67. KAPITEL

Der Range Rover war schwarzmetallic, hatte Allradantrieb, Schaltgetriebe, Xenon-Scheinwerfer, Kombiheckleuchten und – Rechtslenkung.

Langdon war froh, dass er nicht fahren musste.

Teabings Butler Rémy, von seinem Herrn mit Anweisungen wohl versorgt, lenkte den Wagen durch das vom schwachen Mondlicht beschienene Wiesengelände hinter Château Villette. Er erwies sich als beeindruckend geschickter Fahrer. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, hatte er eine Hügelklippe überwunden und fuhr jetzt zielstrebig auf der anderen Seite den flach abfallenden Hang hinunter, dem gezackten Waldrand in der Ferne entgegen.

Langdon saß auf dem Beifahrersitz, die Schatulle mit dem Kryptex in den Armen. Er wandte sich zu Sophie und Teabing um, die auf der Rückbank saßen.

»Wie geht es Ihrem Kopf?«, erkundigte Sophie sich besorgt.

Langdon rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Danke, schon viel besser.« Die Kopfschmerzen brachten ihn fast um.

Über die Schulter betrachtete Teabing den gefesselten und geknebelten Mönch, der in das enge Gepäckabteil hinter der Rücksitzlehne gepfercht war. Teabing hatte die Pistole des Albinos auf dem Schoß; er sah aus wie ein britischer Großwildjäger, der sich für das Trophäenfoto über seine erlegte Beute beugt.

»Was bin ich froh, dass Sie heute Nacht bei mir reingeschaut haben, Robert«, sagte Teabing und grinste.

»Tut mir Leid, Sir Leigh, dass ich Sie in diese Sache hineingezogen habe.«

»Mein Gott, ich warte schon mein Leben lang darauf, endlich hineingezogen zu werden!« Teabing spähte an Langdon vorbei zur Frontscheibe hinaus. Ein langer Heckenrain tauchte auf. Teabing tippte Rémy auf die Schulter. »Denken Sie daran, keine Bremslichter! Wenn gebremst werden muss, dann mit der Handbremse. Wir müssen erst ein Stück im Wald sein. Ich will nicht riskieren, dass man uns vom Château aus sehen kann.«

Rémy drosselte den Range Rover auf Schritttempo und lenkte ihn geschickt durch eine Lücke in der Hecke. Der Wagen schlingerte auf einen Weg, der zwischen den Bäumen verschwand. Unter den überhängenden Ästen erlosch das Mondlicht augenblicklich.

Jetzt sieht man gar nichts mehr, dachte Langdon. Angestrengt blickte er in die pechschwarze Dunkelheit. Zweige streiften mit kratzendem Geräusch über die linke Wagenseite. Rémy lenkte ein wenig nach rechts und fuhr etwa dreißig Meter in den stockfinsteren Wald hinein.

»Sie machen das hervorragend, Rémy«, sagte Teabing. »Das ist jetzt weit genug. Robert, wären Sie so nett, den kleinen Kippschalter direkt unter der Lüftungsdüse zu betätigen? Haben Sie ihn?«

Langdon hatte den Schalter ertastet. Als er ihn betätigte, fiel sanftes gelbes Licht auf den Waldweg, der zwischen dichtem Unterholz verlief. Nebelleuchten, dachte Langdon erleichtert – gerade hell genug, um den Weg zu finden, aber nicht so hell, dass sie das Fahrzeug verraten konnten.

»Mein lieber Rémy«, verkündete Teabing gut gelaunt, »das Licht ist an. Unser Leben liegt in ihrer Hand.«

»Wo wollen wir eigentlich hin?«, fragte Sophie.

»Dieser Pfad führt ungefähr drei Kilometer quer durch meinen Privatforst«, erklärte Teabing. »Dann schwenkt er nach Norden ab. Falls wir unterwegs nicht in einem Wasserloch stecken bleiben oder gegen einen umgestürzten Baumstamm fahren, kommen wir hoffentlich unbeschadet an der E5 heraus.«

Unbeschadet? Langdons Schädel war anderer Ansicht.

