49. KAPITEL

André Vernet hielt die Waffe unbeholfen in der Hand, doch in seinen Augen lag eine Entschlossenheit, die Langdon lieber nicht auf die Probe stellen wollte.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen das nicht ersparen«, sagte Vernet und richtete die Pistolenmündung auf Sophie. »Stellen Sie den Kasten auf den Wagenboden.«

Sophie drückte das Kästchen an die Brust. »Sagten Sie nicht, Sie und mein Großvater seien Freunde gewesen?«

»Ich habe die Pflicht, das Eigentum Ihres Großvaters zu beschützen«, sagte Vernet. »Genau das tue ich. Und jetzt stellen Sie endlich den Kasten auf den Boden!«

»Mein Großvater hat ihn aber mir anvertraut«, erklärte Sophie.

»Nun machen Sie schon!«, sagte Vernet und hob drohend die Waffe.

Sophie setzte das Kästchen vor ihren Füßen ab.

Langdon sah den Lauf der Waffe zu sich herüberschwenken.

»Mr Langdon«, sagte Vernet, »Sie werden jetzt so freundlich sein, mir den Kasten zu bringen. Sie sollen wissen, warum ich mich mit dieser Bitte an Sie wende: Weil ich bei Ihnen keine Skrupel habe, den Abzug zu betätigen.«

Langdon starrte den Bankier fassungslos an. »Warum tun Sie das?«

»Was glauben Sie wohl?«, zischte Vernet. »Weil ich verpflichtet bin, die Vermögenswerte meiner Kunden zu schützen!«

»Jetzt sind aber wir Ihre Kunden«, sagte Sophie.

Vernets Miene wurde abweisend. »Mademoiselle Neveu, ich weiß nicht, wie Sie heute Nacht in den Besitz des Schlüssels und der Depotnummer gelangt sind, aber es liegt doch auf der Hand, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Hätte ich gewusst, dass Sie bis zum Hals in kriminellen Machenschaften stecken, hätte ich Ihnen niemals zur Flucht aus meiner Bank verholfen.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir nichts mit dem Tod meines Großvaters zu tun haben!«, rief Sophie.

»Weshalb wird dann im Radio gemeldet, dass Sie nicht nur wegen des Mordes an Jacques Saunière gesucht werden, sondern auch wegen der Ermordung von drei anderen Männern?«

»Was? Damit haben wir nichts zu tun!«, rief Langdon protestierend. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Noch drei Morde? Die Zahl ging ihm mehr unter die Haut als die Tatsache, dass er der Hauptverdächtige war. Das konnte kaum noch ein Zufall mehr sein. Waren die drei getöteten Männer die drei Seneschalle! Langdons Blick richtete sich auf das Rosenholzkästchen auf dem Wagenboden. Falls die drei Seneschalle tatsächlich einem Mord zum Opfer gefallen sind, hatte Jacques Saunière keine andere Wahl. Dann musste er den Schlussstein außerhalb der Reihen des Ordens weitergeben.

»Was Sie damit zu tun haben«, erwiderte Vernet auf Langdons Bemerkung, »soll die Polizei ermitteln, sobald ich Sie abgeliefert habe. Ich habe meine Bank schon viel zu tief in die Sache hineingeritten.«

Sophie starrte Vernet in die Augen. »Wenn Sie vorhatten, uns bei der Polizei abzuliefern, hätten Sie nur zu Ihrer Bank zurückzufahren brauchen. Stattdessen kutschieren Sie uns ins Grüne und halten uns eine Waffe unter die Nase. Was soll das?«

»Ihr Großvater hat meine Dienste aus einem einzigen Grund in Anspruch genommen – damit seine Effekten sicher aufgehoben sind und von der Bildfläche verschwinden. Was immer in diesem Kasten steckt, ich habe nicht die Absicht, es zum nummerierten Beweisstück eines Strafverfahrens werden zu lassen. Mr Langdon, bringen Sie mir jetzt den Kasten!«

Sophie schüttelte den Kopf. »Tun Sie's nicht!«

Ein Schuss peitschte auf. Die Kugel fuhr in die Deckenverkleidung über Langdons Kopf. Der Einschlag und der Nachhall des Schusses schienen den ganzen Lieferwagen zu erschüttern. Eine Patronenhülse klapperte auf den Metallboden.

Verdammt! Langdon erstarrte.

»Heben Sie jetzt brav das Kästchen auf, Mr Langdon«, sagte Vernet, als würde er einem störrischen Kind zureden.

Langdon gehorchte.

