Der Wachbeamte Claude Grouard stand vor der Mona Lisa über seinem bäuchlings auf dem Boden liegenden Gefangenen. Er kochte vor Wut. Dieser Dreckskerl hat Jacques Saunière umgebracht! Saunière war wie ein Vater zu Grouard und seiner Wachmannschaft gewesen.
Am liebsten hätte Grouard einfach abgedrückt und Robert Langdon eine Kugel in den Rücken gejagt. Als Chef des Wachdienstes gehörte Grouard zu den wenigen Wachbeamten, die eine Waffe trugen. Er sagte sich allerdings, dass es für Langdon ein geradezu gnädiges Schicksal gewesen wäre, erschossen zu werden, wenn man bedachte, was ihm noch bevorstand.
Grouard zerrte sein Sprechfunkgerät aus dem Gürtel, um Verstärkung herbeizurufen, doch aus dem Hörer drang nur ein Knistern und Rauschen. Grouard fluchte. Die in diesem Saal installierte zusätzliche Sicherheitselektronik setzte das Kommunikationssystem des Wachdienstes immer wieder außer Gefecht. Du musst zur Tür. Die Waffe auf Langdon gerichtet, setzte Grouard sich rückwärts in Bewegung. Nach dem dritten Schritt erspähte er etwas. Abrupt blieb er stehen.
Verflucht, was war das?
In der Mitte des Saales nahm eine seltsame, silhouettenhafte Erscheinung Gestalt an. War noch jemand hier? Im Zwielicht sah Grouard eine Frau, die sich rasch zum hinteren Bereich der linken Wand bewegte. Vor ihr huschte ein geisterhafter, violetter Lichtschein auf dem Fußhoden hin und her.
»Qui est là?«, rief Grouard der Gestalt zu, während ihm zum zweiten Mal innerhalb von dreißig Sekunden das Adrenalin bis in die Haarspitzen schoss. Plötzlich wusste er nicht mehr, wohin er die Waffe richten und in welche Richtung er sich bewegen sollte.
»Spurensicherung«, antwortete die Frau gelassen und untersuchte weiter den Boden mit ihrem seltsamen Licht.
Spurensicherung? Grouard geriet ins Schwitzen. Sind die Leute von der Spurensicherung nicht schon längst fort?
Jetzt erkannte Grouard den UV-Strahler in der Hand der Frau, den die Ermittler benutzten, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen, wozu jemand hier nach Spuren suchen sollte.
»Wie heißen Sie?«, rief Grouard. Sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas faul war. »Répondez!«
»C'est moi«, antwortete die Frau beruhigend. »Ich bin's, Sophie Neveu.«
Irgendwo in einer verborgenen Gehirnwindung regte sich bei Grouard die Erinnerung. Sophie Neveu? War das nicht der Name von Saunières Enkelin? Sie war als Kind oft hierher gekommen, aber das war schon Jahre her. Und selbst wenn diese Frau tatsächlich Sophie Neveu sein sollte, war das noch lange kein Grund, ihr zu trauen. Grouard hatte von dem Zerwürfnis zwischen Saunière und seiner Enkelin gehört.
»Sie kennen mich doch«, rief die Frau. »Übrigens, Robert Langdon hat meinen Großvater nicht umgebracht, glauben Sie mir.«
Wachmann Grouard war kein Dummkopf, der Sophie nur wegen ihrer hübschen Augen geglaubt hätte. Ich muss Verstärkung rufen. Doch wieder war aus dem Sprechfunkgerät nur Rauschen zu hören. Bis zum Eingang hinter Grouard waren es fast zwanzig Meter. Der Wachmann bewegte sich langsam darauf zu, die Waffe immer noch auf den Mann am Boden gerichtet. Im Rückwärtsgehen sah er, dass die Frau in der Mitte des Saales den UV-Strahler hob und ein großes Gemälde ableuchtete, das genau gegenüber der Mona Lisa an der anderen Längswand des Saales hing.
Grouard schnappte nach Luft, als er sah, um welches Bild es sich handelte.
Was treibt sie da, um Gottes willen?
Sophie Neveu spürte, wie ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Langdon lag noch immer auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt. Durchhalten, Robert! Gleich ist es geschafft! Sophie wusste, dass der Wächter niemals so weit gehen würde, auf einen von ihnen zu schießen. Ruhig leuchtete sie die Umgebung eines bestimmten Meisterwerks sorgfältig ab – ebenfalls ein da Vinci. Doch ihr UV-Strahler förderte nichts Ungewöhnliches zu Tage, nichts auf dem Boden, nichts an der Wand und auch nichts auf dem Gemälde selbst. Aber da muss etwas sein!