Langdon blickte auf das hölzerne Kästchen mit dem Schlussstein, das in seinem Schoß rühre. Die Rosenintarsie war wieder an ihrem Platz. Trotz der rasenden Kopfschmerzen brannte Langdon darauf, die Rose wieder zu entfernen und die darunter eingravierte Schrift näher zu untersuchen. Er entriegelte den Deckel. Als er ihn öffnen wollte, spürte er Teabings Hand auf der Schulter.

»Geduld, Robert. Hier ist es viel zu finster. Sie konnten die Schrift schon im Hellen nicht entziffern – wie soll es da im Dunkeln gelingen? Und bei diesem Geholpere? Lassen Sie uns erst heil hier raus sein. Sie bekommen Ihre Chance noch früh genug.«

Langdon musste Teabing Recht geben. Er nickte und verriegelte den Deckel wieder.

Der hünenhafte Mönch zerrte mit dumpfem Stöhnen an den Fesseln; dann trat er plötzlich wild mit den Beinen.

Teabing fuhr herum und richtete die Pistole auf den Gefangenen. »Guter Mann, ich begreife nicht, weshalb Sie sich so echauffieren. Sie sind in mein Heim eingedrungen und haben einem lieben Freund eins über den Schädel gezogen. Ich hätte nicht übel Lust, Sie abzuknallen und hier im Wald verrotten zu lassen.«

Der Mönch wurde wieder still.

»Sind Sie sicher, dass es eine gute Idee war, ihn mitzunehmen?«, fragte Langdon.

»Und ob!«, rief Teabing. »Robert, dieser Mistkerl ist Ihre Fahrkarte in die Freiheit. Sie werden wegen Mordes gesucht. Die Polizei ist offenbar so sehr an Ihnen interessiert, dass sie Ihnen bis zu meinem bescheidenen Heim gefolgt ist.«

»Das war meine Schuld«, sagte Sophie. »Der Geld Transporter hatte vermutlich einen Transponder.«

»Das ist nicht der Punkt«, wandte Teabing ein. »Es wundert mich nicht, dass die Polizei Sie gefunden hat, aber es würde mich doch interessieren, wie diese Opus-Dei-Kreatur Sie aufgespürt hat. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, kann ich mir nicht erklären, wie dieser Mann Ihnen zum Château folgen konnte, es sei denn, er hat entweder bei der Polizei oder bei der Bank einen Informanten.«

Langdon dachte darüber nach. Bezu Fache hatte es offenbar sehr nötig, für die Morde dieser Nacht einen Sündenbock zu finden. Und Vernets Angriff war ziemlich unvermutet gekommen – obwohl sein Gesinnungswandel im Grunde verständlich war, wenn man bedachte, dass Langdon unter vierfachem Mordverdacht stand.

»Dieser Klosterbruder arbeitet nicht allein, Robert«, sagte Teabing, »und solange wir nicht wissen, wer seine Hintermänner sind, schweben Sie beide in Gefahr. Aber es gibt eine gute Nachricht, mein Freund: Von jetzt an sind Sie am Drücker. Dieses Monstrum hinter mir weiß zu viel. Wer immer den Kerl am Gängelband hat – sein Chef muss jetzt ziemlich nervös geworden sein.«

Rémy kam mit den Wegverhältnissen inzwischen gut zurecht und fuhr ein wenig schneller.

Teabing deutete auf das Autotelefon unter dem Armaturenbrett. »Robert, seien Sie doch so nett und geben Sie mir das Telefon nach hinten.« Langdon reichte ihm den Apparat. Teabing wählte. Er musste sehr lange warten, bis abgehoben wurde. »Richard? Habe ich Sie geweckt? Dumme Frage, natürlich habe ich Sie geweckt. Tut mir Leid. Ich habe ein kleines Problem. Fühle mich leider nicht besonders … Rémy und ich müssen mal rasch auf die Insel rüber zum Onkel Doktor … Es muss leider ein bisschen schnell gehen, jetzt sofort, um genau zu sein. Tut mit Leid, dass ich mich nicht früher melden konnte. Können Sie Elizabeth in zwanzig Minuten startklar bekommen? … Ist mir klar, aber ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Bis gleich.« Er unterbrach die Verbindung.

