34. KAPITEL

Der Fahrer, der Bischof Aringarosa am Flughafen Leonardo da Vinci in Rom abholte, kam in einem kleinen, unauffälligen schwarzen Fiat vorgefahren.

Aringarosa erinnerte sich an die Tage, als Fahrgäste des Vatikans in riesigen Luxuslimousinen mit Diplomatenkennzeichen unter dem chromblitzenden Kühlergrill und einer Standarte mit dem Wappen des Heiligen Stuhls auf dem Kotflügel chauffiert worden waren. Das waren noch Zeiten. Heutzutage waren die Fahrzeuge des Vatikans erheblich schlichter geworden und auch nicht mehr als solche erkennbar. Im Vatikan hieß es, man wolle zum Wohle der Diözesen Kosten sparen, doch Aringarosa hatte den Verdacht, dass es sich um eine Sicherheitsmaßnahme handelte.

Die Welt war aus den Fugen geraten. In vielen Gegenden Europas wirkte es inzwischen wie ein rotes Tuch, wenn man sich öffentlich als jemand zu erkennen gab, dem christliche Werte am Herzen lagen.

Aringarosa raffte die Schöße der Soutane um sich, nahm auf dem Rücksitz Platz und stellte sich innerlich auf die lange Fahrt zum Castel Gandolfo ein – die gleiche Fahrt, die er schon fünf Monate zuvor gemacht hatte.

Die Reise nach Rom Ende letzten Jahres, er seufzte leise, war die längste Reise deines Lebens.

Vor fünf Monaten war er telefonisch nach Rom beordert worden – unverzüglich. Einen Grund hatte man nicht genannt. Ihr Ticket liegt am Flughafen für Sie bereit. Der Heilige Stuhl legte Wert darauf, einen Rest vom Schleier des Geheimnisvollen zu wahren, auch gegenüber seinem hohen Klerus.

Aringarosa hatte den Verdacht gehabt, bei dem mysteriösen Gestellungsbefehl gehe es um einen Fototermin mit dem Papst und anderen hohen kirchlichen Würdenträgern, damit der Vatikan den jüngsten Medienerfolg des Opus Dei – die Fertigstellung des Opus-Dei-Hauptquartiers in New York – für sich ausschlachten konnte. Die Zeitschrift Architectural Digest hatte das neue Gebäude als »brillantes Leuchtfeuer des Katholizismus, das sich sublim in die moderne Stadtlandschaft einfügt« gepriesen. Der Vatikan schien neuerdings eine Vorliebe für Dinge zu entwickeln, die sich mit dem Beiwort »modern« schmückten.

Aringarosa hatte keine andere Wahl gehabt, als der »Einladung« Folge zu leisten, wenn auch nicht mit wehenden Fahnen. Wie die Mehrheit des konservativen Klerus war Aringarosa von der derzeitigen Kurie keineswegs begeistert und hatte die Entwicklungen im ersten Jahr der Amtsführung des neuen Papstes mir größter Besorgnis verfolgt. Seine Heiligkeit, ein außergewöhnlich liberaler Mann, war durch eines der umstrittensten Konklave in der Geschichte des Vatikans in sein Amt gelangt. Anstatt sich nach seinem unerwarteten Aufstieg an die Spitze der Kurie in Bescheidenheit und Zurückhaltung zu üben, hatte der Heilige Vater stattdessen mit der vollen Wucht der immensen Machtfülle des höchsten Amtes der Christenheit auf den Tisch gehauen. Von einer befremdlichen Welle der Sympathie des Kardinalskollegiums getragen, hatte der Papst erklärt, er sehe seine Sendung darin, »die vatikanische Lehre zu verjüngen und den Katholizismus den Erfordernissen des dritten Jahrtausends zu öffnen«.

