Bezu Fache hatte sein Handy ausgeschaltet, um bei seinem Gespräch mit Langdon nicht gestört zu werden. Doch er besaß ein teures Model! mit integriertem Sprechfunk, über den er nun entgegen seinen Anordnungen angerufen wurde.
»Capitaine?«, krächzte es aus dem Apparat wie aus einem Walkie-Talkie.
Fache kam die Galle hoch. Was konnte so wichtig sein, dass Collet die surveillance cachée unterbrach, und das auch noch in diesem entscheidenden Moment der Entwicklung?
Er bedachte Langdon mit einem entschuldigenden Blick. »Einen Moment bitte«, sagte er, zog das Handy aus der Gürtel rasche und druckte den Sprechknopf.
»Oui?«
»Capitaine, un agent du Département de Cryptographie est arrive.«
Faches Ärger war wie weggeblasen. Jemand von der Dechiffrierabteilung ist gekommen? Das konnte trotz des miserablen Timings eine gute Nachricht sein. Fache hatte Bilder des Tatorts samt Saunières geheimnisvollem Text per E-Mail an diese Abteilung geschickt. Vielleicht konnte ihm dort jemand sagen, was das alles zu bedeuten hatte. Das Eintreffen eines Codeknackers ließ vermuten, dass es gelungen war, Saunières geheimnisvolle Mitteilung zu entziffern.
»Ich bin im Moment unabkömmlich«, funkte Fache zurück. Sein tadelnder Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass eine solche Störung nicht mehr vorkommen durfte. »Bitten Sie den Beamten, in der Einsatzleitung zu warten, ich werde mich mit ihm unterhalten, sobald ich hier fertig bin.«
»Mit ihr«, berichtigte Collets Stimme. »Es ist Agentin Neveu.«
Faches Laune stürzte unaufhaltsam dem absoluten Nullpunkt entgegen. Sophie Neveu war eine der größten personellen Fehlentscheidungen seiner Behörde gewesen. Im Zuge der Bemühungen um die Erhöhung der Frauenquote im Polizeidienst hatte das Innenministerium die junge Pariser Kryptographin, die in England am Royal Holloway Institute studiert hatte, Fache vor zwei Jahren aufs Auge gedrückt. Nach Faches Überzeugung schwächten die andauernden Eingriffe des um Political Correctness buhlenden Ministeriums die Schlagkraft seiner Truppe. Nicht nur, dass Frauen körperlich den Anforderungen der Polizeiarbeit nicht gewachsen waren, allein schon ihre Gegenwart stellte für die mit den Ermittlungen befassten Männer eine gefährliche Ablenkung dar. Und wie Fache befürchtet hatte, erwies Sophie Neveu sich als Ablenkungsfaktor höchsten Grades.
Die Zweiunddreißigjährige besaß einen Eigensinn, der an Insubordination grenzte. Mir ihrem vehementen Eintreten für die neuen, in Großbritannien entwickelten Ansätze und Methoden ihres Fachgebiets brachte sie ihre altgedienten französischen Kollegen und Vorgesetzten immer wieder zur Verzweiflung. Aber am meisten Sorge bereitete Fache die altbekannte Tatsache, dass in einem Stall voller Männer in den besten Jahren bei Anwesenheit einer attraktiven jungen Frau die Arbeitsmoral unweigerlich in die Binsen ging.
»Capitaine, Agentin Neveu hat darauf bestanden, sofort mit Ihnen persönlich zu sprechen«, tönte es aus dem Gerät. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber sie ist bereits auf dem Weg in die Grande Galerie.«
Fache glaubte, sich verhört zu haben. »Habe ich nicht ausdrücklich gesagt … «
Einen Moment lang befürchtete Langdon, Fache hätte einen Herzanfall erlitten. Fache verstummte abrupt; seine Kinnlade blieb mitten im Satz stehen, und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Sein Blick saugte sich an irgendetwas fest, das hinter Langdons Rücken vorzugehen schien. Bevor der sich umdrehen und nachsehen konnte, was Fache die Fassung raubte, hörte er hinter sich eine klangvolle Frauenstimme.
