72. KAPITEL

Viereinhalbtausend Meter über der Erde spürte Langdon, wie die reale Welt von ihm abfiel. All seine Gedanken hatten sich auf Saunières Vierzeiler konzentriert, der im Gegenlicht innen im Deckel des Rosenholzkästchens lesbar geworden war.

Sophie hatte sich einen Zettel genommen und den Text abgeschrieben. Als sie fertig war, reichte sie den Zettel an Langdon, der die Zeilen studierte und den Zettel dann an Teabing weitergab. Es war ein Art archäologisches Kreuzworträtsel, ein Ratespiel, dessen Lösung den Zugang zum Inhalt des Kryptex versprach.

An ancient word of wisdom frees this scroll and helps to keep her scatter'd family whole. A headstone praised by templars is the key and atbash will reveal the truth to thee.

(Ein uralt Wort der Weisheit löst den Bann. Macht die Familie wieder heil sodann. Schlüssel ist ein gepriesener Templerstein, Atbasch allein schenkt die Wahrheit dir ein.)

Bevor Langdon auch nur einen Gedanken darauf richten konnte, aus den Versen das Passwort zu filtern, begann tief in seinem Innern eine ganz andere Saite zu schwingen, die das Versmaß betraf.

Fünffüßige Jamben.

Bei seiner mehrjährigen Forschungsarbeit über europäische Geheimgesellschaften war Langdon häufig auf dieses Versmaß gestoßen, das letzte Mal im Jahr zuvor in den Geheimarchiven des Vatikans. Seit Jahrtausenden war der fünffüßige Jambus oder Blankvers das bevorzugte Versmaß der Hochliteratur gewesen, von Archilochus im alten Griechenland bis hin zu Shakespeare, Milton, Chaucer and Voltaire – alles kühne Männer, die sich bei der Niederschrift ihrer Kritik an der Gesellschaft ein Versmaß ausgesucht hatten, dem man zu ihrer Zeit mystische Qualitäten zuerkannte. Der fünffüßige Jambus war tief im heidnischen Denken verwurzelt.

Der Jambus. Zwei Silben mit unterschiedlichen Hebungen. Betont und unbetont. Yin und Yang. Ein ausgeglichenes Paar. Angeordnet in einer Fünferfolge. Fünf für das Pentagramm der Venus und das göttlich Weibliche.

»Das sind fünffüßige Jamben!«, platzte Teabing heraus. »Und die Verse sind englisch! La lingua pura

Langdon nickte. Wie viele europäische Geheimgesellschaften, die sich im Konflikt mit der Kirche befanden, hatte auch die Prieuré über Jahrhunderte hinweg das Englische als die einzige reine europäische Sprache gelten lassen. Anders als das Französische, Spanische und Italienische, die im Lateinischen wurzelten, war das Englische für die Propagandamaschine der Kirche zu sperrig und wurde deshalb zur heiligen Geheimsprache jener Bruderschaften, deren Mitglieder über ausreichend Bildung verfügten, um diese Sprache zu erlernen.

»Dieses Gedicht«, begeisterte sich Teabing, »bezieht sich nicht nur auf den Gral, sondern auch auf die Tempelritter und die verstreute Familie der Maria Magdalena. Was will das Herz noch mehr?«

»Das Passwort«, sagte Sophie trocken und betrachtete wieder das Gedicht. »Mir scheint, wir brauchen ein ›uraltes Wort der Weisheit‹.«

»Abrakadabra?«, blödelte Teabing und zwinkerte ihr zu.

Ein Wort mit fünf Buchstaben, dachte Langdon und hielt sich die unermessliche Zahl alter Wörter vor Augen, die als Wort der Weisheit gelten mochten – Wörter aus mystischen Gesängen, aus astrologischen Prophezeiungen, aus den Initiationsriten und Einweihungszeremonien der Geheimgesellschaften, aus Wicca-Ritualen, aus altägyptischen Bannflüchen, aus heidnischen Mantras. Die Liste war endlos.

