Rosslyn Chapel – oft auch als die »Kathedrale der Codes« bezeichnet –, erhebt sich knapp zwölf Kilometer südlich von Edinburgh an der Stelle eines alten Mithrastempels. Die von Nachfahren der Tempelritter im Jahr 1446 erbaute Kapelle ist mit einer verwirrenden Fülle von Symbolen aus christlichen, jüdischen, ägyptischen und heidnischen Überlieferungen und aus dem Repertoire der dem Freimaurertum vorangehenden Bauhütten versehen.
Die geographischen Koordinaten der Kapelle stimmen genau mit dem durch Glastonbury verlaufenden Nord-Süd-Meridian überein. Diese longitudinale Rosenlinie wird der Überlieferung zufolge als Markierung von König Artus Insel Avalon betrachtet und gilt als zentrale Bezugsachse der heiligen Geometrie Britanniens. Die heilige Rosenlinie hat Rosslyn – früher schrieb man es Roslin – den Namen gegeben.
Der gedrungene Bau der Kapelle warf lange abendliche Schatten, als Robert Langdon und Sophie Neveu mit ihrem Mietwagen auf den grasbewachsenen Parkplatz am Fuß des Steilhangs vor der Kapelle fuhren. Der kurze Flug von London nach Edinburgh war erholsam gewesen, auch wenn sie in gespannter Erwartung des Kommenden beide keinen Schlaf gefunden hatten. Beim Blick hinauf zu dem Bauwerk, das sich scharf und markant gegen den Abendhimmel abzeichnete, kam Langdon sich vor wie Alice im Wunderland, nachdem sie kopfüber in das Kaninchenloch gefallen war. Das kann nur ein Traum sein. Doch Jacques Saunières letzte Botschaft hätte eindeutiger nicht sein können. Wieder ein Vierzeiler.
The Holy Grail 'neath ancient Roslin waits. The blade and chalice guarding o'er Her Gates. Adorned in masters' loving an, She lies. She rests at last beneath the starry skies.
(Unter Alt-Roslin der Gral verharrt. Winkel und Kelch das Grab bewahrt. Es ist von des Meisters Kunst geschmückt. Und unters Sternenzelt endlich gerückt.)
Langdon hatte erwartet, dass Saunières »Wegweiser« zum Gral eine Art Landkarte sein würde – vielleicht eine Kartenskizze mit einem Kreuz an der entsprechenden Stelle – aber auch das letzte Geheimnis der Prieuré war ihnen in der gleichen Form kundgetan worden, in der Saunière die ganze Zeit zu ihnen gesprochen hatte: als scheinbar harmloser Vers. Vier Zeilen, die zweifellos auf diesen konkreten Ort hindeuteten. Abgesehen von der Nennung des Ortsnamens, verwiesen die Verszeilen auf einige der berühmten architektonischen Merkmale der Kapelle.
Doch ungeachtet ihrer Klarheit hatte Saunières letzte Enthüllung bei Langdon kein Aha-Erlebnis, sondern gewisse Vorbehalte ausgelöst. Rosslyn Chapel war ihm als Lösung viel zu offensichtlich. Um dieses steinerne Bauwerk woben sich seit Jahrhunderten geflüsterte Legenden, die hier den Heiligen Gral verborgen wissen wollten. In jüngster Zeit war aus dem Flüstern ein lauter Ruf geworden, nachdem Untersuchungen mit gesteinsdurchdringendem Radar (GPR) Hinweise auf eine erstaunliche Besonderheit unter der Kapelle ergeben hatten, eine geräumige Kammer im Untergrund des Bauwerks. Nicht nur, dass die Ausmaße des Tiefengewölbes die der Kapelle in den Schatten stellten, es schien auch weder Ein- noch Ausgang zu haben. Archäologen stellten beim Rosslyn Trust, der zuständigen Verwaltungsstelle, den Antrag, einen Stollen durch das Deckgestein zur geheimnisvollen Kammer treiben zu dürfen. Der Trust hatte jedoch Ausgrabungen jeglicher Art auf dem heiligen Gelände ausdrücklich untersagt – was die Spekulationen natürlich erst recht anheizte. Was hatte der Rosslyn Trust zu verbergen?