»Gut. Und jetzt bringen Sie es her zu mir.« Vernet stand hinter dem Lieferwagen, die Oberschenkel an die Stoßstange gelehnt, und hielt die Waffe mit ausgestrecktem Arm auf Langdon im Laderaum gerichtet.

Das Kästchen in der Hand, ging Langdon langsam zur offenen Hecktür.

Du musst dir etwas einfallen lassen! Du bist im Begriff, den Schlussstein der Prieuré aus der Hand zu geben!

Langdon überlegte fieberhaft, als er sich der Hecktür näherte. Vernets Pistole befand sich inzwischen auf seiner Kniehöhe. Sollte er versuchen, seine erhöhte Position auf der Ladefläche auszunutzen? Ein gut gezielter Tritt vielleicht …

Vernet schien die Drohung zu spüren. Er trat ein paar Schritte zurück, blieb in etwa drei Metern Entfernung stehen und richtete die Waffe erneut auf Langdon. »Stellen Sie jetzt den Kasten auf die Ladekante.«

Langdon sah keine andere Möglichkeit, als sich hinzuknien und das Kästchen abzustellen.

»Stehen Sie jetzt wieder auf und treten Sie von dem Kasten zurück!«

Beim Aufstehen erspähte Langdon die leere Patronenhülse. Sie lag direkt neben dem passgenauen unteren Anschlag der Hecktür. Unauffällig ließ Langdon die Patronenhülse in die schmale Rinne kullern.

»Drehen Sie sich jetzt um, und gehen Sie zur vorderen Wand!«

Langdon gehorchte.

Vernet schlug das Herz bis zum Hals. Die Waffe in der rechten Hand, griff er mit der linken nach dem Holzkästchen, doch es war zu schwer. Du brauchst beide Hände dafür. Er warf einen Blick auf seine Gefangenen, die auf sein Geheiß mit dem Rücken zu ihm fast fünf Meter entfernt an der Vorderwand des Laderaums standen. Vernet legte die Pistole auf die Stoßstange, griff sich mit einer blitzschnellen Bewegung den Kasten, stellte ihn vor sich auf den Boden, nahm sofort die Waffe wieder auf und richtete sie erneut auf seine Opfer. Keiner der beiden hatte sich vom Fleck gerührt.

Perfekt. Jetzt brauchte er nur noch die Hecktür zu schließen. Vernet packte die gepanzerte Tür am Riegel und schwang sie herum. Mir einem dumpfen Laut fiel sie in ihr Widerlager. Vernet versuchte, den Riegel in die Verschlussstellung zu schieben, doch er bewegte sich nur ein Stück, dann war ein Widerstand zu spüren. Was klemmt denn hier! Vernet versuchte es noch einmal, doch der Riegel rastete nicht in die Endstellung ein. Der Mechanismus war durch irgendetwas blockiert. Die Tür ist nicht richtig zu …

Vernet geriet in Panik. Er drückte mit aller Gewalt, doch der Riegel blieb in der Zwischenstellung. Vernet wollte einen Schritt zurücktreten, um sich mit der Schulter gegen die störrische Tür zu werfen. In diesem Moment flog die Stahltür explosionsartig auf und knallte ihm ins Gesicht. Die Hände vor die quälend schmerzende, zerquetschte Nase geschlagen, ging Vernet rückwärts zu Boden. Die Pistole flog ihm aus der Hand. Er spürte, wie das Blut ihm warm übers Gesicht lief.

Robert Langdon war neben ihm auf den Boden gesprungen. Als Vernet sich aufzurichten versuchte, wurde ihm schwarz vor Augen, und er fiel wieder nach hinten. Sophie Neveu rief Langdon irgendetwas zu. Im nächsten Moment fegte eine Wolke aus Dieselqualm, Staub und Steinchen über Vernet hinweg. Er hörte das Geräusch von Reifen, die im Schotter durchdrehten. Als er sich aufsetzte, konnte er gerade noch sehen, dass der Lieferwagen eine Kurve nicht eng genug genommen hatte. Es krachte, als die vordere Stoßstange sich in einem kleinen Baum verhakte. Der Motor heulte auf. Der Baumstamm bog sich wie im Sturm, aber schließlich zog die Stoßstange den Kürzeren und riss zur Hälfte ab. Der gepanzerte Transporter schlingerte mit herabhängender Stoßstange davon.

Vernet starrte auf die Stelle, wo das Kästchen gestanden hatte. Im schwachen Mondlicht war zu erkennen, dass es verschwunden war.

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