»Das Passwort scheint etwas mit den Tempelrittern zu tun zu haben«, meinte Sophie und las laut vor. »Schlüssel ist ein gepriesener Templerstein.«

»Die Templer sind doch Ihr Spezialgebiet, Sir Leigh«, sagte Langdon. »Haben Sie eine Idee?«

Teabing zögerte; dann seufzte er und sagte: »Es könnte von einem Grabstein die Rede sein. Vielleicht bezieht sich die Zeile auf einen Grabstein, den die Templer als letzte Ruhestätte Maria Magdalenas verehrt haben. Aber da wir nicht wissen, wo sich dieses Grab befindet, hilft uns das auch nicht weiter.«

»In der letzten Zeile heißt es, ›Atbasch allein schenkt die Wahrheit dir ein‹. Ich habe dieses Wort schon mal irgendwo gehört«, bemerkte Sophie.

»Das überrascht mich nicht«, antwortete Langdon. »Die Atbasch-Chiffre ist einer der ältesten Geheimcodes der Menschheitsgeschichte.«

Natürlich!, dachte Sophie. Das berühmte hebräische Verschlüsselungssystem.

Als Kryptologin wusste sie, dass der Atbasch-Code auf das Jahr 500 v. Chr. zurückging und als Schulbeispiel für einen einfachen Austauschcode im Rotationssystem galt. Der im jüdischen Sprachbereich weit verbreitete Code beruhte darauf, dass der erste Buchstabe des zweiundzwanzig Buchstaben umfassenden jüdischen Alphabets gegen den letzten ausgetauscht wurde, der zweite gegen den vorletzten und so weiter.

»Atbasch passt auf hintergründige Weise ganz hervorragend«, sagte Teabing. »Atbasch-codierte Texte findet man überall in der Kabbala, in den Schriftrollen vom Toten Meer und sogar im Alten Testament. Noch heute spüren jüdische Schriftgelehrte und Wissenschaftler verborgene Bedeutungen auf, indem sie den Atbasch-Code benutzen. Es ist davon auszugehen, dass die Prieuré diesen Code in ihren Lehren weitervermittelt hat.«

»Womit wir allerdings vor dem kleinen Problem stünden, dass wir keinen Text haben, auf den wir den Atbasch-Code anwenden könnten«, meinte Langdon. »Atbasch ist der Schlüssel, aber uns fehlt das Schloss.«

»Auf dem Grabstein muss sich ein Codewort befinden«, sagte Teabing nachdenklich. »Wir müssen den »gepriesenen Templerstein« finden.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Liebe Freunde«, sagte er, »ich werde uns etwas zum Knabbern besorgen und nachsehen, wie es Rémy und unserem Gast ergeht.«

Sophie sah ihm nachdenklich hinterher und blickte dann durchs Flugzeugfenster hinaus in die Schwärze der Nacht in der Stunde vor der Morgendämmerung. Sie hatte das Gefühl, durch den Raum geschleudert zu werden, ohne zu wissen, wo sich ihr Ziel befand. Als sie an die vielen Rätsel dachte, die der Schreiber dieser Zeilen, ihr Großvater, ihr als Kind aufgegeben hatte, beschlich sie das ungute Gefühl, dass in den Verszeilen weitere Informationen steckten, die ihnen bislang jedoch verborgen geblieben waren.

Wir haben noch nicht alles begriffen. In den Zeilen ist noch mehr versteckt, nur sehen wir es nicht …

Die Befürchtung, dass der Inhalt des Kryptex, so sie es denn endlich geöffnet hatten, sich nicht ohne weiteres als »Wegweiser zum Gral« entpuppen würde, beunruhigte Sophie zusätzlich. Ungeachtet Teabings und Langdons Optimismus, dass des Rätsels endgültige Lösung in dem Marmorzylinder beschlossen lag, hatte Sophie genügend »Schatzsuchen« ihres Großvaters erlebt, um zu wissen, dass Jacques Saunière seine Geheimnisse nicht so leicht preisgab.

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