Nach Aringarosas Befürchtung hieß das im Klartext, dass dieser Mann in seiner Arroganz tatsächlich glaubte, er könne die Herzen jener, denen die Anforderungen des wahren Katholizismus in der modernen Welt zu unbequem geworden waren, durch eine Neufassung der Gesetze Gottes zurückgewinnen.

Aringarosa hatte sein ganzes, angesichts der gewaltigen Gefolgschaft und Finanzkraft des Opus Dei erhebliches politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um dem Papst und seinen Beratern begreiflich zu machen, dass eine Aufweichung der Gesetze der Kirche nicht nur eine feige Verleugnung des Glaubens war, sondern obendrein politischer Selbstmord. Er hatte sie daran erinnert, dass die bereits erfolgte Lockerung des Kirchengesetzes – das Fiasko des Zweiten Vatikanischen Konzils – ein verheerendes Vermächtnis hinterlassen hatte. Der Kirchenbesuch war so dürftig geworden wie noch nie, das Spendenaufkommen magerer denn je, und es gab noch nicht einmal ausreichend Priesternachwuchs, um sämtliche vakanten Pfarrstellen zu besetzen.

Die Kirche muss den Menschen eine feste Hand und seelische Führung bieten, hatte er mit Nachdruck erklärt, und keinen liebedienerischen Schmusekurs!

An jenem Abend vor ein paar Monaten hatte Aringarosa sich gewunden, dass der Fiat nach Verlassen des Flughafengeländes nicht die Richtung zur Vatikanstadt einschlug, sondern nach Osten fuhr, wo es bald auf einer kurvenreichen Straße bergauf ging. »Wo fahren Sie hin?«, hatte Aringarosa den Mann am Steuer gefragt.

»In die Albaner Berge, Exzellenz. Die Zusammenkunft findet im Castel Gandolfo statt.«

In der Sommerresidenz des Papstes? Aringarosa hatte sie nie kennen gelernt und auch nie das Bedürfnis gehabt. Das Kastell aus dem sechzehnten Jahrhundert war nicht nur päpstliche Sommerresidenz, es beherbergte auch das päpstliche Observatorium Specula Vaticana – eine der modernsten Sternwarten Europas. Im Laufe der jüngeren Geschichte hatte der Vatikan auf naturwissenschaftlichem Gebiet immer öfter die Stimme erhoben, was Aringarosa stets missfallen hatte. Wozu Naturwissenschaft und Glauben miteinander versöhnen? Wie könnte ein gläubiger Naturwissenschaftler wertfreie Forschung betreiben? Außerdem brauchte der Glauben keine wissenschaftliche Rechtfertigung.

Da wären wir, hatte Aringarosa gedacht, als er damals Castel Gandolfo vor einem sternenübersäten Novembernachthimmel ins Blickfeld kommen sah. Von der Zufahrtsstraße aus betrachtet, ähnelte Gandolfo einem gewaltigen steinernen Ungeheuer, das im Begriff war, einen selbstmörderischen Sprung in den Abgrund zu tun. Die an den Rand eines Felssturzes gebaute Schlossanlage blickte über die Wiege der italienischen Zivilisation hinweg – über jenes Tal, in dem die Sippen der Horatier und Curatier lange vor Gründung der Stadt Rom ihre Fehden ausgefochten hatten.

Seihst als Silhouette war Castel Gandolfo ein unvergesslicher Anblick und bot ein eindrucksvolles Beispiel einer auf mehreren Ebenen angelegten Verteidigungsarchitektur, die die Stärke dieses Felsenbollwerks dramatisch zum Ausdruck brachte. Leider hatte der Vatikan die trutzige Wirkung des Baukomplexes durch die beiden auf das Dach gesetzten Aluminiumkuppeln der Sternwarte zunichte gemacht; sie verliehen diesem zuvor so würdevollen Gebäude das Aussehen eines Kriegers mit zwei Narrenkappen.