Sophie war ganz sicher, die Anweisung ihres Großvaters korrekt entziffert zu haben.
Was konnte er anderes gemeint haben?
Das Meisterwerk, das Sophie ableuchtete, war auf eine gut zwei Meter hohe Leinwand gemalt. In der bizarren Szenerie, die Leonardo da Vinci dargestellt hatte, saß die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, Johannes dem Täufer und dem Erzengel Uriel im Vordergrund einer wilden Felslandschaft. Als Sophie noch ein kleines Mädchen war, hatte der Großvater sie nach jedem Besuch der Mona Lisa zu diesem Gemälde auf der gegenüberliegenden Seite des Saales geführt.
Grand-père, ich kann nichts finden!
Sophie hörte hinter sich den Wächter erneut nach Verstärkung rufen. Denk nach!
Sie rief sich die Botschaft vor Augen, die auf das Schutzglas der Mona Lisa geschrieben war. Das Bild, vor dem sie jetzt stand, hatte kein Schutzglas, und ihr Großvater hätte ein solch atemberaubendes Meisterwerk niemals durch eine Aufschrift verunstaltet. Sophie überlegte. Jedenfalls nicht die Vorderseite. Ihr Blick glitt nach oben zu den langen dünnen Stahlseilen, an denen das Gemälde von der Decke hing.
War das die Lösung? Sie packte den geschnitzten Rahmen und zog ihn zu sich heran. Während das große Gemälde an den langen Drähten nach vorne schwang, beulte die Leinwand sich leicht nach hinten ein. Sophie schlüpfte mit Kopf und Schultern hinter das Bild und leuchtete dessen Rückseite ab.
Ihre Ahnung hatte sie diesmal getäuscht. Die blasse Rückseite des Gemäldes war völlig leer. Nirgends eine Aufschrift, nur ein paar bräunliche Verfärbungen der Leinwand, die vermutlich vom Alter herrührten und …
Halt!
Sophies Blick blieb an etwas Glänzendem hängen, das aus der Unterkante des Rahmens hervorlugte, etwas Länglichem in der Fuge zwischen Rahmen und Leinwand. Eine glänzende goldene Kette.
Sophie zog daran. Zu ihrem maßlosen Erstaunen löste sich aus der Tiefe der Fuge ein vertrauter Gegenstand, ein goldener Schlüssel. Der breite Kopf besaß die Form eines Kreuzes und trug ein eingraviertes Wappen, das Sophie seit ihrem neunten Geburtstag nicht mehr gesehen hatte – eine Lilie mit den Buchstaben P.S. Sophie hörte den Geist ihres Großvaters in ihr Ohr flüstern: Wenn die Zeit gekommen ist, gehört der Schlüssel dir. Sophie wurde es eng ums Herz. Ihr Großvater hatte sein Versprechen noch im Tod gehalten. Das ist der Schlüssel für eine Kiste, in der ich geheime Sachen hüte, sagte seine Stimme.
Schlagartig wurde Sophie klar, dass die Wortspiele dieser Nacht einzig und allein darauf angelegt waren, dass sie diesen Schlüssel entdeckte, den ihr Großvater bei sich getragen haben musste, als er getötet worden war. Da er offenbar nicht wollte, dass der Schlüssel in die Hände der Polizei geriet, hatte er ihn hinter der Felsgrottenmadonna versteckt und sich ein raffiniertes Verwirrspiel ausgedacht, damit, einzig und allein Sophie den Schlüssel finden konnte.
»Au secours!« Der Wachmann hatte wieder um Hilfe gerufen.
Sophie steckte den Schlüssel aus der Fuge hinter dem Gemälde zusammen mit dem UV-Strahler in die Tasche. Als sie hinter der Leinwand hervorlugte, sah sie, dass der Hilferuf des Wachmanns trotz seiner verzweifelten Bemühungen am Sprechfunkgerät immer noch ungehört geblieben war. Die Waffe auf Langdon gerichtet, bewegte er sich rückwärts auf den Eingang zu.
»Au secours! Ich brauche Hilfe!«, rief er wieder in sein Gerät.
Immer noch Rauschen.
Sophie begriff. Er bekommt keine Verbindung. Sie erinnerte sich an die handybewehrten Touristen, die hier vergeblich zu den lieben Verwandten durchzukommen versuchten, um die Frage loszuwerden: »Rate mal, wo ich gerade stehe?« Die Sicherheitsverdrahtung in den Wänden machte den Salle des États für alles, was per Funk funktionierte, zum schwarzen Loch. Der Wächter war allerdings schon beunruhigend nahe am Ausgang. Sophie musste schnell handeln.
