St. James's Park ist eine grüne Oase mitten im Herzen von London, ein öffentlicher Park, der an die Paläste von Buckingham, Westminster und St. James angrenzt. Das einstige Tiergehege, das König Henry VIII. zu seinem Jagdvergnügen hatte anlegen lassen, ist heute für jedermann geöffnet. An sonnigen Nachmittagen machen die Londoner unter den Weidenbäumen Picknick und füttern an den Teichen Pelikane, deren Stammväter ein Geschenk des russischen Botschafters an König Charles II. gewesen waren.
Der Lehrer bekam heute keine Pelikane zu Gesicht. Das stürmische Wetter hatte für einen Zustrom von Seemöwen gesorgt, die vom Meer gekommen waren. Sie saßen zu Hunderten auf den Rasenflächen, alle in der gleichen Richtung, und trotzten mit dem Schnabel im Wind den feuchten Böen. Trotz des morgendlichen Dunstes hatte man vom Park aus einen phantastischen Blick auf die beiden Häuser des Parlaments und auf Big Ben.
Der Blick des Lehrers glitt die sanft abfallenden Rasenflächen hinab und am Ententeich mit den eleganten Silhouetten der Trauerweiden vorbei zu dem turmgeschmückten Bau, der das Grabmal des Ritters beherbergte – der eigentliche Grund, weshalb er Rémy hierher beordert hatte.
Als der Lehrer an die Beifahrertür der geparkten Luxuslimousine trat, beugte Rémy sich hinüber und öffnete von innen, doch der Lehrer hielt im Türschlag inne und genehmigte sich einen Schluck Cognac aus seinem Flachmann. Er tupfte sich den Mund ab, ließ sich neben Rémy auf den Beifahrersitz nieder und schlug die Wagentür zu.
Rémy hielt das Kryptex wie eine Trophäe in die Höhe. »Um ein Haar hätten wir das Nachsehen gehabt!«
»Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht«, sagte der Lehrer anerkennend.
»Wir haben unsere Sache gut gemacht«, gab Rémy zurück, während er dem Lehrer das Kryptex in die begierig zugreifenden Hände legte.
Der Lehrer lächelte. Er wog den schwarzen Steinzylinder eine Zeit lang bewundernd in der Hand. »Und die Waffe?«
»Wieder im Handschuhfach, wie zuvor.«
»Ausgezeichnet.« Der Lehrer nahm noch einen Schluck Cognac; dann bot er Rémy den Flachmann an. »Stoßen wir auf unseren Erfolg an. Das Ende ist zum Greifen nahe.«
Dankbar nahm Rémy den Flachmann entgegen. Der Cognac hatte einen leicht salzigen Beigeschmack, doch Rémy achtete nicht darauf. Jetzt waren er und der Lehrer richtige Partner. Er fühlte sich auf dem Weg zu höheren Ebenen der Existenz. Du wirst nie wieder jemandem dienen!
Rémy schaute den Hang hinunter zum Ententeich. Château Villette schien Lichtjahre entfernt. Er nahm noch einen Schluck aus der kleinen Flasche. Der Cognac wärmte ihn, doch zu der Wärme in seinem Schlund gesellte sich ein unangenehmes Brennen, das sich zu dem Gefühl auswuchs, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. Er lockerte die Fliege. »Ich glaube, ich habe genug«, sagte er heiser und reichte dem Lehrer den Flachmann zurück.
»Wissen Sie eigentlich, Rémy, dass Sie der Einzige sind, der mein Gesicht kennt?«, sagte der Lehrer, als er die silberne Flasche entgegennahm. »Ich habe größtes Vertrauen in Sie gesetzt.«
»Ja«, krächzte Rémy und löste die Fliege nun ganz. Er fühlte sich fiebrig. »Ich werde Ihre Identität mit ins Grab nehmen.«
Der Lehrer schwieg eine Zeit lang. »O ja, das werden Sie.« Er steckte den Flachmann und das Kryptex ein, griff ins Handschuhfach und holte den Medusa-Revolver heraus. Einen Moment lang bekam Rémy es mit der Angst zu tun. Der Lehrer schob die Waffe in die Hosentasche.
Was hat er vor? Rémy spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Ich weiß, dass ich Ihnen die Freiheit versprochen habe«, sagte der Lehrer, und in seiner Stimme schien Bedauern mitzuschwingen. »Doch angesichts der Umstände ist es wohl am besten so.« Die Schwellung in Rémys Schlund wuchs unaufhörlich. Er fiel gegen das Lenkrad und fuhr sich mit den Händen an den Hals. In seinem anschwellenden Rachen brannte der ätzende Geschmack von Magensäure. Ein kläglicher Schrei entrang sich seiner Kehle, nicht einmal laut genug, um aus dem Wagen zu dringen.
Rémy begriff, warum der Cognac so salzig geschmeckt hatte. Er will dich umbringen! Ob der Lehrer ihn von Anfang an beseitigen wollte oder ob die Ereignisse in der Temple Church ihn sein Vertrauen gekostet hatten, sollte Rémy nie erfahren.
Er drehte sich halb nach links. Fassungslos starrte er den Lehrer an, der unbeteiligt neben ihm saß und durch die Windschutzscheibe gelassen nach vorn aus dem Wagen blickte. Rémy rang röchelnd nach Luft. Sein Blick trübte sich. Wie kann er mir das antun? Warst nicht du es, der ihm diesen Erfolg erst ermöglicht hat? Und diesem Mann hast du rückhaltlos vertraut … Mit wütender Verzweiflung versuchte er sich aufzubäumen und dem Lehrer an die Gurgel zu gehen, doch sein kraftloser Körper versagte ihm den Dienst.