Rosslyn war zum Wallfahrtsort für Geheimnissucher geworden. Manche behaupteten, das starke lokale Erdmagnetfeld habe sie angezogen, das unerklärlicherweise genau an dieser Stelle aus dem Untergrund drängt; andere kamen, um den Steilhang nach dem Zugang zur geheimnisvollen unterirdischen Kammer abzusuchen. Die meisten aber gaben freimütig zu, gekommen zu sein, um die mysteriöse Aura des Grals auf sich einwirken zu lassen.
Langdon war noch nie in Rosslyn gewesen, war aber jedes Mal erheitert, wenn es hieß, die Kapelle sei die derzeitige Heimat des Heiligen Grals. Zugegeben, vor sehr langer Zeit mochte es so gewesen sein, aber bestimmt nicht bis auf den heutigen Tag. Dafür war Rosslyn in den vergangenen Jahrzehnten viel zu sehr ins Rampenlicht geraten. Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis doch jemand in die geheime Kammer eindringen würde.
Die Gralsforscher waren sich einig, dass Rosslyn nur ein Köder war, eine der vielen falschen Spuren, die die Prieuré de Sion so meisterhaft zu legen verstand. Heute Abend allerdings war Langdons vorgefasste Meinung doch ins Wanken geraten, nachdem der Schlussstein der Prieuré so eindeutig auf diesen Ort verwiesen hatte.
Eine verwirrende Frage hatte ihn den ganzen Tag schon beschäftigt: Warum hatte Saunière sich solche Mühe gemacht, Sophie und ihn an einen so offensichtlichen Ort zu führen? Es schien nur eine logische Antwort darauf zu geben.
Mit Rosslyn hat es irgendeine Bewandtnis, die wir noch nicht kennen.
»Robert?« Sophie war schon aus dem Wagen gestiegen und drehte sich nach ihm um. »Kommen Sie mit?« Sie hatte das Rosenholzkästchen in den Händen. Nachdem Capitaine Fache es ihr übergeben hatte, hatte Sophie wieder den Originalzustand mit den beiden ineinander steckenden Kryptexen hergestellt. Der Papyrus mit dem Vers war sicher in die Höhlung im Innern eingeschlossen – natürlich ohne die Essigphiole.
Der lange Kiesweg hinauf zur Kapelle führte Sophie und Langdon an seinem Ende an der berühmten Westfassade des Gebäudes vorbei. Unvorbereitete Besucher hielten diese merkwürdig vorspringende Mauer vielfach für einen unvollendeten Teil der Kapelle, doch wie Langdon sich erinnerte, war die Wahrheit noch weitaus spannender.
Die westliche Mauer des Tempels Salomons.
Die Nachfahren der Tempelritter hatten Rosslyn Chapel als genaues architektonisches Abbild von Salomons Tempel in Jerusalem entworfen – samt der Westmauer, dem engen rechteckigen Sakralraum und der unterirdischen Kammer mit dem Allerheiligsten, aus der die neun ursprünglichen Tempelritter ihren unermesslichen Schatz geborgen hatten. Langdon musste eingestehen, dass die Vorstellung, die Nachfahren der Templer hätten eine Gralsgruft mit Anklängen an den ursprünglichen Aufbewahrungsort des Heiligen Grals erbaut, eine gewisse Logik enthielt.
Das Portal von Rosslyn Chapel war schmuckloser, als Langdon erwartet hatte. In zwei eisernen Angeln hing eine Holztür mit einem schlichten Schild aus Eichenholz und der Inschrift:
ROSLIN
Langdon erklärte Sophie die altertümliche Schreibweise, die sich vom Rosenlinien-Meridian herleitete, auf dem die Kapelle stand – beziehungsweise, wie die Gralshistoriker es interpretierten, von der »Rosenlinie« als der uralten Ahnenreihe Maria Magdalenas.
Die Besuchszeit der Kapelle war fast zu Ende. Beim Öffnen der Tür schlug Langdon ein Schwall warmer Luft entgegen, als hätte das alte Gemäuer am Ende eines langen Tages einen müden Seufzer ausgestoßen. Die Gewölbebögen am Eingang waren reichhaltig in Fünfpässe aufgelost.
Rosen. Der Schoß der Göttin.
Als Langdon mit Sophie das Innere betrat, wurde sein staunender Blick in den berühmten Sakralraum gezogen. Er kannte zwar die Berichte, doch die unglaublich aufwändigen Steinmetzarbeiten von Rosslyn mit eigenen Augen zu sehen war eine Erfahrung ganz eigener Art.