»Excusez-moi, messieurs.«
Langdon wandte sich um. Er sah eine junge Dame mit langen geschmeidigen Schritten den Flur herunterkommen. Sie näherte sich ihm und Fache. Die Selbstsicherheit, mit der sie sich bewegte, hatte etwas Berückendes. Die attraktive, ungefähr dreißigjährige Frau war leger mit einem knielangen, cremefarbenen irischen Pullover und schwarzen Leggings bekleidet. Das schulterlange burgunderrote Haar, das keinen Friseur zu brauchen schien, umrahmte ein offenes, freundliches Gesicht. Ganz anders als die künstlichen Hochglanz-Blondinen an den Wänden der Studentenbuden von Harvard war diese Frau von einer gesunden, unaufdringlichen Schönheit und strahlte beträchtliches Selbstbewusstsein aus.
Zu Langdons Überraschung ging sie direkt auf ihn zu und streckte ihm höflich die Hand entgegen. »Monsieur Langdon, ich bin Sophie Neveu von der Dechiffrierabteilung des DCPJ.« Ein schwacher französischer Akzent durchwirkte ihre sonore Stimme. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«
Langdon ergriff ihre weiche, trockene Hand. Der unbestechliche Blick ihrer klaren grünen Augen hielt ihn für einen Moment gefangen.
Fache holte tief Luft, um ein Donnerwetter loszulassen, doch Sophie Neveu kam ihm zuvor.
»Capitaine, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber … «
»Sie hätten wirklich keinen ungeeigneteren Moment wählen können«, platzte er heraus.
»Ich habe versucht, mich telefonisch anzumelden«, erklärte Sophie in höflicher Rücksichtnahme auf Langdon auf Englisch, »aber Sie hatten Ihr Mobiltelefon abgeschaltet.«
»Dafür gibt es Gründe«, sagte er gereizt. »Ich führe hier ein Gespräch mit Mr Langdon, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte.«
»Ich habe den Code entziffert«, entgegnete Sophie ungerührt, Langdon war wie elektrisiert. Sie hat den Code geknackt?
Fache wusste nicht, wie er reagieren sollte.
»Ich werde Ihnen das Ergebnis gleich erläutern«, fuhr Sophie fort, »aber zuvor muss ich eine dringende Nachricht an Mr Langdon weitergeben.«
Faches Miene wurde argwöhnisch. »Eine Nachricht für Mr Langdon?«
Sophie nickte und wandte sich wieder Langdon zu. »Sie müssen sofort Verbindung mit der amerikanischen Botschaft aufnehmen. Man hat dort eine Nachricht aus den Vereinigten Staaten für Sie.«
Langdons Erregung über den geknackten Code wich Besorgnis. Eine Nachricht aus den Vereinigten Staaten? Wer konnte versucht haben, ihn zu erreichen? Nur eine Hand voll Kollegen wussten, dass er in Paris war.
»Die amerikanische Botschaft?«, sagte Fache argwöhnisch. »Wie kann man dort überhaupt wissen, dass Mr Langdon sich zurzeit hier aufhält?«
Sophie zuckte die Achseln. »Anscheinend hat die Botschaft in Mr Langdons Hotel angerufen und erfahren, dass er von einem Beamten des DCPJ abgeholt wurde.«
»Und dann hat die Botschaft die Dechiffrierabteilung des DCPJ angerufen?«, sagte Fache ungläubig.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Sophie. »Als ich unsere Vermittlung angerufen habe, um Verbindung mit Ihnen aufzunehmen, Capitaine, lag dort die Nachricht für Mr Langdon bereits vor. Man hat mich gebeten, ihn zu informieren, wenn ich mit Ihnen spreche.«
Fache hob ratlos die Brauen. Er wollte etwas sagen, doch Sophie hatte sich bereits Langdon zugewandt.