Rémy versuchte, die verkrampften Fäuste auf die Hupe zu pressen, doch sie glitten ab, und er kippte zur Seite. Vor seinen Augen wurde es schwarz. Die Hände um die Kehle gekrampft, lag er zuckend neben dem Lehrer im Sitz und rang verzweifelt nach Luft. Draußen begann es in Strömen zu regnen. Rémy Legaludecs nach Sauerstoff lechzendes Hirn klammerte sich an das letzte Fünkchen Bewusstsein. Während in seiner Welt allmählich das Licht für immer verlosch, hätte er schwören können, den sanften Schlag der Wellen am Strand der Riviera zu hören …
Als der Lehrer aus der Limousine stieg, stellte er zufrieden fest, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war. Du hattest keine andere Wahl, sagte er sich und war erstaunt, wie wenig es ihm zu schaffen machte, was er gerade getan hatte. Rémy hat sein Schicksal selbst besiegelt. Der Lehrer hatte von Anfang an befürchtet, dass er nach Beendigung der Aktion nicht umhin kommen würde, sich Rémys zu entledigen. Die im Schlepptau Langdons auftauchende Polizei konnte dem Lehrer nichts anhaben, es sei denn, Rémy hätte ausgepackt. Aber diese Sorge war er jetzt los.
Du brauchst nur noch die Spuren zu beseitigen, dachte der Lehrer, während er zur hinteren Tür der Limousine ging. Die Polizei wird völlig im Dunkeln tappen, was vorgefallen ist … und einen Zeugen, der ihr auf die Sprünge helfen könnte, gibt es nicht mehr. Er blickte sich um. Niemand beobachtete ihn. Er zog die Tür auf und stieg ins geräumige Passagierabteil.
Minuten später durchquerte der Lehrer den St. James's Park. Jetzt sind nur noch zwei übrig. Langdon und Neveu. Hier lag der Fall ein wenig schwieriger, aber auch das ließ sich in den Griff bekommen. Im Moment jedoch war das Kryptex das vorrangige Problem.
Mit einem triumphierenden Blick durch den Park fasste der Lehrer sein Ziel ins Auge. In London liegt ein Ritter, den ein Papst begraben. Der Lehrer hatte schon beim ersten Hören des Gedichts die Lösung gewusst. Dass die anderen nicht darauf gekommen waren, war so erstaunlich nicht. Du hast nun mal einen Wissensvorsprung. Beim monatelangen Abhören von Saunières Gesprächen hatte der Lehrer den Großmeister mehrere Male den fraglichen Ritter erwähnen hören – stets mit einer Wertschätzung, die seiner Achtung vor Leonardo da Vinci kaum nachstand. Der Bezug des Vierzeilers auf den Ritter war fast schon zu einfach, wenn man erst einmal dahinter gekommen war – eine Meisterleistung Saunières –, aber wie man über das Grabmal zum fehlenden letzten Passwort kommen sollte, war noch ein völlig ungelöstes Rätsel.
Such die Kugel, die auf dem Grab sollt' sein.
Der Lehrer erinnerte sich vage an Fotos dieses berühmten Monuments, insbesondere an sein auffälligstes Merkmal. Eine großartige Kugel. Die auf dem Sarkophag befindliche riesige Kugel war fast so groß wie der Sarkophag selbst. Für den Lehrer war ihr Vorhandensein ermutigend und beunruhigend zugleich. Einerseits wirkte sie wie ein Wegweiser; andererseits bestand dem Gedicht zufolge das fehlende Stück des Rätsels aus einer Kugel oder einem Ball, die auf dem Grab sein sollten, sich aber nicht schon dort befanden. Der Lehrer hoffte, bei näherer Betrachtung des Grabmals der Antwort näher zu kommen.
Der Regen wurde stärker. Der Lehrer schob das Kryptex zum Schutz vor der Nässe noch tiefer in seine rechte Tasche. In der linken steckte der Medusa-Revolver. Minuten später trat er aus dem Regen in Londons bedeutendstes, neunhundert Jahre altes Bauwerk.
In dem Moment, als der Lehrer ins Trockene trat, trat Bischof Aringarosa in die Nässe. Auf dem Rollfeld des Flughafens Biggin Hill stieg er aus der engen Kabine des Flugzeugs hinaus in den Regen und schlug die Schöße der Soutane schützend um sich. Er hatte gehofft, von Capitaine Fache empfangen zu werden; stattdessen kam ein junger britischer Polizist mit einem Regenschirm herbeigelaufen.
»Bischof Aringarosa? Capitaine Fache konnte leider nicht so lange bleiben. Er hat mir den Auftrag erteilt, mich um Sie zu kümmern. Er möchte, dass ich Sie zu Scotland Yard bringe. Das ist seiner Meinung nach die sicherste Lösung.«
Die sicherste Lösung? Aringarosa wurde sich des schweren Aktenkoffers in seiner Hand bewusst, der mit Inhaberobligationen der Vatikanbank voll gestopft war. Er hatte ihn schon fast vergessen. »Ja, gewiss, vielen Dank.«
Als Aringarosa ins Polizeifahrzeug stieg, fragte er sich, wo Silas stecken mochte. Minuten später kam die Antwort knisternd aus dem Polizeifunk des Fahrzeugs.
Orme Court Nummer fünf.
Aringarosa kannte die Adresse.
Das Ordenshaus des Opus Dei in London.
Er tippte dem Fahrer auf die Schulter. »Bringen Sie mich bitte sofort dorthin!«