84. KAPITEL

In einer schmutzigen Gasse unweit der Temple Church lenkte Rémy Legaludec die Jaguar-Limousine hinter einige Müllcontainer und hielt. Er stellte den Motor ab und überprüfte die Umgebung. Sie war völlig verlassen. Er stieg aus, um nach hinten zu gehen und in die Passagierkabine zu steigen, in der immer noch der Mönch lag.

Der Hüne schien in ein inbrünstiges Gebet versunken. Er erwachte wie aus einer Trance. Seine Augen blickten Rémy eher neugierig als ängstlich an. Rémy hatte die ganze Nacht schon die Beherrschtheit des Gefesselten bewundert. Nachdem der Mönch sich im Range Rover anfangs noch zur Wehr gesetzt hatte, schien er sich nun in sein Los ergeben und sein Schicksal in die Hände einer höheren Macht gelegt zu haben.

Rémy lockerte seine Fliege und knöpfte den Vatermörderkragen auf. Er hatte das Gefühl, seit Jahren zum ersten Mal richtig Luft zu bekommen. Er öffnete das Barfach der Limousine und schenkte sich einen Wodka ein, den er in einem Zug hinunterstürzte, um sich sogleich ein zweites Glas zu genehmigen.

Bald bist du aller Sorgen ledig.

Er suchte sich aus den Utensilien der Bar einen Kellnerkorkenzieher heraus und klappte die scharfe Klinge auf, die zum Aufschneiden der Zinnfolien teurer Weine diente. An diesem Morgen hatte er der Klinge eine weitaus dramatischere Verwendung zugedacht. Er drehte sich um und sah Silas an.

Angst schlich sich in die roten Augen. Der Mönch zuckte zurück und zerrte an seinen Fesseln.

»Ruhig Blut«, murmelte Rémy und hob die Klinge.

Silas konnte nicht fassen, dass Gott ihn verlassen hatte. Selbst die Qual der Fesselung hatte Silas in eine geistige Übung zu transformieren vermocht, indem er die Schmerzen seiner abgeschnürten Muskeln dem Leiden Christi geopfert hatte. Die ganze Nacht hast du um deine Befreiung gebetet. Silas presste die Lider zusammen, während die Klinge sich auf ihn herabsenkte.

Ein jäher Schmerz jagte durch seine Schulterblätter. Silas schrie auf, unfähig zu begreifen, dass er wehrlos im Heck dieser Limousine sterben sollte. Du hast das Werk Gottes getan! Der Lehrer hat dir seinen Schutz versprochen!

Stechende Hitze breitete sich über Silas' Schultern und Rücken aus. Vor seinem inneren Auge sah er sein Blut über den Rücken strömen. Ein zweiter stechender Schmerz jagte ihm durch Schenkel und Beine. Die Orientierungslosigkeit, mit der der Körper auf unerträgliche Schmerzen reagiert, setzte ein.

Die Qual hatte inzwischen sämtliche Muskeln erfasst. Silas presste die Lider noch heftiger zusammen. Das letzte Bild seines Lebens sollte nicht der Anblick seines Mörders sein. Er rief sich das Bild des jungen Bischofs Aringarosa vor Augen, wie er vor einer kleinen Kirche in Spanien stand … vor der Kirche, die der Bischof und Silas mit eigenen Händen erbaut hatten. Der Beginn deines Lebens.

Silas kam sich vor, als stände sein Körper lichterloh in Flammen.

»Hier, trinken Sie das«, sagte der Mann im Smoking mit französischem Akzent. »Das bringt Ihren Kreislauf in Schwung.«

Silas riss erstaunt die Augen auf. Eine verschwommene Gestalt beugte sich über ihn und hielt ihm ein Glas entgegen, in dem eine klare Flüssigkeit schwappte. Auf dem Wagenboden lag zusammengeknülltes Klebeband, daneben das saubere Korkenmesser – ohne einen Tropfen Blut daran.