»Elizabeth?«, fragte Langdon.

»Mein Flugzeug. Die Mühle kostet mich so viel wie die Apanage einer Königin.«

Langdon drehte sich im Sitz um und sah Teabing mit großen Augen an.

»Was ist?«, sagte Teabing. »Wollen Sie etwa in Frankreich bleiben und die gesamte Polizeibehörde auf dem Hals haben? In London sind Sie wesentlich sicherer.«

Sophie meldete sich zu Wort. »Sie halten es für besser, wir verlassen das Land?«

»Werte Freunde«, meinte Teabing, »drüben in der zivilisierten Welt reicht mein Einfluss wesentlich weiter als in Frankreich. Außerdem heißt es, der Gral befände sich in Großbritannien. Wenn wir das Kryptex aufbekommen, werden wir eine Karte finden und feststellen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegt haben, da bin ich sicher.«

»Sie gehen ein großes Risiko ein, indem Sie uns helfen«, sagte Sophie. »Damit werden Sie sich bei der französischen Polizei keine Freunde machen.«

Teabing machte eine wegwerfende Geste. »Mit Frankreich bin ich fertig«, schnaubte er. »Ich bin nur hergezogen, um den Schlussstein zu finden. Das ist passé. Mir soll's recht sein, wenn ich Château Villette nicht mehr wiedersehe.«

»Wie wollen Sie uns am Flugplatz durch die Kontrollen bringen?«, fragte Sophie unsicher.

»Ich fliege von Le Bourget«, entgegnete Teabing und grinste. »Ein Platz für Geschäftsflieger, nicht weit von hier. Französische Ärzte machen mich immer nervös, wissen Sie, deshalb fliege ich alle vierzehn Tage zur Behandlung nach England hinüber. Ich habe mir hüben und drüben gewisse Privilegien erkauft. Wenn wir in der Luft sind, können Sie sich überlegen, ob drüben bei der Ankunft jemand von der amerikanischen Botschaft auf Sie warten soll.«

Langdon wollte plötzlich nichts mehr mit der amerikanischen Botschaft zu tun haben. Sein ganzes Streben war jetzt auf den Schlussstein gerichtet, auf die Inschrift und die Frage, ob sie sich auf dem richtigen Weg zum Gral befanden. Er überlegte, ob Teabing richtig lag, was England betraf. In der Tat vermuteten die meisten modernen Gralslegenden den Heiligen Gral irgendwo in England. Inzwischen hieß es sogar, König Artus' mystische Insel Avalon sei nichts anderes als das englische Städtchen Glastonbury. Aber wo immer der Gral auch sein mochte – Langdon hätte nie gedacht, dass er sich jemals aktiv an der Gralssuche beteiligen würde.

Die Sangreal-Dokumente, die wahre Geschichte Jesu Christi, die Grabstätte der Maria Magdalena …

Langdon hatte plötzlich das Gefühl, in eine Art Niemandsland geraten zu sein, in eine Zeitblase ohne Verbindung zur wirklichen Welt.

Rémy meldete sich zu Wort. »Sir? Gedenken Sie endgültig nach England zurückzukehren?«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Rémy«, sagte Teabing tröstend. »Meine Rückkehr ins Königreich bedeutet noch lange nicht, dass ich meinen Gaumen für den Rest meiner Tage von der britischen Küche malträtieren lasse. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir auch in Zukunft das Vergnügen Ihrer Dienste gönnen, in einem herrschaftlichen Haus in Devonshire, das ich zu erwerben beabsichtige. Man wird Ihre Effekten unverzüglich dorthin verbringen. Das wird ein Abenteuer, Rémy. Ein Abenteuer, sage ich Ihnen!« Teabings Vorfreude auf seine triumphale Rückkehr nach England hatte etwas Ansteckendes.