Ein Paradies für einen Symbolkundler, hatte einer seiner Kollegen gesagt.
Jede freie Fläche im Innern der Kapelle war über und über mit aus dem Stein gehauenen Symbolen bedeckt – christliche Kreuze, jüdische Sterne, in die spätere Freimaurerei übernommene Zeichen der Baugilden, Templerkreuze, Füllhörner, Pyramiden, astrologische Zeichen, Pflanzenmotive, Gemüsepflanzen, Pentagramme und Rosen. Die Tempelritter waren Meister der Steinmetzkunst gewesen und hatten überall in Europa ihre Kirchen errichtet, doch Rosslyn Chapel galt als das sublimste Werk der Stein gewordenen Liebe und Verehrung. Die meisterhaften Steinmetze hatten keinen Stein unbearbeitet gelassen, Rosslyn Chapel war ein Schrein für jeden Glauben … für jede Heilsüberlieferung … und vor allem für die Verehrung der Natur und der Göttin.
Abgesehen von ein paar Besuchern, die bei der letzten Führung des Tages den Erläuterungen eines jungen Mannes lauschten, war der Kirchenraum leer. Der Fremdenführer ließ die Besucher im Gänsemarsch eine wohl bekannte Route auf dem Boden der Kirche abschreiten – einen imaginären Pfad, der sechs der wichtigsten Punkte im Innenraum auf geraden Linien miteinander verband. Generationen von Besuchern waren über diese Verbindungslinien geschritten, und ihr Schuhwerk hatte dabei ein riesiges Symbol in den Fußboden gewetzt.
Der Davidstern, dachte Langdon. An dieser Stelle beileibe kein Zufall. Das auch als »Siegel Salomons« bekannte Hexagramm war vor Urzeiten das Symbol der sternkundigen Priester gewesen und später von den Königen der Israeliten übernommen worden – von David und Salomon.
Der Fremdenführer hatte Langdon und Sophie hereinkommen sehen. Obwohl es eigentlich schon Zeit zum Schließen war, hatte er sie freundlich lächelnd aufgefordert, sich in Ruhe umzusehen.
Langdon nickte ihm dankend zu und wollte tiefer in den Kirchenraum hinein; Sophie jedoch blieb wie angewurzelt am Eingang stehen.
»Was ist?«, fragte Langdon.
»Ich … glaube, hier bin ich schon mal gewesen«, sagte Sophie verwundert.
»Aber Sie haben doch gesagt, Sie hätten noch nie von Rosslyn gehört.«
»Habe ich auch nicht … « Sophie ließ den Blick durch den Innenraum schweifen. »Mein Großvater muss mich hergebracht haben, als ich noch sehr klein war. Ich weiß nicht, es kommt mir alles so vertraut vor.« Sie sah sich ausgiebig um. »Ja«, sagte sie schließlich und deutete ans andere Ende des Sakralraums. »Diese beiden Säulen … ich habe sie schon einmal gesehen.«
Am anderen Ende des Innenraums, wo sich in Kirchen normalerweise der Altar befindet, erhoben sich zwei kunstvoll gearbeitete Säulen. Die weißen, filigranen Verzierungen glühten in den letzten Strahlen der durchs Westfenster scheinenden Abendsonne blutrot auf. Die Säulen bildeten ein merkwürdig aufeinander abgestimmtes Paar. In die linke waren schlichte senkrechte Kannelierungen eingemeißelt, während die rechte von üppigen Blumengirlanden umwunden war.
Sophie ging zu den Säulen hinüber. Langdon folgte ihr. Als Sophie die Säulen erreichte, schüttelte sie den Kopf, als könne sie es nicht glauben. »Ja, ganz sicher. Ich habe die Säulen schon einmal gesehen.«
»Das bezweifle ich nicht«, meinte Langdon, »aber es müssen nicht diese beiden gewesen sein.«
Sophie blickte ihn an. »Wie meinen Sie das?«
»Diese Säulen sind das meist kopierte Stück Architektur der Geschichte. Es gibt Kopien auf der ganzen Welt.«
»Kopien von Rosslyn?«, wunderte sich Sophie.