»Trinken Sie«, wiederholte der Mann. »Es ist sehr schmerzhaft, wenn die Durchblutung der Muskeln wieder einsetzt.«

Das glühende Pochen in Silas' Gliedern verwandelte sich in Tausende feiner Nadelstiche. Der Wodka schmeckte scheußlich, doch Silas trank ihn trotzdem. Er empfand Dankbarkeit. Das Schicksal hatte ihm in dieser Nacht übel mitgespielt, doch Gott hatte allem eine wunderbare Wendung gegeben.

Der Herr hat dich nicht verlassen.

Silas wusste, wovon Bischof Aringarosa jetzt sprechen würde.

Ein göttliches Eingreifen.

»Ich habe Sie schon die ganze Zeit befreien wollen«, sagte der Butler, »aber es war mir leider nicht möglich, nachdem mir zuerst im Château Villette und dann auf dem Flugplatz von Biggin Hill die Polizei dazwischengekommen ist. Das verstehen Sie doch, Silas?«

Silas fuhr erschrocken zusammen. »Sie kennen meinen Namen?«

Der Butler lächelte ihn an.

Silas setzte sich auf und massierte seine steifen Glieder. In seinem Innern herrschte ein heilloses Durcheinander: Fassungslosigkeit, Dankbarkeit, Verwirrung. »Sie sind doch nicht … der Lehrer?«

Rémy schüttelte lachend den Kopf. »Ich wollte, ich hätte so viel Macht. Nein, ich bin nicht der Lehrer, aber ich diene ihm, genau wie Sie. Der Lehrer hat eine hohe Meinung von Ihnen. Ich heiße Rémy.«

Silas konnte nur noch staunen. »Eines verstehe ich nicht. Wenn Sie für den Lehrer arbeiten, warum hat Langdon den Schlussstein dann zu Ihnen nach Hause gebracht?«

»Es ist ja nicht mein Zuhause, sondern das Heim des bedeutendsten Gralsforschers der Welt, Sir Leigh Teabing.«

»Aber Sie wohnen schließlich auch dort. Die Wahrscheinlichkeit, dass … «

Rémy überging lächelnd den Einwand. Der merkwürdige Zufall, dass Langdon ausgerechnet auf Château Villette Zuflucht gesucht hatte, schien ihn nicht zu beunruhigen. »Es war im Grunde fast schon vorhersehbar. Robert Langdon besaß den Schlussstein und brauchte Hilfe. Was lag da für ihn näher, als bei Leigh Teabing vorstellig zu werden? Dass auch ich dort wohne, ist der Hauptgrund, weshalb der Lehrer an mich herangetreten ist.« Er zögerte. »Was denken Sie denn, weshalb der Lehrer so gut über den Gral informiert ist?«

Silas staunte. Der Lehrer hatte einen Bediensteten rekrutiert, der sich zu sämtlichen Forschungsergebnissen Teabings Zutritt verschaffen konnte … Das war genial!

»Ich muss Ihnen noch eine ganze Menge erzählen«, sagte Rémy und gab Silas die geladene Heckler & Koch zurück. Dann griff er durchs offene Fenster der Trennwand und nahm einen kleinen Revolver aus dem Handschuhfach. »Aber vorher müssen wir noch einen Job erledigen.«


Capitaine Fache war auf dem Flugplatz von Biggin Hill aus der Maschine gestiegen. Ungläubig hörte er sich den Bericht des Chefinspektors der Polizei von Kent über die Ereignisse in Teabings Hangar an.

»Aber ich habe die Maschine doch selbst durchsucht!«, beharrte der Chefinspektor. »Es war niemand drin! Und falls Sir Teabing mir die Gerichte auf den Hals hetzt, werde ich … «

»Haben Sie den Piloten vernommen?«, unterbrach Fache.

