»Meine lieben Freunde«, sagte Teabing mit dem Beiklang des Bedauerns, während er Sophie und Langdon ins Visier nahm, »seit Sie gestern Nacht in mein Haus gekommen sind, habe ich alles versucht, um Sie aus der Schusslinie zu halten. Aber nun hat Ihre Hartnäckigkeit mich in eine schwierige Lage gebracht.«
Teabing sah den Schock und die Enttäuschung auf Sophies und Langdons Gesichtern.
Du musst ihnen noch sehr viel erklären … es gibt viele Dinge, die sie noch nicht wissen.
»Sie müssen mir glauben, dass es nie meine Absicht war, Sie in diese Geschehnisse zu verwickeln. Aber dann sind Sie bei mir im Château aufgetaucht, und … «
»Wir dachten, Sie seien in Gefahr!«, unterbrach Langdon ihn zornig, als er sich halbwegs gefasst hatte. »Wir sind hergekommen, um Ihnen zu helfen!«
»Genau darauf habe ich mich verlassen«, gab Teabing zurück. »Wir haben viel zu bereden.«
Langdon und Sophie starrten in die Mündung des Revolvers, der drohend auf sie gerichtet war.
»Nur, damit ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe«, sagte Teabing. »Hätte ich vorgehabt, Ihnen etwas anzutun, wären Sie längst tot. Als Sie gestern Nacht in mein Haus kamen, habe ich alles riskiert, um Ihr Leben zu retten. Ich bin ein ehrenhafter Mann. Ich habe auf Ehre und Gewissen geschworen, niemand zu opfern, es sei denn, er hat sich des Verrats am Sangreal schuldig gemacht.«
»Was reden Sie da?«, sagte Langdon. »Wie kann man den Sangreal verraten?«
»Ich habe eine schreckliche Wahrheit entdeckt«, sagte Teabing und seufzte. »Ich weiß, warum die Sangreal-Dokumente der Welt nicht zugänglich gemacht worden sind. Die Prieuré hat beschlossen, die Wahrheit im Verborgenen schlummern zu lassen. Deshalb konnte die Jahrtausendwende verstreichen und das Ende der Zeit anbrechen, ohne dass es zu einer Offenbarung kam.«
Langdon wollte widersprechen, doch Teabing ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Die Prieuré hat einen heiligen Auftrag erhalten, am Ende der Zeit die Wahrheit ans Licht zu bringen und der Welt die Sangreal-Dokumente zu offenbaren. Männer wie Leonardo da Vinci, Sandro Botticelli und Isaac Newton haben im Laufe der Jahrhunderte die größten Risiken auf sich genommen, um diesem Auftrag gerecht zu werden. Und nun kommt im letzten Moment ein Jacques Saunière daher und überlegt es sich anders! Der Mann, dem die unverdiente Ehre zugefallen ist, die größte Verantwortung in der Geschichte des Christentums zu tragen, hat sich davor gedrückt und kurzerhand erklärt, die Zeit sei noch nicht reif!« Teabing starrte Sophie an. »Er hat den Gral verraten. Er hat die Prieuré verraten. Und er hat die ungezählten Generationen verraten, die sich dafür eingesetzt haben, dass eines Tages die Wahrheit offenbart werden kann.«
»Sie also!«, rief Sophie, und ihre grünen Augen funkelten. »Sie sind der Drahtzieher des Mordes an meinem Großvater!«
»Ihr Großvater und seine Seneschalle waren Verräter am Gral«, spie Teabing verächtlich hervor.
Sophie spürte, wie heißer Zorn in ihr aufloderte. Er lügt!
