37. KAPITEL

Der mit kleinen, dichten Wäldchen durchsetzte Landschaftspark Bois de Boulogne wurde von den Parisern mit vielerlei Namen belegt, meist aber nannten sie ihn den »Garten der Lüste«. Das mochte übertrieben klingen, war es aber nicht. Jeder, der schon einmal Hieronymus Boschs gleichnamiges unheimliches Gemälde gesehen hatte, begriff sofort, was gemeint war. Der Park und das Gemälde waren gleichermaßen düster und unübersichtlich, ein Tummelplatz für Freaks und Fetischisten. Die gewundenen Sträßchen des Parks wurden nachts von Hunderten meist spärlich bekleideter käuflicher Körper gesäumt, die den Kunden Befriedigung auch der geheimsten und bizarrsten Wünsche versprachen.

Während Langdon seine Gedanken ordnete, um Sophie von der Prieuré de Sion zu erzählen, passierte das Taxi die bewaldete Randzone des Parks und bog dann nach Westen auf die kopfsteingepflasterte Diagonalachse ein. Langdons Konzentration litt erheblich unter dem geisterhaften Anblick der nächtlichen Bewohner des Parks, die sich am Straßenrand feilboten und im Strahl der Scheinwerfer überall aus den Schatten auftauchten. Zwei barbusige, kaum der Pubertät entwachsene Mädchen warfen flammende Blicke ins Taxi. Ein Stück weiter ließ ein Schwarzer, der nur mit einem winzigen Stoffdreieck bekleidet war, die gut eingeölten Muskeln spielen. Neben ihm stand eine atemberaubende Blondine. Als sie ihren Minirock hob, offenbarte sich, dass sie weder blond noch eine Frau war.

Der Himmel steh mir bei! Langdon atmete tief durch und beschloss, den Blick lieber im Wageninnern zu belassen. Einen unpassenderen Hintergrund für das, was er nun berichten wollte, konnte es kaum geben.

»Legen Sie los«, drängte Sophie.

Langdon nickte. Er fragte sich, wo er am besten anfangen sollte. Die Geschichte der Prieuré de Sion umfasse mehr als ein Jahrtausend. Es war eine atemberaubende Chronik von düsteren Geheimnissen und brutaler Erpressung, bis hin zur grausamen Folter auf Geheiß eines zürnenden Papstes.

»Die Bruderschaft von Sion wurde im Jahr 1099 von einem französischen König von Jerusalem gegründet, Gottfried von Bouillon, der unmittelbar zuvor die Stadt eingenommen hatte.«

Sophie, deren Blick unverwandt auf Langdon ruhte, nickte.

»König Gottfried befand sich angeblich im Besitz eines machtvollen Geheimnisses, das seit den Tagen Christi in seiner Familie weitergereicht worden war. Aus Furcht, dieses Geheimnis könne mit seinem Tod untergehen, gründete er eine geheime Bruderschaft: – die Prieuré de Sion–, die er mit der Aufgabe betraute, das Geheimnis wohl behütet von Generation zu Generation weiterzugeben. In den Jahren, als Gottfried König von Jerusalem war, kam der Bruderschaft ein Gerücht zu Ohren: Unter den Ruinen des Tempels des Herodes, der seinerseits auf den Ruinen des Tempels von König Salomon errichtet worden war, ruhte angeblich ein Schatz, der aus kostbaren Dokumenten bestand. Nach Ansicht der Prieuré untermauerten diese Dokumente Gottfried von Bouillons machtvolles Geheimnis. Sie waren von einer solchen Brisanz, dass die Kirche vor nichts zurückschrecken würde, um in ihren Besitz zu gelangen.«

Langdon hielt inne, und Sophie sah ihn abwartend an.

»Die Prieuré gelobte, diese Dokumente aus dem Schutt des Tempels zu bergen, wie lange es auch dauern mochte, und sie für alle Zeiten zu schützen, damit die Wahrheit niemals untergehen werde. Um an die Dokumente heranzukommen, bildete die Bruderschaft eine militärische Gruppierung, die aus neun Rittern bestand und den Namen ›Orden der armen Ritter Christi und vom Tempel Salomons‹ führte – besser bekannt unter dem Namen Tempelritter.«

Sophie sah ihn überrascht an. Die Templer waren ihr wohlvertraut.

Langdon hatte oft genug Vorlesungen über die Tempelritter gehalten. Er wusste um ihre Bekanntheit und ihren legendären, geheimnisumwitterten Ruf, doch für die Geschichtswissenschaft war die Geschichte des Templerordens ein schwieriges Kapitel, bei dem Tatsachen, Legenden und bewusste Fehlinformationen sich in einer Weise miteinander vermischten, dass das Herausfiltern der Wahrheit nahezu unmöglich war. Inzwischen vermied es Langdon in seinen Vorlesungen, die Templer überhaupt zu erwähnen, da sich jedes Mal unweigerlich eine letztendlich fruchtlose Diskussion über alle möglichen und unmöglichen Verschwörungstheorien entspann.