»Nein. Erinnern Sie sich, dass ich anfangs gesagt habe, Rosslyn sei eine Kopie vom Tempel Salomons? Diese beiden Säulen sind exakte Repliken jener beiden Säulen, die vor dem salomonischen Tempel gestanden haben.« Er deutete auf die Säule zur Linken. »Diese heißt Booz – oder die Säule der Steinmetz-Meister. Die andere heißt Jachin – die Säule der Lehrlinge. Praktisch jeder Freimaurertempel der Welt hat zwei solche Säulen.«
Langdon hatte zuvor schon die starken historischen Verbindungen zwischen dem Templerorden und dem modernen Freimaurertum erklärt, dessen Grade – Lehrling, Geselle und Meister – bis auf die Frühzeit des Templerordens zurückgehen. Die beiden letzten Verszeilen von Sophies Großvater enthielten eine direkte Anspielung auf die Steinmetzmeister, die die Kapelle von Rosslyn so kunstvoll und reichhaltig ausgeschmückt hatten. Sie erwähnten auch die mit eingemeißelten Sternen und Planeten geschmückte Langhausdecke.
»Ich bin noch nie in einem Freimaurertempel gewesen«, sagte Sophie, in die Betrachtung der Säulen versunken. »Ich bin mir fast sicher, dass es diese Säulen gewesen sind.« Sie wandte sich um und ließ den Blick durch die Kapelle schweifen, als wäre sie auf der Suche nach etwas, an dem sie ihre Erinnerungen festmachen konnte.
Die Besuchergruppe rüstete zum Gehen. Der Fremdenführer, ein gut aussehender junger Mann Ende zwanzig mit strohblondem Haar und ausgeprägtem schottischen Akzent, kam freundlich lächelnd zu Sophie und Robert. »Gleich muss ich für heute Schluss machen. Kann ich Ihnen vielleicht noch etwas zeigen?«
Wie wär's mit dem Heiligen Gral?, dachte Langdon.
»Den Code!«, platzte Sophie in plötzlicher Eingebung heraus. »Hier ist irgendwo ein Code!«
Der Fremdenführer musterte Sophie erstaunt. »Ja, das stimmt, Ma'am.«
»Er ist irgendwo an der Decke«, sagte Sophie und wandte sich nach rechts. »Irgendwo da drüben rechts oben.«
Der junge Mann lächelte. »Das ist nicht Ihr erster Besuch in Rosslyn, Ma'am, wie ich sehe.«
Der Code, dachte Langdon. An diese Legende hatte er gar nicht mehr gedacht. Eines der vielen Geheimnisse von Rosslyn war ein steinernes Gewölbe, von dessen Decke Hunderte von Steinblöcken ragten – auf eine Weise, dass sie eine eigenartig vielgestaltige Fläche bildeten. In jeden dieser Blöcke war ohne erkennbares System ein Symbol eingemeißelt, woraus eine Matrix unauslotbarer Kombinationsmöglichkeiten entstand. Manche meinten, der Zugang zu dem unterirdischen Gewölbe sei hier verschlüsselt niedergelegt, während andere darin die wahre Gralslegende erblicken zu können glaubten. Wie dem auch sei – schon seit Jahrhunderten bissen die Kryptographien sich an der Entzifferung dieses Codes die Zähne aus. Der Rosslyn Trust hatte auf die Entdeckung der geheimen Bedeutung eine hohe Belohnung ausgesetzt, doch der Code ist bis zum heutigen Tag ein Geheimnis geblieben.
»Es wäre mir ein Vergnügen, wenn ich Ihnen zeigen darf, wo … «
Die Stimme des Fremdenführers klang für Sophie wie aus weiter Ferne.
Mein erster Code, dachte sie, als sie sich wie in Trance auf das Gewölbe mit den rätselhaften Steinen zubewegte, nachdem sie Langdon die Rosenholzschatulle in die Hand gedrückt hatte. Die Gralssuche, die Prieuré de Sion und all die anderen Geheimnisse des vergangenen Tages fielen von ihr ab. Die Vergangenheit stürmte wieder auf sie ein, als sie nun unter die Gewölbedecke mit den Code-Steinen trat und die Symbole über ihrem Kopf betrachtete. Die Erinnerung an ihren ersten Besuch hier ging unvermutet mit einer seltsamen Traurigkeit einher …
Es war ungefähr ein Jahr nach dem Tod ihrer Angehörigen. Sie war ein kleines Mädchen gewesen. Der Großvater hatte sie für ein paar Ferientage nach Schottland mitgenommen. Vor der Rückreise nach Paris waren sie nach Rosslyn gefahren, um sich die Kapelle anzusehen. Es war spät, und die Kapelle war eigentlich schon für Besucher geschlossen, doch sie befanden sich immer noch in dem Gebäude.