»Ihr Großvater hat sich bei der Kirche angebiedert«, sagte Teabing kalt. »Es liegt doch auf der Hand, dass er dem Druck der Kirche nicht standgehalten und die Wahrheit zurückgehalten hat.«
Sophie schüttelte heftig den Kopf. »Die Kirche hatte nicht den geringsten Einfluss auf meinen Großvater!«
Teabing lachte höhnisch auf. »Meine Liebe, die Kirche hat zweitausend Jahre Erfahrung darin, Menschen unter Druck zu setzen, die das Lügengewebe der Kurie gefährden. Seit den Tagen Kaiser Konstantins hat sie erfolgreich die Wahrheit über Jesus und Maria Magdalena verbergen können. Also darf man getrost davon ausgehen, dass die Kirche auch diesmal wieder einen Weg gefunden hat, die Welt im Ungewissen zu lassen. Sie schickt zwar keine Kreuzritter mehr aus, um Ungläubige abzuschlachten, aber ihre Möglichkeiten der Einflussnahme haben keineswegs gelitten. Sie sind so wirksam wie eh und je – und genauso heimtückisch.« Er machte eine wirkungsvolle Pause. »Miss Neveu, hat Ihr Großvater nicht schon seit geraumer Zeit versucht, Sie in die Wahrheit über Ihre Familie einzuweihen?«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Sophie verwundert.
»Das ist im Moment unwichtig. Wichtig ist allein, dass Sie etwas darüber erfahren.« Er holte tief Luft. »Der Tod Ihrer Mutter und Großmutter, Ihres Vaters und Ihres Bruders war kein normaler Unfall.«
Sophies Gedanken rasten. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Laut hervor.
Langdon schüttelte den Kopf. »Was behaupten Sie da?«, herrschte er Teabing an.
»Ist das denn nicht die Erklärung, Robert? Passt denn nicht alles genau zusammen? Die Geschichte hat sich wiederholt. Die Kirche hat noch nie vor Mord und Totschlag zurückgeschreckt, zumal, wenn es um den Gral ging. Als das Ende der Zeit nahte, wurden die Angehörigen des Großmeisters der Prieuré gerötet, um ihm eine unmissverständliche Botschaft zu übermitteln: Bewahre Stillschweigen, oder du selbst und deine Enkelin sind die Nächsten!«
»Es war … ein Verkehrsunfall«, sagte Sophie stockend. Die Qualen der Kindheit stiegen wieder in ihr auf. »Ein Unfall!«
»Das sind Gutenachtgeschichten, die man Ihnen aufgetischt hat!«, stieß Teabing hervor. »Fällt Ihnen denn nicht auf, dass nur zwei Mitglieder Ihrer Familie bisher mit dem Leben davongekommen sind? Jacques Saunière, Großmeister der Prieuré de Sion und Sie selbst, seine Enkelin? Ein besseres Druckmittel zur Kontrolle der Prieuré konnte es für die Kirche gar nicht geben. Ihr Großvater muss in den vergangenen Jahrzehnten unter furchtbarem Druck gestanden haben! Ihm saß die Drohung der Kirche im Nacken, dass man ihn abschlachtete und dass auch Sie getötet würden, falls er die Prieuré nicht dazu brachte, dem uralten Gelübde abzuschwören, das Geheimnis des Sangreal zu lüften.«
»Unsinn«, sagte Langdon verärgert. »Ihnen fehlt jeder Beweis, dass die Kirche etwas mit diesem Unfall zu tun hatte oder dass sie die Prieuré zum Schweigen gezwungen hat.«
»Beweis?«, rief Teabing. »Sie wollen einen Beweis, dass die Prieuré unter Druck gesetzt wurde? Das neue Jahrtausend ist angebrochen, und die Welt verharrt immer noch in Unkenntnis! Ist das nicht Beweis genug?«
Sophie hörte eine Stimme tief in ihrem Innern: Ich muss dir die Wahrheit über deine Familie erzählen, Sophie … Sie zitterte am ganzen Leib. War das die Wahrheit, die der Großvater ihr die ganze Zeit erzählen wollte? Dass ihre Familie ermordet worden war? Was wusste sie eigentlich über den Unfall? Nur ein paar verschwommene Einzelheiten. Sogar die Berichte in den Zeitungen waren nebulös gewesen.
Ein Verkehrsunfall? Oder eine Gutenachtgeschichte, wie Teabing behauptete?
