Leutnant Collet ging im Salon des Château Villette vor dem inzwischen erloschenen Kamin auf und ab und studierte die Telefaxe von Interpol.
Sie entsprachen in keiner Weise dem, was er erwartet hatte.
Nach Aktenlage war André Vernet ein vorbildlicher Bürger, der nicht das Geringste auf dem Kerbholz hatte; nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens hatte er sich bislang eingehandelt. Er hatte eine Privatschule besucht und sein Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Sorbonne mit summa cum laude abgeschlossen. Interpol zufolge erschien sein Name gelegentlich in der Presse, jedoch stets in positivem Zusammenhang. Offenbar hatte Vernet maßgeblichen Anteil an der Entwicklung und Installation der elektronischen Sicherheitsgeräte, die sein Bankunternehmen zum führenden Haus auf dem Gebiet der digitalen Sicherheitstechnik gemacht hatten. Vernets Kreditkartenumsätze ließen auf einen Hang zu Kunstbänden, teuren Weinen und CDs mit klassischer Musik schließen – vorzugsweise Brahms –, die er sich offenbar auf einer vor einigen Jahren erworbenen Stereoanlage der obersten Güteklasse zu Gemüte führte.
Collet seufzte. Fehlanzeige.
Die einzige Treffermeldung von Interpol bezog sich auf Fingerabdrücke, die offenbar von Teabings Butler stammten. Der Leiter des Spurensicherungsteams hatte es sich auf der anderen Seite des Salons in einem Sessel bequem gemacht und las den Bericht.
Collet blickte zu ihm hinüber. »Steht was Interessantes drin?«
Der Beamte sah auf. »Die Abdrücke gehören einem gewissen Rémy Legaludec. Kleinkram. Nichts Besonderes. Von der Uni geflogen, weil er im Studentenheim die Telefonlitzen umgeklemmt hat, damit er kostenlos telefonieren kann … später ein paar Diebstähle und Einbrüche. Hat für eine Notoperation die Klinikrechnung nicht bezahlt. Es war ein Luftröhrenschnitt.« Der Beamte blickte auf. »Der Mann hat eine Erdnussallergie. Was es nicht alles gibt!«
Collet nickte. Er erinnerte sich an einen Fall, wo ein Restaurant es versäumt hatte, auf der Speisekarte anzugeben, dass ein Chiligericht Erdnussöl enthielt. Ein argloser Gast mit Erdnussallergie war noch am Tisch an einem allergischen Schock gestorben.
»Legaludec ist hier vermutlich als Hausangestellter untergekrochen, um sich der Verhaftung zu entziehen.« Der Beamte grinste schadenfroh. »Einmal erwischt es jeden.«
»Na gut.« Collet seufzte. »Setzen Sie Capitaine Fache ins Bild.«
Der Ermittler war noch nicht draußen, als ein anderer Beamter hereingestürmt kam. »Im Nebengebäude haben wir etwas entdeckt, Leutnant, das Sie sich mal anschauen sollten.«
Nach der Aufregung des Beamten zu schließen, musste es etwas Schlimmes sein. »Eine Leiche?«
»Nein, Chef. Es ist eher … « Er zögerte. »Mit so was haben wir ehrlich nicht gerechnet.«
Collet rieb sich die Augen und folgte dem Beamten hinaus. Als sie das muffige, weitläufige Nebengebäude betraten, deutete der Mann auf eine hölzerne Leiter in der Mitte des Raums. Sie war in schwindelnder Höhe an der Kante eines Heubodens angestellt und schien bis zu den Dachsparren hinaufzuführen.
»Die Leiter ist anfangs noch nicht da gewesen«, sagte Collet.
»Stimmt, Chef. Wir haben sie aufgestellt. Als wir am Rolls Royce Abdrücke genommen haben, habe ich sie in der Ecke auf dem Boden liegen sehen. Ich hätte ihr keine weitere Beachtung geschenkt, aber die Sprossen waren stark ausgetreten, und es klebte frischer Schmutz daran. Diese Leiter wird regelmäßig benutzt. Ihre Länge entspricht der Höhe des Heubodens, also hab ich sie aufgestellt und bin hinaufgeklettert, um mich da oben umzusehen.«
Collet blickte die steile Leiter hinauf. Da steigt regelmäßig jemand rauf? Der Heuboden wirkte zwar vollkommen leer, war von unten aber kaum einzusehen.
Ein höherrangiger Ermittler erschien oben am Ende der Leiter. »Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen, Herr Kollege!«, rief er herunter und winkte Collet zu sich herauf.