»Grand-père, ich möchte nach Hause«, hatte Sophie gequengelt. Sie war müde.
»Gleich, Liebling, gleich.« Die Stimme des Großvaters klang wehmütig. »Ich muss hier noch eine letzte Sache erledigen. Wie wär's, wenn du draußen im Auto auf mich wartest?«
»Musst du noch mal so was machen, das nur Erwachsene verstehen?«
Saunière nickte. »Es dauert nicht lange, ich versprech's dir.«
»Darf ich noch einmal zu dem Code im Gewölbe? Das hat Spaß gemacht.«
»Ich weiß nicht … Ich muss nach draußen, und da müsste ich dich allein hier lassen. Hast du denn keine Angst hier drin, wenn ich nicht bei dir bin?«
»Nein«, hatte sie geantwortet. »Es ist ja nicht mal dunkel.«
Großvater hatte gelächelt und Sophie zu dem Gewölbe geführt, das er ihr zuvor schon gezeigt hatte.
Sophie hatte sich mit dem Rücken auf den Steinboden gelegt und das durcheinander gebrachte Puzzle an der Decke betrachtet. »Bis du zurückkommst, habe ich den Code geknackt.«
»Dann ist das ja ein Wettlauf.« Der Großvater hatte sich zu Sophie hinuntergebeugt und sie auf die Stirn geküsst. »Ich bin gleich nebenan«, hatte er auf dem Weg zum Seitenausgang gesagt. »Ich lass die Tür auf. Du brauchst nur zu rufen, wenn du mich brauchst.« Damit war er ins sanfte Licht des Abends entschwunden.
Sophie hatte eine Zeit lang dagelegen und zu dem Code hinaufgeblickt, bis ihr die Lider schwer wurden. Nach ein paar Minuten verschwammen die Symbole, um dann ganz zu verschwinden.
Als Sophie wach wurde, war ihr kalt.
»Grand-père?«
Keine Antwort. Sie stand auf und klopfte sich das Kleidchen sauber. Die Seitentür stand immer noch offen. Draußen wurde es allmählich dunkel. Sie ging hinaus und sah den Großvater auf der Veranda eines Hauses aus Bruchsteinen direkt unterhalb der Kapelle stehen. Er unterhielt sich mit einer Frau im Innern des Hauses, die hinter den Gardinen in der offenen oberen Türhälfte kaum zu erkennen war.
»Grand-père!«, hatte Sophie gerufen.
Der Großvater hatte sich zu ihr umgedreht und sie winkend um einen Augenblick Geduld gebeten. Dann hatte er sehr bedächtig noch ein paar Worte zu der Frau hinter den Türgardinen gesagt und ihr eine Kusshand zugeworfen. Als er zu Sophie zurückkam, standen ihm Tränen in den Augen.
»Du weinst ja!«
Er hatte sie auf den Arm genommen und an sich gedrückt. »Ach, Sophie, du und ich haben dieses Jahr so oft Lebewohl sagen müssen. Es ist nicht immer leicht.«
Sophie hatte an den Autounfall gedacht und daran, wie sie von ihrer Mutter, ihrem Vater, der Großmutter und dem kleinen Bruder hatte Abschied nehmen müssen. »Hast du schon wieder jemand Lebewohl sagen müssen?«
»Ja. Einer Freundin, die ich sehr lieb hatte.« Großvaters Stimme hatte beinahe versagt. »Ich fürchte, ich werde sie lange Zeit nicht wiedersehen.«
Langdon war bei dem jungen Fremdenführer geblieben. Beim Anblick der Wände von Rosslyn Chapel wuchs seine Besorgnis. Er und Sophie waren wohl wieder mal in einer Sackgasse gelandet. Sophie war zu dem Gewölbe mit dem Code gegangen und hatte ihm den Rosenholzkasten in die Hand gedrückt, der einen Wegweiser zum Gral enthielt, der offenbar keine Hilfe war. Saunières Vers hatte eindeutig auf Rosslyn hingewiesen, aber nun, da sie hergekommen waren, wusste Langdon nichts mehr damit anzufangen. Der Vierzeiler sprach von einem »Winkel« und einem »Kelch«, die Langdon aber nirgends entdecken konnte.