Auf einmal erinnerte Sophie sich wieder an die übertriebene Besorgtheit ihres Großvaters, der sie als Kind nie allein lassen wollte. Selbst während ihrer Studienzeit hatte Sophie noch das Gefühl gehabt, vom Großvater genauestens beobachtet zu werden. Hatte die Prieuré tatsächlich die schützende Hand über sie gehalten, solange sie lebte, und sie aus dem Hintergrund beobachtet?
Langdon blickte Teabing ungläubig an. »Und weil Sie den Verdacht hatten, dass Saunière beeinflusst worden ist, haben Sie ihn kurzerhand umgebracht.«
»Ich habe den Abzug nicht betätigt«, sagte Teabing. »Saunière war schon seit Jahren ein toter Mann – von dem Moment an, als die Kirche ihn seiner Familie beraubte. Damit war er kompromittiert. Jetzt ist er von dieser Qual erlöst und von der Schande befreit, seiner heiligen Pflicht nicht gewachsen gewesen zu sein. Saunière musste sterben. Bedenken Sie doch die Alternative! Es musste etwas geschehen. Oder soll die Welt auf ewig unwissend bleiben? Sollen die Lügenmärchen der Kirche für alle Ewigkeit in unseren Geschichtsbüchern stehen? Soll die Kirche auf ewig mit Mord und Nötigung ihren Einfluss sichern können? Nein, es war an der Zeit, dass etwas geschah. Und jetzt sind wir im Begriff, Saunières Vermächtnis zu erfüllen und ein schreckliches Unrecht wieder gutzumachen.« Teabing hielt inne. »Wir drei.«
Sophie konnte es nicht fassen. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass wir Ihnen helfen?«
»Weil Sie der Grund dafür sind, dass die Prieuré die geheimen Dokumente nicht veröffentlicht hat. Die Liebe Ihres Großvaters zu seiner Enkelin war der Grund dafür, dass er die Kirche nicht bloßgestellt hat. Die Angst vor Repressalien gegen die letzte Überlebende seiner Familie. Saunière war handlungsunfähig! Weil Sie ihn abgewiesen haben, Sophie, haben Sie ihm jede Chance genommen, Sie in die Wahrheit einzuweihen! Sie haben ihm die Hände gebunden, haben ihn warten lassen. Jetzt sind Sie an der Reihe. Sie schulden der Welt die Wahrheit. Sie sind es dem Andenken Ihres Großvaters schuldig!«
Ungeachtet des Gewitters ungelöster Fragen, das in seinem Kopf tobte, war für Langdon jetzt nur noch eines wichtig – er musste Sophie lebend hier herausbekommen. Die Schuldgefühle, die er zuvor an Teabing verschwendet hatte, galten nun Sophie Neveu.
Du hast sie nach Château Villette gebracht. Du bist für alles verantwortlich.
Langdon konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass Teabing imstande war, ihn und Sophie hier im Kapitelhaus kaltblütig zu töten. Andererseits war er offensichtlich in die vielen Morde verwickelt, zu denen es bei dieser unglückseligen Schatzsuche gekommen war. Langdon hatte das bedrückende Gefühl, dass in diesem abgeschiedenen Saal ein paar Schüsse nicht auffallen würden, zumal bei diesem Regen. Außerdem hatte Teabing soeben ein Geständnis vor ihnen abgelegt.
Langdon blickte Sophie an, die totenblass geworden war. Die Kirche soll ihre Familie ermordet haben, um das Schweigen der Prieuré zu erzwingen? Langdon schüttelte den Kopf. Es musste eine andere Erklärung geben.
»Lassen Sie Sophie gehen«, forderte er Teabing auf und blickte ihn fest an. »Wir sollten diese Sache unter uns ausmachen.«
Teabing lachte leise. »Ich fürchte, zu diesem Vertrauensbeweis bin ich nicht in der Lage. Aber ich bin bereit, Ihnen dafür etwas anderes anzubieten.« Auf die Krücken gestützt, hielt er die Waffe auf Sophie gerichtet, während er in die Tasche griff, das Kryptex hervorzog und es Langdon hinhielt. »Als Beweis meines Vertrauens, Robert.«
Langdon verharrte argwöhnisch. Weshalb gibt er uns das Kryptex zurück!