Schon setzte auch Sophie zu einem Einwand an. »Sie behaupten, der Templerorden sei von der Prieuré de Sion gegründet worden, um eine Sammlung von Geheimdokumenten zu bergen? Ich dachte, die Templer sollten die Pilger im Heiligen Land schützen.«

»Das ist eine weit verbreitete Ansicht, aber sie ist falsch. Der Schutz der Pilger diente lediglich als Tarnung des wirklichen Ziels der Templer. Ihre wahre Absicht war, im Heiligen Land die Dokumente aus der Tiefe der Ruinen des altjüdischen Tempels zu bergen.«

»Hat es denn geklappt?«

Langdon grinste. »Das weiß man eben nicht genau. Aber die Gelehrten sind sich insofern einig, dass die Templer tief in den Trümmern irgendetwas gefunden haben müssen … etwas, das sie so reich und mächtig werden ließ, dass es die Vorstellungskraft übersteigt.«

Langdon lieferte Sophie einen kurzen Abriss der Geschichte des Templerordens, soweit sie wissenschaftlich zu untermauern war: Während des Zweiten Kreuzzugs waren die Tempelritter bei König Balduin I. von Jerusalem vorstellig geworden und hatten ihn gebeten, in den königlichen Stallungen in den Ruinen des alten herodischen Tempels Unterkunft nehmen zu dürfen, da sie ein Obdach brauchten, um ihr Gelübde – den Schutz der Pilger im Heiligen Land – zu erfüllen. König Balduin gewährte ihnen die Bitte, worauf die Ritter in dem verwüsteten Tempel ihr armseliges Quartier aufschlugen.

Dieser merkwürdige Ort war keineswegs zufällig gewählt. Die Ritter waren überzeugt, dass die von der Prieuré gesuchten Dokumente tief unter den Trümmern begraben lagen … unter dem Allerheiligsten des alten Tempels … unter jener unantastbaren innersten Tempelkammer, in der für die Juden Gott selbst gewohnt hatte und die buchstäblich das Zentrum des jüdischen Glaubens gewesen war. Fast zehn Jahre lang hausten die Ritter in den Ruinen und gruben sich unbemerkt tiefer und tiefer, zum Teil sogar durch gewachsenen Fels.

Sophie sah Langdon an. »Und dann haben sie etwas gefunden?«

»Ganz sicher«, erwiderte Langdon. »Nach neun Jahren hielten die Ritter schließlich in Händen, was sie gesucht hatten. Sie bargen den Schatz aus dem Tempel und kehrten nach Europa zurück, wo ihr gewaltiger Einfluss sich praktisch über Nacht etablierte.

Niemand wusste genau, ob die Templer die römische Kirche erpresst hatten oder ob die Kirche ihrerseits versucht hatte, das Schweigen der Ritter zu erkaufen. Papst Innozenz II. jedenfalls erließ umgehend eine päpstliche Bulle, in der er den Templern uneingeschränkte Machtvollkommenheit und Eigengesetzlichkeit zugestand – etwas bis dahin Einmaliges. Damit waren die Templer ein in politischer und religiöser Hinsicht von weltlichen und geistlichen Herrschern unabhängiger Machtfaktor geworden.

Mit dem Freibrief der Kirche ausgestattet, erlebte der Templerorden einen ungeahnten Aufstieg, sowohl was die Zahl seiner Mitglieder anging, wie auch im Hinblick auf seine politische Macht. In mehr als einem Dutzend Ländern häufte der Orden riesigen Grundbesitz an und finanzierte zahlungsunfähig gewordene Königshäuser, was er sich wiederum reich verzinsen ließ. Im Zuge dieser Transaktionen erfand der Orden das moderne Finanzwesen und vergrößerte seinen Reichtum und Einfluss noch mehr.

Mit Beginn des vierzehnten Jahrhunderts war der Templerorden so mächtig geworden, dass Papst Klemens V. beschloss, diese Machtfülle einzuschränken. Nach Absprache mit dem französischen König Philipp IV. inszenierte er eine genial geplante Nacht-und-Nebel-Aktion, mit der er den Templerorden zerschlagen und seine Schätze, vor allem aber das für die Kirche so gefährliche Geheimnis in die Hand bekommen wollte. In einer Kommandooperation, die jedem modernen Geheimdienst zur Ehre gereicht hätte, ließ Papst Klemens den Streitkräften Philipps Geheimbefehle zugehen, die am Freitag, dem dreizehnten Oktober 1307, in einer genau abgestimmten Aktion in ganz Europa ausgeführt wurden.