Unter Alt-Roslin der Gral verharrt. Winkel und Kelch das Grab bewahrt.
Wieder konnte Langdon sich des Gefühls nicht erwehren, dass dieses Geheimnis Facetten aufwies, die noch gar nicht erkennbar geworden waren.
Der Blick des Fremdenführers hatte sich auf das Rosenholzkästchen gerichtet. »Ich möchte mich nicht aufdrängen«, sagte er, »aber könnten Sie mir sagen, woher Sie das Kästchen haben?«
Langdon lachte leise und erschöpft. »Das ist eine sehr, sehr lange Geschichte.«
Der junge Mann zögerte. Sein Blick streifte abermals das Kästchen. »Merkwürdig. Meine Großmutter hat genau so eine Schmuckschatulle aus dem gleichen polierten Rosenholz und mit der eingelegten Rose. Sogar die Scharniere sehen gleich aus.«
Für Langdon war klar, dass der junge Mann sich irren musste. Wenn jemals ein Kästchen ein Einzelstück gewesen war, dann dieses – der von Hand maßgefertigte Futteralkasten für den Schlussstein der Prieuré.
»Ihr Kästchen mag dem hier ähneln, aber … «
Das dumpfe Geräusch, als die Seitentür zugeschlagen wurde, zog die Aufmerksamkeit Langdons und des jungen Mannes auf sich. Sophie war ohne ein Wort hinausgegangen und schlenderte die Böschung hinunter zu einem nahen Haus aus Bruchsteinen. Langdon sah ihr nach. Wo will sie hin! Sophie hatte sich eigenartig verhalten, seit sie die Kapelle betreten hatten. »Wissen Sie, was für ein Haus das ist?«, erkundigte er sich bei dem Fremdenführer.
Der junge Mann schien selbst erstaunt darüber, dass Sophie dort hinunterging. »Ja«, sagte er, »das ist das Pfarrhaus. Die Verwalterin der Kapelle wohnt dort. Sie ist übrigens auch die Vorsitzende des Rosslyn Trust – und meine Großmutter.«
»Ihre Großmutter leitet den Rosslyn Trust?«
Der Fremdenführer nickte. »Ich wohne mit ihr dort unten im Pfarrhaus und helfe ihr, die Kapelle in Ordnung zu halten. Nebenbei arbeite ich als Fremdenführer.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe dort immer schon gewohnt. Meine Großmutter hat mich in dem Haus großgezogen.«
Langdon war wegen Sophie ein wenig besorgt. Er machte sich auf den Weg zur Seitentür der Kapelle, um ihr zu folgen. Auf halbem Weg blieb er abrupt stehen. Eine Bemerkung des jungen Mannes hatte ihn stutzig werden lassen.
Meine Großmutter hat mich großgezogen.
Langdons Blick schweifte durch die halb offene Tür die Böschung hinunter zu Sophie, dann zurück zu dem Rosenholzkästchen in seiner Hand. Nein, das ist unmöglich … Langsam drehte er sich zu dem jungen Mann um. »Sie sagten, Ihre Großmutter habe auch so ein Kästchen?«
»Genau das gleiche.«
»Wo hat sie es her?«
»Mein Großvater hat es für sie gemacht. Er ist gestorben, als ich noch ein Baby war, aber meine Großmutter spricht heute noch von ihm. Sie sagt, er sei ein handwerkliches Genie gewesen. Er hat alle möglichen Sachen gebaut.«
In Langdons Hirn nahm ein scheinbar absurder Zusammenhang verschwommen Gestalt an. »Sie sagen, Ihre Großmutter habe Sie großgezogen«, sagte er zögernd. »Darf ich fragen, was mir Ihren Eltern geschehen ist?«
Der junge Mann blickte Langdon überrascht an. »Sie sind gestorben, als ich noch sehr klein war.« Er zögerte. »Übrigens am gleichen Tag wie mein Großvater.«
Langdons Herz begann heftig zu pochen. »Bei einem Verkehrsunfall?«
Der junge Mann fuhr zusammen. Seine grünen Augen blickten Langdon fragend und misstrauisch an. »Ja. Bei dem Unfall kam meine ganze Familie ums Leben. Meine Eltern, mein Großvater und … «
» … und Ihre Schwester«, ergänzte Langdon.
