Gefühle. »Außerdem … Ich weiß gar nicht, was ich gesehen habe.«

»Sind Männer und Frauen da gewesen?«

Einen Herzschlag lang zögerte Sophie; dann nickte sie.

»Die einen schwarz gekleidet, die anderen weiß?«

»Ja. Die Frauen trugen weiße durchsichtige Gewänder und goldene Pantoffeln, und sie hielten einen goldenen Ball. Bei den Männern waren die Gewänder und die Schuhe schwarz.«

Langdon versuchte, Ruhe zu bewahren. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Offenbar war Sophie Neveu unfreiwillig Zeugin einer viertausend Jahre alten heiligen Zeremonie geworden. »Trugen sie auch Masken?«, fragte Langdon weiter. »Androgyne Masken?«

»Ja, sie hatten alle Masken … die gleichen Masken. Die Frauen weiße, die Männer schwarze.«

Langdon hatte Beschreibungen des Rituals gelesen und kannte dessen mythische Wurzeln. »Man nennt es hieros Gamos. Das Ritual ist mehr als viertausend Jahre alt. Ägyptische Priester und Priesterinnen haben es zur Verehrung der fruchtbringenden Kraft des Weiblichen regelmäßig gefeiert.« Er beugte sich vor. »Wenn Sie ohne Einweihung Zeugin des hieros Gamos geworden sind, wundert es mich nicht, dass Sie schockiert waren.«

Sophie antwortete nicht.

»Hieros Gamos ist griechisch und bedeutet ›heilige Hochzeit‹«, erklärte Langdon.

»Ich habe aber keine Hochzeitsfeier gesehen«, entgegnete Sophie ironisch.

»Ich meine, Hochzeit im Sinne der Vereinigung zweier Menschen, Sophie.«

»Sie meinen Sex.«

»Nein.«

»Nein?« Sophie blickte ihn prüfend an.

»Nun ja, in gewisser Weise schon, aber nicht in dem Sinn, wie wir das Wort heute verstehen«, sagte Langdon. »Was Sie gesehen haben, sah vielleicht wie ein Sexualritus aus, hatte mit Sex im erotischen Sinne aber nichts zu tun. Hieros Gamos ist spiritueller Natur. Historisch gesehen ist der Geschlechtsverkehr ein Akt, in dem das Männliche und Weibliche das Göttliche schauen. Die alten Völker glaubten, dass das Männliche in einem geistigen Mangelstatus existiert, bis es in der fleischlichen Vereinigung mit der Frau die Erfahrung des göttlich Weiblichen macht. Die körperliche Vereinigung war das einzige Mittel, durch das der Mann geistig heil werden und gnosis erlangen konnte – Wissen vom Göttlichen. Seit den Zeiten der Göttin Isis betrachtete man die Sexual- und Fruchtbarkeitsriten als die Brücke, über die der Mann von der Erde zum Himmel gelangt. Durch die Vereinigung mit der Frau kann der Mann im Augenblick der Ekstase erleben, wie sein Geist sich völlig entleert und das Göttliche sichtbar wird.«

Sophie sah ihn stirnrunzelnd an. »Orgasmus als Gebet?«

Langdon zuckte die Schultern, doch im Prinzip hatte Sophie Recht. Physiologisch betrachtet, setzte beim männlichen Orgasmus einen Sekundenbruchteil lang jede gedankliche Tätigkeit aus; es entstand eine Art Vakuum, ein Moment der Klarheit, in dem der Geist eine Ahnung von Gott erhaschen konnte. Manche Gurus, die diesen Zustand allein durch Meditation erreichten, beschrieben das Nirwana als nicht enden wollenden spirituellen Orgasmus.