»Nun nehmen Sie schon«, sagte Teabing und hielt es Langdon hin.
Langdon hatte nur eine Erklärung für Teabings Verhalten. »Sie haben das Kryptex bereits geöffnet. Der Wegweiser ist nicht mehr drin.«
Teabing schüttelte den Kopf. »Wenn ich das Passwort gefunden hätte, Robert, wäre ich längst verschwunden, um den Gral allein zu finden. Aber ich kenne das Passwort nicht – und das gebe ich offen zu. Angesichts des Grals lernt ein echter Ritter Bescheidenheit. Und er lernt, auf Zeichen zu achten. Als ich Sie und Miss Neveu diese Kirche betreten sah, habe ich begriffen. Sie sind gekommen, weil irgendetwas Sie hierher getrieben hat. Mir geht es nicht um persönlichen Ruhm. Ich diene einem viel höheren Herrn als meiner eigenen Eitelkeit. Ich diene der Wahrheit. Die Menschheit hat ein Anrecht darauf. Der Gral hat uns gefunden, und nun bittet er uns, dass wir ihn der Menschheit enthüllen. Wir müssen dieses Werk gemeinsam vollbringen.«
Trotz der Bitte um Zusammenarbeit und Vertrauen hielt Teabing die Waffe unverwandt auf Sophie gerichtet, während Langdon ihm den kalten Marmorzylinder aus der Hand nahm. Als er ihn ergriff und einen Schritt zurücktrat, gluckerte im Innern der Essig. Die Segmente befanden sich noch in einer zufälligen Anordnung – das Kryptex war fest verschlossen.
Langdon sah Teabing an. »Wie können Sie sicher sein, dass ich das Kryptex nicht zertrümmere?«
Teabing lachte gespenstisch in sich hinein. »Ich hatte schon in der Temple Church erkennen müssen, dass das eine leere Drohung war. Ein Robert Langdon würde den Schlussstein niemals zerstören – dafür sind Sie ein viel zu besessener Historiker. Robert, Sie halten den Schlüssel zu zweitausend Jahren Geschichte in der Hand – den verlorenen Schlüssel zum Sangreal. Hören Sie denn nicht die Schreie der gequälten Seelen jener Ritter, die sich zur Wahrung des Geheimnisses auf den Scheiterhaufen zerren und verbrennen ließen? Wollen Sie, dass diese Männer vergeblich gestorben sind? Sie, Robert, werden sich mit den großen Geistern, denen Ihre Bewunderung gilt, in eine Reihe stellen können – mit da Vinci, Botticelli, Newton. Jeder dieser Großen hätte es als Ehre empfunden, jetzt Ihren Platz einnehmen zu dürfen. Der Inhalt des Kryptex muss endlich offenbart werden. Die Zeit ist gekommen, Robert, und das Schicksal hat diesen Augenblick erwählt!«
»Aber ich kann Ihnen nicht helfen, Leigh. Ich habe keine Ahnung, wie ich das Kryptex aufbekommen soll. Ich konnte Newtons Grab nur kurz in Augenschein nehmen, und selbst wenn ich das Passwort wüsste … « Langdon verstummte. Er hatte schon zu viel gesagt.
» … dann würden Sie es mir nicht verraten?« Teabing seufzte. »Robert, ich bin sehr enttäuscht, dass Sie anscheinend nicht begreifen, wie tief Sie in meiner Schuld stehen. Meine Aufgabe wäre viel einfacher gewesen, hätten Rémy und ich Sie bereits in dem Moment ausgeschaltet, als Sie auf Château Villette erschienen sind. Stattdessen habe ich alles aufs Spiel gesetzt, um einen achtbareren Weg zu beschreiten.«
Langdon blickte auf die Waffe in Teabings Hand. »Das soll achtbar sein?«, rief er aus.