Das Bruchsteinhaus draußen auf der Böschung sah genau so aus, wie Sophie es in Erinnerung hatte. Die Nacht brach allmählich herein. Das Haus verbreitete eine warme und einladende Atmosphäre. Der Duft von frisch gebackenem Brot wehte durch die offene obere Hälfte der Tür, und hinter den Fenstern schimmerte goldenes Licht. Als sie näher kam, hörte Sophie jemand im Haus leise weinen. Durch die Türgardinen konnte sie im Hausflur eine ältere Frau erkennen. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und weinte bitterlich. Sie hatte langes silbernes Haar von auffälliger Fülle, das in Sophie eine unerwartete Erinnerung wachrüttelte. Auf unerklärliche Weise fühlte sie sich zu der Frau hingezogen. Sie trat auf die Stufen der Veranda. Die Frau hielt das gerahmte Foto eines Mannes in den Händen. Ihre Fingerspitzen glitten liebkosend über das Gesicht des Porträtierten.
Sophie kannte das Gesicht nur zu gut.
Großvater.
Unter Sophies Füßen knarrte eine Diele. Die Frau drehte sich langsam um. Der Blick ihrer trauernden Augen erfasste Sophie. Sophie wollte davonlaufen, war aber wie gelähmt. Die Frau legte das Foto beiseite und kam langsam zur Tür, den Blick unverwandt auf Sophie gerichtet. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während die beiden Frauen einander durch das feine Gewebe der Türgardinen ansahen. Dann, wie eine langsam anschwellende Meereswoge, wechselte das Mienenspiel der Frau von Unsicherheit und Unglaube zu Hoffnung, um jäh einen Ausdruck überwältigender Freude anzunehmen.
Sie stieß den unteren Türschlag auf, stürzte mit ausgestreckten Armen heraus und barg das Gesicht der entgeisterten Sophie in ihren weichen Händen. »Oh, mein liebes Kind … lass dich anschauen!«
Sophie kannte die Frau nicht und wusste dennoch genau, wer sie war. Sie versuchte, etwas zu sagen, bekam aber kaum Luft.
»Sophie!«, schluchzte die Frau und küsste sie auf die Stirn.
»Aber Grand-père hat doch gesagt, dass du … «, stieß Sophie mit erstickter Stimme hervor.
»Ich weiß.« Die Frau legte behutsam die Münde auf Sophies Schultern und betrachtete sie mit zärtlichen Blicken. »Dein Großvater und ich waren gezwungen, die Welt zu beschwindeln. Es hat mir unendlich Leid getan, aber es musste sein. Zu deiner Sicherheit, Prinzessin.«
Der Kosename beschwor vor Sophie das Bild des Großvaters herauf, der sie so viele Jahre lang Prinzessin genannt hatte. Seine Stimme schien im alten Gemäuer von Rosslyn widerzuhallen, bis hinunter in die Höhlungen des unbekannten Gewölbes.
Die alte Frau schlang die Arme um Sophie. Freudentränen strömten ihr übers Gesicht. »Dein Großvater hat verzweifelt versucht, dich in alles einzuweihen, aber euer Verhältnis ist ja leider so schwierig geworden. Ich muss dir sehr vieles erklären.« Sie küsste Sophie noch einmal auf die Stirn. »Aber jetzt Schluss mit den Geheimnissen, Prinzessin. Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit über deine Familie erfährst.«
Als der junge Fremdenführer den Rasen heruntergerannt kam, saßen Sophie und ihre Großmutter eng umschlungen auf der Verandatreppe. Die Tränen strömten.
In den Augen des jungen Mannes schimmerte ungläubige Hoffnung. »Sophie?«
Sophie nickte tränenblind und stand auf. Das Gesicht des jungen Burschen war ihr noch immer unvertraut, doch als sie einander in die Arme fielen, spürte sie die Macht des Blutes – des gemeinsamen Blutes, das in ihren Adern strömte, wie sie jetzt, wusste.
Als Robert Langdon sich zu ihnen gesellte, konnte Sophie nicht glauben, dass sie sich gestern noch allein auf der Welt gefühlt hatte, jetzt, an diesem fremden Ort und in der Gesellschaft von drei Menschen, die sie kaum kannte, fühlte sie sich endlich zu Hause.