»Es ist wichtig, Sophie«, fuhr Langdon fort, »sich klar zu machen, dass die Vorstellungen vom Geschlechtlichen bei den alten Völkern völlig anderer Art waren als heutzutage bei uns. Die Sexualität brachte neues Leben hervor. Es war das Wunder an sich, und Wunder konnte nur eine Göttin vollbringen. Die Fähigkeit der Frau, neues Leben hervorzubringen, machte sie heilig. Der Geschlechtsverkehr war gleichsam die Vereinigung der beiden getrennten Hälften des Menschen – weiblich und männlich durch die der Mann seine spirituelle Ganzheit und seine Einheit mit dem Göttlichen wieder gefunden hat. Bei dem Ritual, das Sie beobachtet haben, ging es nicht um Sex, sondern um Spiritualität. Das Ritual des hieros Gamos ist keine Perversion, sondern eine zutiefst sakrosankte Zeremonie.«

Langdons Worte schienen bei Sophie einen empfindlichen Nerv zu treffen. Sie hatte die ganze Nacht sehr beherrscht gewirkt; jetzt aber konnte Langdon ihre Fassade bröckeln sehen. Tränen schimmerten in ihren Augen, und sie tupfte sie mit dem Ärmel ab.

Langdon wartete, bis sie die Fassung wiedergewonnen hatte. Die Vorstellung vom Geschlechtsverkehr als Weg zur Gotteserkenntnis war zugegebenermaßen auf den ersten Blick schockierend. Langdons jüdische Studenten beispielsweise waren jedes Mal entgeistert, wenn er ihnen darlegte, dass das frühe Judentum sexuelle Fruchtbarkeitsriten praktiziert hatte – im Tempel. Die alten Juden glaubten, dass im Allerheiligsten von Salomons Tempel nicht nur Gott, sondern auch sein machtvolles weibliches Gegenstück Schekinah gegenwärtig sei. Auf der Suche nach spiritueller Ganzheit kamen die Männer zu den Priesterinnen des Tempels – den Hierodulen oder Tempeldienerinnen –, die mit ihnen den Liebesakt vollzogen und den Männern durch die körperliche Vereinigung zur Erfahrung des Göttlichen verhalfen. Das aus den vier Buchstaben YHWH bestehende jüdische Wortkürzel – der heilige Name Gottes – setzte sich zusammen aus den Buchstaben des Wortes Jehova, einer androgynen Vereinigung des männlichen Jah und des vorhebräischen Wortes für Eva, Havah.

»Für die Kirche war der unmittelbare Zugang zu Gott durch das Geschlechtliche natürlich eine ernste Bedrohung ihres Machtanspruchs«, fuhr Langdon fort. »Es setzte der katholischen Kirche sozusagen den Stuhl vor die Tür und unterminierte ihren Anspruch, die einzige Mittlerin zwischen Gott und den Menschen zu sein. Aus nahe liegenden Gründen hat die Kirche das Geschlechtliche nachhaltig dämonisiert und den Geschlechtsakt als ekelhaft und sündig diffamiert. Andere Weltreligionen sind ganz ähnlich vorgegangen.«

In einer Vorlesung hatte Langdon auf den gleichen Sachverhalt hingewiesen. »Wir brauchen uns über unsere widersprüchliche Einstellung zum Sexuellen nicht zu wundern«, hatte er zu seinen Studenten gesagt. »Unser altes kulturelles Erbe und unsere Physiologie sagen uns, dass Sex das Natürlichste von der Welt ist – ein altehrwürdiger Weg zur geistigen Erfüllung –, doch die heutigen Religionen behandeln das Geschlechtliche mit Geringschätzung und verlangen von uns, unsere sexuellen Bedürfnisse als Machenschaften des Bösen zu fürchten.«

Langdon hatte darauf verzichtet, seine Studenten mit der Information zu schockieren, dass weltweit mehr als ein Dutzend Geheimgesellschaften – darunter sehr einflussreiche – bis zum heutigen Tage die alten Überlieferungen lebendig erhielten und Sexual- und Fruchtbarkeitsriten praktizierten. In dem Film »Eyes Wide Shut« spielt Tom Cruise einen Mann, der unsanft auf diesen Tatbestand gestoßen wird, als er sich in ein privates Treffen der High Society von Manhattan einschleicht, wo er Zeuge eines Hieros-Gamos-Rituals wird. Leider schießen die Filmemacher in der Darstellung des sachlichen Hintergrunds einen Bock nach dem anderen, doch der Kern ihrer Aussage stimmt: Es gibt Geheimgesellschaften, die zur Feier der Magie des Sexuellen zusammenkommen.