»Es ist Saunières Schuld«, verteidigte sich Teabing. »Hätten er und seine Seneschalle Silas nicht in die Irre geführt, hätte ich ohne Schwierigkeiten in den Besitz des Schlusssteins gelangen können. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass der Großmeister der Prieuré so gewaltige Anstrengungen unternimmt, um mich zu täuschen und den Schlussstein seiner Enkelin zu vermachen – einer Außenstehenden?« Teabing musterte Sophie verächtlich. »Einer Person, deren Wissen so beschränkt ist, dass sie einen Symbolkundler als Babysitter braucht.« Teabings Blick glitt zurück zu Langdon. »Ihr Eingreifen hat sich für mich allerdings als Glücksfall erwiesen. Ihnen ist es zu verdanken, dass der Schlussstein nicht auf ewig in einem Schließfach eingesperrt geblieben ist. Sie haben ihn befreit und sind mit ihm schnurstracks in mein Haus spaziert.«
Wohin sonst hätten wir uns wenden sollen?, dachte Langdon. Die Gemeinde der Gralhistoriker ist klein, und mit Leigh Teabing verbindet mich eine gemeinsame Geschichte.
Teabing blickte selbstgefällig drein. »Als ich hörte, dass der sterbende Saunière Ihnen eine Botschaft hinterlassen hatte, war mir sofort klar, dass Sie in den Besitz einer wertvollen Information der Prieuré gekommen waren. Ich wusste zwar nicht, ob es sich um den Schlussstein selbst oder nur um die Anweisung handelte, wie er zu finden sei, aber da Ihnen die Polizei auf den Fersen war, konnte ich mir ausrechnen, dass Sie früher oder später vor meiner Haustür auftauchen würden.«
Langdon blickte Teabing finster an. »Und wenn wir nicht gekommen wären?«
»Ich hatte mir bereits einen Plan zurechtgelegt, um Ihnen eine hilfreiche Hand entgegenzustrecken. Wie auch immer, der Schlussstein war auf dem Weg zum Château Villette. Dass Sie ihn selbst bei mir abgeliefert haben, macht nur umso deutlicher, dass meine Sache gerecht ist.«
Langdon verschlug es beinahe die Sprache. »Wie bitte?«
»Silas sollte ins Château Villette einbrechen und Ihnen den Schlussstein rauben – womit Sie unbeschadet aus dem Spiel gewesen waren, und mir hätte niemand eine Komplizenschaft nachsagen können. Doch als ich erkannte, wie kompliziert Saunières Verschlüsselungen waren, habe ich beschlossen, Sie noch ein bisschen länger in meine Suche einzubinden. Später, wenn mein Wissen ausreichte, die Suche allein weiterzuführen, konnte Silas den Schlussstein immer noch an sich bringen.«
»In der Temple Church«, sagte Sophie, und ihre Stimme bebte vor Enttäuschung.
Die Temple Church war tatsächlich der perfekte Ort gewesen, um Langdon und Sophie den Schlussstein abzunehmen. Die scheinbar offensichtliche Beziehung dieser Kirche zu dem rätselhaften Vierzeiler machte sie zu einem plausiblen Ziel – und einer perfekten Falle. Rémys Anweisung war eindeutig gewesen: aus dem Blickfeld bleiben, bis Silas den Schlussstein an sich gebracht hatte. Leider hatte Langdons Drohung, das Kryptex auf dem Boden zu zerschmettern, Rémy in Panik geraten lassen. Mit Bedauern dachte Teabing an seine vorgetäuschte Entführung. Wäre Rémy doch in der Versenkung geblieben! Er war die einzige Verbindung zu dir, und dieser Narr hat sein Gesicht gezeigt!