Als Aringarosa aus dem Wagen stieg, eilte ein junger Jesuit herbei, um ihn zu begrüßen. »Willkommen, Exzellenz. Ich bin Pater Mangano, Astronom am hiesigen Institut.«

Wie schön für dich. Aringarosa hatte ein mürrisches »Guten Abend« von sich gegeben und war seinem Führer in den Empfangsraum des Schlosses gefolgt – einen weitläufigen Saal, der mit einer disparaten Mischung aus Renaissancekunstwerken und astronomischen Fotos bestückt war. Als Aringarosa hinter dem Jesuitenpater das breite Marmortreppenhaus aus Travertin hinaufstieg, hatten ihm auf Schritt und Tritt Hinweisschilder auf Konferenzzentren, Vorlesungsräume und Informationsstellen für Touristen entgegengeleuchtet. Verwundert hatte er zur Kenntnis genommen, dass der Vatikan zwar konsequent jede Gelegenheit ausließ, den Menschen ein nachvollziehbares und verpflichtendes Leitbild zum spirituellen Wachstum zu liefern, offensichtlich jedoch Zeit und Muße genug hatte, astronomische Vorträge für Touristen halten zu lassen.

»Sagen Sie mal«, hatte Aringarosa sich an den jungen Geistlichen gewandt, »seit wann wedelt eigentlich der Schwanz mit dem Hund?«

Der Pater hatte ihn verständnislos angesehen. »Wie meinen, Exzellenz?«

Aringarosa hatte abgewunken und beschlossen, dieses spezielle Fass heute Abend nicht schon wieder aufzumachen. Der ganze Vatikan ist verrückt geworden. Wie konfliktscheue Eltern, die es bequemer fanden, den Launen ihres verzogenen Kindes nachzugeben, anstatt sich hinzustellen und dem Balg die Hammelbeine lang zu ziehen, wurde auch die Kirche von Mal zu Mal friedlicher und versuchte, sich einer haltlos gewordenen Kultur anzudienen, die über sämtliche Stränge schlug.

In der oberen Etage hatten die Männer einen breiten, luxuriös ausgestatteten Flur betreten, der zu einer gewaltigen eichenen Flügeltür mit einem Messingschild führte.

BIBLIOTECA ASTRONOMICA

Aringarosa hatte schon davon gehört. Die astronomische Bibliothek des Vatikans, die Gerüchten zufolge mehr als fünfundzwanzigtausend Bände umfasste, darunter einzigartige Werke von Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton und Secchi, diente den Kuriengenerälen des Papstes als privater Versammlungsort für Besprechungen, die man in den Mauern des Vatikans lieber nicht abhielt.

Als Aringarosa zur Flügeltür gegangen war, hatte er in keiner Weise mit der erschreckenden Neuigkeit gerechnet, die ihn drinnen erwartete – und schon gar nicht mit der tödlichen Folge von Ereignissen, die hier ihren Anfang nehmen sollte. Erst als er eine Stunde später aus dem Konferenzraum getaumelt war, waren ihm die verheerenden Konsequenzen klargeworden. In sechs Monaten!, hatte er gedacht. Der Herr sei uns gnädig.


Als Aringarosa jetzt abermals in einem Fiat saß, ließ ihn allein schon der Gedanke an dieses erste Treffen die Fäuste ballen. Er zwang sich, tief durchzuatmen und sich zu entspannen.

Jetzt kommt alles wieder ins Lot, sagte er sich, während der Fiat sich die Berge hinaufquälte. Dennoch hätte es ihn beruhigt, wenn das Handy gepiept hätte. Warum hat der Lehrer mich noch nicht angerufen! Silos müsste den Stein längst geborgen haben!

Um seine Nerven zu beruhigen, meditierte der Bischof über den violetten Amethyst in seinem Ring. Er betastete das Mitra- und Krummstab-Symbol und die Facetten der Brillanten. Die Steine dieses Ringes waren ein Zeichen seiner Macht – doch im Vergleich zu der Macht, die ihm bald ein anderer Stein verleihen würde, waren sie nichts.

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