Collet nickte müde, ging zur Leiter und griff in die Sprossen des altertümlichen hölzernen Geräts, das nach oben hin immer schmaler wurde. Im oberen Drittel verlor er auf einer engen Sprosse beinahe den Halt. Der Betonboden unter ihm drehte sich. Collet fing sich wieder und stieg weiter, doppelt vorsichtig geworden. Als er endlich oben war, streckte der Beamte ihm die Hand entgegen und half ihm beim letzten Schritt von der Leiter.
»Da drüben«, sagte der Ermittler und deutete zur Giebelwand des tadellos sauberen Heubodens. »Hier oben gibt es nur eine Art von Abdrücken. Ich habe die Auswertung in Kürze vorliegen.«
Collet spähte hinüber zur Giebelwand. Schau mal einer an! Vor der Wand war ein hochmoderner und hervorragend ausgerüsteter Computer-Arbeitsplatz aufgebaut – zwei Towerrechner, ein Flachbildschirm mit Lautsprechern, einige externe Festplatten und ein Mehrkanalmischpult, das über einen Netzanschluss mit Trenntrafo zu verfügen schien.
Wozu, in aller Weit, richtet jemand sich hier oben einen Computerarbeitsplatz mit allen Schikanen ein? Collet trat nähet. »Haben Sie die Anlage schon ausprobiert?«
»Das ist eine Abhörstation.«
Collet fuhr herum. »Ein Horchposten?«
Der Beamte nickte. »Mit modernster Technologie.« Er deutete auf eine lange Arbeitsplatte, auf der elektronische Bauteile, Handbücher, Feinmechanikerwerkzeug, ein Lötkolben, Drähte und sonstiges elektronisches Zubehör lagen. »Wer hier arbeitet, kennt sich aus. Vieles hier ist mindestens so ausgeklügelt wie unsere eigenen Geräte. Der Benutzer verwendet Mini-Mikrofone, fotoelektrisch ladbare Akkus, Speicherchips mit höchster Informationsdichte und so weiter. Er hat sogar ein paar von diesen neuen Nano-Laufwerken.«
Collet war beeindruckt.
»Das hier ist ein komplettes System«, sagte der Beamte und gab Collet ein Gerät in die Hand, das nicht viel größer war als ein Taschenrechner. Aus dem Gehäuse hing ein dünner, etwa dreißig Zentimeter langer Draht mit einem briefmarkengroßen, hauchdünnen Stück Folie am Ende. »Der Kern des Ganzen ist ein Audio-Aufnahmesystem mit Festplattenspeicher und einem wiederaufladbaren Akku. Die kleine Folie an dem Draht ist eine Kombination von Mikrofon und Fotozelle zum Aufladen des Akkus.«
Collet kannte diese Geräte. Die folienartigen Fotozellenmikrofone hatten vor ein paar Jahren für eine Sensation gesorgt. Man konnte ein solches Aufnahmegerät beispielsweise hinter einer Stehlampe verstecken und das entsprechend eingefärbte Folienmikrofon in den Ornamenten des Lampenfußes verschwinden lassen. Solange das Mikrofon täglich ein paar Stunden Licht bekam, luden die Fotozellen den Akku immer wieder auf. Solche Wanzen konnten theoretisch unbegrenzt lange arbeiten.
»Wie funktioniert die Datenübertragung?«, erkundigte sich Collet.
Der Beamte wies auf ein abgeschirmtes Kabel, das hinten aus dem Computergehäuse trat, die Wand hinaufführte und durch ein kleines Loch im Dach verschwand. »Ganz einfach per Funk. Auf dem Dach steht eine kleine Antenne.«
Collet wusste, dass diese Aufnahmesysteme üblicherweise in Büros platziert wurden. Sie waren stimmaktiviert, um Speicherplatz zu sparen, und nahmen tagsüber jede Menge Gesprächsschnipsel auf, die nachts als komprimierte Audiodatei übertragen wurden, um das Risiko der Entdeckung so klein wie möglich zu halten. Nach der Übertragung wurde der Speicher selbsttätig gelöscht, und das System war für einen neuen Einsatz am nächsten Tag bereit.
Collets Blick fiel auf ein Regal, in dem einige Hundert Audiocassetten aufgereiht standen, alle fein säuberlich nummeriert und mit Datum versehen. Hier war jemand aber sehr fleißig. »Können Sie schon sagen, wer hier ausgeforscht werden soll?«, erkundigte er sich bei dem Kollegen.
»Ja, Leutnant«, sagte der Mann, während er zum Computer ging und ein Programm hochfuhr. »Und das ist der Hammer.«