»Natürlich nicht. Er ist schließlich Franzose, und nach unserem Gesetz … «

»Bringen Sie mich zu dem Flugzeug!«

Kaum hatten sie den Hangar betreten, entdeckte Fache an der Stelle, an der zuvor die Limousine geparkt hatte, eine verschmierte Blutspur. Er ging zu Teabings Flugzeug und pochte ungestüm an den Rumpf. »Hier ist Capitaine Fache von der französischen Polizei! Sofort aufmachen!«

Der verängstigte Pilot öffnete die Tür und fuhr das Treppchen aus.

Fache zog die Waffe und stieg in die Maschine. In nicht einmal drei Minuten hatte er ein volles Geständnis des Piloten, einschließlich einer Beschreibung des gefesselten Albino-Mönchs. Außerdem hatte er erfahren, dass Langdon und Sophie irgendetwas im Safe des Flugzeugs zurückgelassen hatten, ein Holzkästchen oder etwas Ähnliches. Der Pilot verneinte zwar, den Inhalt zu kennen, gab jedoch zu, dass Langdons Aufmerksamkeit während des gesamten Flugs nach London dem Gegenstand im Safe gegolten hatte.

»Machen Sie den Safe auf«, verlangte Fache.

Der Pilot blickte ihn verschreckt an. »Ich kenne die Kombination nicht!«

»Das ist aber schade«, meinte Fache. »Ich wollte Ihnen eigentlich anbieten, dass Sie im Gegenzug Ihren Pilotenschein behalten können.«

Der Pilot rang die Hände. »Ich kenne hier ein paar von den Mechanikern. Vielleicht könnten die versuchen, das Ding aufzubohren.«

»Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde.«

Der Pilot eilte an sein Funkgerät.

Fache schlenderte ins Heck der Kabine und genehmigte sich einen Drink. Es war zwar noch früh am Tag, aber da er noch nicht ins Bett gekommen war, konnte von Alkohol am Vormittag schwerlich die Rede sein. Fache ließ sich in einen üppig gepolsterten Sitz fallen und schloss die Augen, um Bilanz zu ziehen. Die Suche konzentrierte sich jetzt auf eine schwarze Jaguar-Limousine. Die Stümperei der Polizei von Kent kann dich teuer zu stehen kommen

Faches Handy meldete sich und riss ihn aus seinen Gedanken. Er wünschte sich, er hätte einen Moment Ruhe gehabt. »Hallo?«

»Ich bin unterwegs nach London.« Es war Bischof Aringarosa. »Ich werde in einer Stunde dort sein.«

Fache setzte sich kerzengerade auf. »Ich dachte, Sie sind unterwegs nach Paris!«

»Ich habe meinen Plan geändert. Aus Besorgnis.«

»Das hätten Sie nicht tun sollen.«

»Haben Sie Silas?«

»Nein. Seine Entführer sind der hiesigen Polizei durch die Lappen gegangen, bevor ich hier sein konnte.«

»Aber Sie haben mir zugesichert, dass Sie dieses Flugzeug aufhalten!« Aringarosas Verärgerung war unüberhörbar.

Fache senkte die Stimme. »Exzellenz, in Anbetracht Ihrer Lage möchte ich Ihnen empfehlen, meine Geduld heute nicht auf die Probe zu stellen. Ich werde Silas und die anderen sehr bald aufspüren, seien Sie versichert. Wo werden Sie landen?«

»Einen Augenblick, bitte.« Aringarosa hielt die Hand auf die Sprechmuschel. Kurz darauf meldete er sich wieder. »Der Pilot bemüht sich um eine Landeerlaubnis für Heathrow. Ich bin der einzige Passagier, und wir haben außerplanmäßig das Ziel geändert.«

»Sagen Sie dem Piloten, er soll den Flugplatz Biggin Hill ansteuern. Ich besorge Ihnen eine Landeerlaubnis. Falls ich bei Ihrer Ankunft nicht mehr hier sein sollte, wartet ein Wagen auf Sie.«

»Vielen Dank.«

»Wie ich zuvor schon zum Ausdruck brachte, Exzellenz – Sie sind nicht der Einzige, dem die Felle davon zu schwimmen drohen.«

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