Sophie drückte die Stirn an die kühle Scheibe des Fensters, starrte mit leerem Blick hinaus und versuchte einzuordnen, was sie soeben von Langdon gehört hatte. Eine nie gekannte Reue regte sich in ihr. Zehn Jahre. Sie dachte an die Stapel ungeöffneter Briefe, die der Großvater ihr geschickt hatte …

Robert soll alles erfahren, sagte sie sich. Ohne sich vom Fenster abzuwenden, begann sie zu erzählen – mit leiser, beinahe ängstlicher Stimme, und hatte das Gefühl, wieder in jene längst vergangenen Nacht im März einzutauchen … wie sie im Wald vor dem Château ihres Großvaters in der Normandie aus dem Auto gestiegen war … wie sie verwirrt das Gebäude abgesucht und plötzlich unter sich die Stimmen gehört hatte … wie sie die Geheimtür fand … Wieder schlich Sophie langsam die steinerne Wendeltreppe hinunter, Schritt für Schritt, in die unterirdische Grotte. Sie roch die erdige Luft, kühl und anregend. Und dann, aus ihrem beschatteten Versteck auf der Treppe, beobachtete sie fassungslos die Gestalten, die sich singend im flackernden Fackelschein wiegten.

Frauen und Männer hatten einen Kreis gebildet, schwarz, weiß, schwarz, weiß. Die Frauen reckten in der Rechten goldene Bälle in die Höhe; ihre Gewänder bauschten sich, und sie sangen im Chor: »Ich war bei dir zu Anbeginn, in der Morgenröte, als alles den Anfang nahm, was heilig ist. Ich habe dich in meinem Schoß getragen, bevor der Tag anbrach

Dann ließen die Frauen die emporgereckten goldenen Bälle sinken, wiegten sich wieder vor und zurück, wie in Trance. Im Mittelpunkt des Kreises befand sich irgendetwas, dem offenkundig die Verehrung der gesamten Gemeinde galt.

Was ist da?, fragte sich Sophie. Was ist in ihrer Mitte?

Der Gesang wurde schneller, lauter.

»Erkenne deine Frau, sie ist die Liebe!«, riefen die Frauen und hoben wieder die goldenen Bälle.

»Sie ist meine Behausung in Ewigkeit!«, antworteten die Männer.

Der Gesang schwoll weiter an, wurde noch schneller, noch lauter, beinahe ohrenbetäubend. Dann, plötzlich, hatten alle sich auf die Knie geworfen – und Sophie sah endlich den Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Auf einem niedrigen, reich geschmückten Altar in der Mitte lag ein Mann auf dem Rücken. Bis auf die schwarze Maske war er vollkommen nackt, doch Sophie hatte ihn am Muttermal an der Schulter sofort erkannt. Um ein Haar hätte sie aufgeschrien.

Grand-père! Allein schon dieses Bild hatte Sophie zutiefst schockiert. Aber es war noch nicht alles …

Eine Frau mit weißer Maske saß rittlings auf Saunière und ließ im Rhythmus des Gesangs die Hüften kreisen. Üppiges silbriges Haar fiel ihr tief über den Rücken. Ihr Körper war füllig und unansehnlich.

Sophie hatte davonrennen wollen, doch sie konnte es nicht. Die steinernen Mauern der Grotte hielten sie gleichsam gefangen, während der Gesang sich zu einem wilden Crescendo steigerte, das sich in einem plötzlichen, orgiastischen Aufbrüllen entlud, das den ganzen Raum erfasste …

Endlich löste Sophie sich aus ihrer Starre. Sie wandte sich von der scheußlichen Szene ab, taumelte die Treppe hinauf und rannte mit stolpernden Schritten aus dem Gebäude, wobei ihr Tränen über die Wangen liefen. Am ganzen Körper zitternd, fuhr sie nach Paris zurück.

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