Im Morgengrauen dieses Tages wurden die päpstlichen Geheimbefehle entsiegelt und ihr alarmierender Inhalt enthüllt. Papst Klemens V. behauptete in seinem Schreiben, Gott sei ihm in einer Vision erschienen und habe ihm offenbart, die Tempelritter seien abtrünnige Ketzer und der Teufelsanbetung schuldig. Sie entweihten das Kreuz, hieß es, und huldigten der Homosexualität, Sodomie und anderen blasphemischen Praktiken. Gott habe ihm, Klemens, aufgetragen, die Erde von diesem Übel zu befreien. Auf Gottes Geheiß solle er sämtliche Tempelritter dingfest machen und der Folter übergehen, bis sie ihre schändlichen Verbrechen gegen Gott gestanden hätten.

Die Aktion des Papstes lief mit der Präzision eines Uhrwerks ab. An jenem dreizehnten Oktober wurden zahllose Tempelritter gefangen genommen, grausam gefoltert und anschließend als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Die Tragödie klingt bis in unsere Zeit nach, denn noch heute gilt Freitag der Dreizehnte als Unglückstag.«

Sophie blickte Langdon verwirrt an. »Die Tempelritter wurden vernichtet? Ich dachte, es gäbe heute noch Templerbruderschaften.«

»Sie existieren noch, ja – unter einer Vielzahl von Namen. Die Tempelritter hatten mächtige Verbündete. Trotz der falschen Anschuldigungen und der Bemühungen von Papst Klemens, sie völlig zu vernichten, gelang es einigen von ihnen, zu entkommen.

Papst Klemens' eigentliches Ziel hatte darin bestanden, den Dokumentenfund der Tempelritter, ihre Quelle der Macht, in die Hand zu bekommen, doch der Schatz blieb verschwunden: Die Dokumente waren zuvor schon in die Obhut der geheimnisvollen Gründungsväter des Templerordens gegeben worden, der Prieuré de Sion, die sie dem Zugriff des Papstes zu entziehen wussten. Als sich der Vernichtungsschlag des Papstes abzeichnete, hatte die Prieuré die Dokumente aus dem Pariser Ordenshaus der Templer bei Nacht und Nebel heimlich nach La Rochelle geschafft und auf Schiffe des Ordens verladen.«

»Und wo sind die Dokumente geblieben?«

Langdon zuckte die Achseln. »Das weiß nur die Prieuré de Sion. Nach wie vor wird über diese Dokumente spekuliert. Sie sind bis zum heutigen Tag Gegenstand der Forschung und der Spekulationen. Man nimmt an, dass sie mehrere Male an andere Orte verbracht wurden. Derzeit vermutet man sie irgendwo in Großbritannien.

Seit tausend Jahren ranken sich Legenden um dieses Geheimnis. Die Gesamtheit der Dokumente, ihre Machtfülle und das darin enthaltene Geheimnis verdichten sich in einem einzigen Begriff – Sangreal, wie es in der ursprünglichen französischen Sprache heißt. Nur wenige Geheimnisse haben in solchem Maße das Interesse der Historiker geweckt. Hunderte von Büchern sind schon über dieses Rätsel geschrieben worden.«

»Sangreal?«, sagte Sophie erstaunt. »Hat das etwas mit dem französischen Wort sang oder dem spanischen sangre für ›Blut‹ zu tun!«

Langdon nickte. Beim Sangreal ging es in der Tat in erster Linie um Blut, doch in einer gänzlich anderen Bedeutung, als Sophie vermutlich annahm. »Die Zusammenhänge sind kompliziert, aber der Kern der Sache ist, dass die Prieuré Dokumente in Händen hat und hütet. Vermutlich wartet sie einen geeigneten historischen Moment ab, um die Wahrheit zu enthüllen.«

»Was für eine Wahrheit? Was für ein Geheimnis könnte so machtvoll sein?«

Langdon seufzte und schaute wieder hinaus in die Schattenwelt, in der sich der Unterleib von Paris räkelte.

»Sophie, das Wort Sangreal ist sehr alt. Es hat sich im Lauf der Zeit verändert, zu einer moderneren Bezeichnung.« Er hielt inne. »Wenn ich Ihnen diese moderne Bezeichnung verrate, werden Sie erkennen, dass sie Ihnen längst bekannt ist – wie überhaupt fast jeder schon einmal die Legende des Sangreal gehört hat.«

Sophie sah ihn skeptisch an. »Ich nicht.«

»O doch, Sie auch«, sagte Langdon und lächelte. »Oder kennen Sie nicht die Legende vom Heiligen Gral?«

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