Vom Gemälde nur noch teilweise verdeckt, blickte sie nach oben. Zum zweiten Mal in dieser Nacht würde Leonardo da Vinci ihr Nothelfer sein.
Nur noch ein paar Meter, beruhigte sich Grouard, die Waffe auf Langdon gerichtet.
»Stehenbleiben, oder ich mache Ernst!«, hörte er plötzlich die Frau aus dem Saal herüberrufen.
Grouard schaute zu ihr hinüber und erstarrte. »Mon dieu!«
Im rötlichen Halbdunkel erkannte er, dass die Frau die Felsgrottenmadonna aus den Ösen der Aufhängung gehoben und vor sich auf den Boden gestellt hatte. Sie verschwand beinahe hinter dem hohen Kunstwerk. Grouard wollte sich schon wundern, weshalb das Abnehmen des Gemäldes den Alarm nicht ausgelöst hatte, aber dazu hätte die Alarmanlage ja zuerst wieder scharf gemacht werden müssen.
Was tut sie da, um Gottes willen …?
Das Blut stockte ihm in den Adern, als er begriff, was die Frau vorhatte.
Die Leinwand bekam in der Mitte eine Beule. Die feinen Züge der Jungfrau Maria, des Jesuskinds und Johannes des Täufers verzerrten sich.
»Non!«, schrie Grouard schreckensstarr, während das unschätzbare Gemälde Leonardos sich verformte. Die Frau stemmte tatsächlich das Knie von hinten gegen die Leinwand! »NON!«
Grouard schwenkte die Waffe und zielte auf die Frau, doch im selben Moment wurde ihm das Lächerliche seiner Drohung bewusst. Selbst wenn die Frau getroffen wurde, konnte sie dem Gemälde noch unermessliche Schäden zufügen – wie auch die Kugeln aus Grouards Pistole.
»Legen Sie sofort die Waffe und das Sprechfunkgerät weg«, befahl die Frau ruhig und bestimmt. »Sonst drücke ich mit dem Knie das Gemälde ein. Ich glaube, Sie wissen, was mein Großvater davon gehalten hätte.«
Unter Grouard schien der Boden zu schwanken. »Bitte … tun Sie es nicht«, stieß er hervor. »Das ist da Vincis Felsgrottenmadonna … « Er legte Pistole und Sprechfunkgerät auf den Boden und hob resigniert die Hände über den Kopf.
»Gut«, sagte die Frau. »Tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Dann werden wir prächtig miteinander auskommen.«
Langdons Herz klopfte immer noch wild, als er wenige Augenblicke später neben Sophie die Feuertreppe zum Erdgeschoss hinunterrannte. Seit sie den zitternden Wachbeamten auf dem Boden liegend im Salle des États zurückgelassen hatten, hatten sie noch kein Wort gewechselt. Langdons Hand krampfte sich um die Pistole des Wachmanns. Die Waffe fühlte sich fremd, schwer und bedrohlich an. Er wollte sie so schnell wie möglich wieder loswerden.
Während Langdon die Stufen hinuntereilte, fragte er sich, ob Sophie überhaupt wusste, welchen Wert das Gemälde besaß, das sie beinahe zerstört hatte. Sie hatte in diesem nächtlichen Abenteuer bislang einen bestürzend adäquaten Kunstgeschmack bewiesen. Wie die Mona Lisa war auch der andere da Vinci, die Felsgrottenmadonna, unter Kunstgeschichtlern als Fundgrube für verborgene heidnische Symbolik bekannt.
»Sie haben sich da ein wertvolles Faustpfand ausgesucht«, rief er Sophie im Laufen zu.
»Die Felsgrottenmadonna?«, gab sie zurück. »Die habe nicht ich mir ausgesucht, sondern mein Großvater. Er hat hinter dem Gemälde eine Kleinigkeit für mich deponiert.«
Langdon warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Wie bitte?« Wie konnte Sophie wissen, hinter welchem Gemälde sie zu suchen hatte? Warum hinter der Felsgrottenmadonna.
»Die Botschaften meines Großvaters waren alle in Englisch verfasst. Und wie ich von ihm weiß, heißt dieses Gemälde auf Englisch Madonna on the Rocks. Seine letzte Botschaft lautete So dark the con of man.« Sophie warf Langdon einen triumphierenden Blick zu. »Seine beiden ersten Anagramme habe ich nicht begriffen. Robert, aber beim dritten hat's gefunkt!«