Silas hingegen war zum Glück verborgen geblieben, dass Teabing der geheimnisvolle »Lehrer« war; deshalb war es ein Leichtes gewesen, mit Silas' Hilfe Teabings Entführung zu inszenieren und ihn in ahnungsloser Unschuld zusehen zu lassen, wie Rémy den »Entführten« hinten in der Limousine »in Fesseln« legte. Nachdem die schalldichte Trennscheibe hochgefahren war, konnte Teabing in aller Ruhe Silas vorn auf dem Beifahrersitz anrufen und ihn mit dem gespielten französischen Akzent des Lehrers ins Ordenshaus von Opus Dei schicken. Ein anonymer Anruf bei der Polizei hatte genügt, Silas kaltzustellen.
Damit war dieses Problem gelöst.
Das nächste Problem war kniffliger gewesen: Rémy.
Die Entscheidung war Teabing schwer gefallen, doch Rémy hatte sich nun einmal als Risikofaktor erwiesen. Die Gralssuche verlangt Opfer. Die sauberste Lösung hatte Teabing in der Bar der Limousine entdeckt – einen Flachmann mit Cognac und eine Dose Erdnüsse. Der salzige Bodensatz der Dose hatte ausgereicht, um bei Rémy einen tödlichen Allergieschock auszulösen. Als Rémy den Wagen auf Horse Guards Parade geparkt hatte, war Teabing hinten ausgestiegen, nach vorn zur Beifahrertür gegangen und hatte sich neben Rémy gesetzt. Kurze Zeit später war er wieder ausgestiegen, hatte hinten im Wagen sämtliche Spuren beseitigt und sich dann aufgemacht, den letzten Teil seiner Mission zu erfüllen.
Westminster Abbey war nur ein kurzes Stück zu Fuß entfernt. Teabings Beinschienen, Krücken und der Revolver hatten natürlich den Metalldetektor ausgelöst, aber die Amateurpolizisten am Eingang waren mit der Situation heillos überfordert. Man kann den Mann doch nicht bitten, die Beinschienen abzulegen und auf allen vieren durch die Schleuse zu kriechen. Und einen Behinderten abtasten geht ja wohl auch nicht. Teabing lieferte den hilflosen Wachmännern die einfachste Lösung – eine Kennkarte mit geprägtem Wappen, mit der er sich als Angehöriger des britischen Adels auswies. In ihrem Eifer, Teabing zu helfen, waren die armen Kerle sich gegenseitig beinahe auf die Füße getreten.
Nun richtete Teabing den Blick auf Sophie und Langdon. Nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, sie in die geniale Finte einzuweihen, mit der er Opus Dei ins Geschehen mit einbezogen hatte und wie er der katholischen Kirche in Kürze eine Katastrophe bescheren würde. Aber das musste noch warten. Im Moment hatten andere Dinge Vorrang.
»Mes amis«, sagte Teabing in tadellosem Französisch, »vous ne trouvez pas le Saint-Graal, c'est le Saint-Graal qui vous trouve.« Du wirst den heiligen Gral nicht finden, der Heilige Gral findet dich. Er lächelte. »Der Weg, den wir von nun an gemeinsam gehen werden, könnte klarer nicht sein. Der Gral hat uns gefunden.«
Stille.
Teabing senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Können Sie es hören? Hören Sie es? Der Gral spricht zu uns, über die Jahrhunderte hinweg. Er fleht uns an, ihn vor der Torheit der Prieuré zu retten. Und ich flehe Sie an, diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Hier und jetzt sind jene drei Menschen beisammen, die am ehesten fähig sind, das letzte Codewort zu knacken und das Kryptex zu öffnen.« Teabing hielt inne. Seine Augen leuchteten. »Wir müssen einen Schwur anlegen und uns gegenseitiges Vertrauen geloben. Wir müssen ein ritterliches Bündnis schließen, die Wahrheit zu enthüllen und zu verbreiten.«
Sophie starrte Teabing unversöhnlich in die Augen. »Ich werde dem Mörder meines Großvaters niemals etwas schwören«, stieß sie hervor, »es sei denn, ihn hinter Gitter zu bringen.«
»Mademoiselle, ich bedaure Ihre Entscheidung.« Teabing wandte sich von Sophie ab und richtete die Waffe auf Langdon. »Und Sie, Robert? Sind Sie für oder gegen mich?«