»Das hier«, sagte sie und zog einen Zettel aus der Tasche, »ist die Nummer des Informationsservice Ihrer Botschaft. Man hat um Ihren sofortigen Rückruf gebeten.« Sie drückte Langdon den Zettel in die Hand und blickte ihn vielsagend an. »Sie sollten jetzt gleich anrufen. Ich erkläre Capitaine Fache inzwischen den Code.«
Langdon sah auf den Zettel. Eine Pariser Telefonnummer und dahinter drei weitere Zahlen – vermutlich die Nummer der Nebenstelle – waren darauf notiert. »Vielen Dank«, sagte er beunruhigt. »Wo kann ich hier telefonieren?«
Sophie griff in die Tasche, um ihr Handy hervorzuziehen, doch Fache winkte unwirsch ab. Ohne Sophie aus den Augen zu lassen, zog er sein eigenes Mobiltelefon heraus und hielt es Langdon hin. »Benutzen Sie diesen Apparat, Mr Langdon. Er verfügt über eine abhörsichere Leitung«, sagte er kalt.
Langdon begriff nicht, weshalb Fache so gereizt auf die junge Frau reagierte. Ein wenig befremdet nahm er das Handy, das Fache ihm hinhielt. Fache bat Sophie ein paar Schritte zur Seite; dann redete er leise, jedoch unüberhörbar tadelnd auf sie ein.
Langdon fand den Capitaine immer unsympathischer. Er wandte sich ab, warf einen Blick auf den Zettel und tippte die Nummer ein.
Es klingelte.
Einmal … zweimal … dreimal …
Endlich kam die Verbindung zustande.
Langdon harre damit gerechnet, dass die Vermittlung der Botschaft sich meldete, doch es war nur ein Anrufbeantworter. Seltsamerweise kannte er die Stimme. Sie gehörte Sophie Neveu.
»Bonjour, vous êtes bien chez Sophie Neveu. Je suis absente pour le moment … « *(»Guten Abend, Sie sind mit Sophie Neveu verbunden. Ich bin im Moment nicht da … )
Verwundert schaute Langdon zu Sophie hinüber. »Miss Neveu, es tut mir Leid. Ich glaube Sie haben mir … «
»Nein, nein, das ist schon die richtige Nummer«, fiel Sophie ihm ins Wort, als hätte sie mit Langdons Verwirrung gerechnet. »Die amerikanische Botschaft hat ein automatisches Mailboxsystem. Wenn Sie die Codenummer eingehen, werden Sie zu Ihrer Mailbox durchgestellt.«
Langdon sah sie ratlos an. »Aber … «
»Es sind die drei Zahlen auf dem Zettel, den ich Ihnen gegeben habe.«
Langdon öffnete den Mund, um das Versehen klarzustellen, doch die unmissverständliche Botschaft, die Sophie ihm mit einem verschwörerischen Blick ihrer grünen Augen übermittelte, ließ ihn verstummen:
Keine langen Fragen. Machen Sie schon!
Verwirrt tippte Langdon die drei zusätzlichen Zahlen auf dem Zettel ein: 454.
Sophies Ansagetext wurde unterbrochen. »Sie haben eine Nachricht«, sagte eine französische Computerstimme. 454 war offenbar Sophie Neveus Fernabfragecode.
Wie kommst du dazu, den Anrufbeantworter dieser Frau abzufragen!
Langdon hörte, wie die Kassette zurückspulte; dann lief das Band an. Wieder vernahm Langdon Sophies Stimme.
»Mr Langdon«, flüsterte sie beschwörend. »Bitte lassen Sie sich beim Abhören meiner Nachricht auf keinen Fall etwas anmerken. Hören Sie einfach nur zu. Sie sind in Gefahr. Tun Sie genau, was ich Ihnen jetzt sage … «