Langdon musste lächeln. Gedankenverloren schaute er hinaus in den Wald, der im blassgelben Licht der Nebelscheinwerfer gespenstisch am Fenster vorüberglitt. Zweige hatten den Seitenspiegel nach innen gedrückt. Langdon sah Sophies Spiegelbild; sie saß ruhig auf der Rückbank. Er betrachtete sie eine ganze Weile. Unvermutet überkam ihn eine Woge der Zufriedenheit. Er war dankbar, in den Wirrnissen dieser Nacht eine so gute … und hübsche … Gefährtin gefunden zu haben.

Plötzlich bemerkte er Sophies Blick. Sie beugte sich vor, legte ihm die Hände auf die Schultern und massierte sie ein bisschen. »Geht es Ihnen gut?«

»Sehr gut«, sagte Langdon. »Auf einmal. Irgendwie.«

Sophie lehnte sich wieder zurück, und Langdon sah ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht huschen.


Silas war in den Gepäckraum des Range Rover regelrecht eingekeilt. Er bekam kaum Luft. Man hatte ihm die Arme nach hinten gedreht und mit Paketschnur und mehreren Lagen Klebeband an die Knöchel gefesselt. Jede Unebenheit jagte ihm einen stechenden Schmerz durch die verdrehten Schultern. Wenigstens den Bußgürtel hatte man ihm abgenommen. Da auch sein Mund mit Klebeband verschlossen war, konnte Silas nur durch die Nase atmen, die sich in der Enge des verstaubten Gepäckabteils zusehends verstopfte. Er musste würgend husten.

»Ich glaube, er bekommt keine Luft«, sagte der französische Fahrer besorgt.

Der Brite, der Silas mit der Krücke außer Gefecht gesetzt hatte, wandte sich um und sah ihn über die Schulter finster an. »Zum Glück für Sie beurteilen meine britischen Landsleute den Anstand eines Menschen nicht nach seinem Verhalten gegenüber seinen Freunden, sondern gegenüber seinen Feinden.« Er griff nach dem Klebeband auf Silas' Mund und riss es mit einem heftigen Ruck ab.

Silas' Lippen brannten wie Feuer, doch die frische Luft, die in seine Lungen strömte, war ein Gottesgeschenk.

»Für wen arbeiten Sie? Raus mit der Sprache«, fuhr der Brite ihn an.

»Ich arbeite für den Herrn!«, zischte Silas. An seinem Kinn schmerzte die Platzwunde vom Fußtritt der Frau.

»Sie sind vom Opus Dei«, sagte der Brite. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Sie haben keine Ahnung, woher ich bin!«

»Warum ist Opus Dei hinter dem Schlussstein her?«

Silas hatte nicht die Absicht, darauf zu antworten. Der Schlussstein war der Schlüssel für den Heiligen Gral, und der Heilige Gral war der Schlüssel für die Rettung des Glaubens. Du bist das Werkzeug Gottes. Der Weg ist in Gefahr.

Silas war hilflos; er konnte die Fesseln nicht lösen. In seinem Innern wühlte die Angst, den Lehrer und den Bischof endgültig enttäuscht zu haben. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, Kontakt mit ihnen aufzunehmen und sie über den schrecklichen Gang der Ereignisse zu unterrichten. Jetzt haben die anderen den Schlussstein – diejenigen, die dich gefangen haben. Sie werden vor uns beim Heiligen Gral sein und ihn bergen. In der Dunkelheit und Enge begann Silas voller Inbrunst zu beten.

O Herr, schenk mir ein Wunder.

Er konnte nicht wissen, dass dieses Wunder ihm schon in ein paar Stunden beschert werden sollte.

»Robert?« Sophie sah ihn immer noch an. »Sie haben gerade so ein komisches Gesicht gemacht.«

Langdon drehte sich zu ihr um. Er merkte, dass seine Kiefer mahlten. Sein Herz jagte. Er hatte soeben eine unglaubliche Eingebung gehabt. Sollte die Erklärung wirklich so einfach sein? »Darf ich mal Ihr Handy benutzen, Sophie? Mir ist gerade etwas eingefallen.«

»Was denn?«

»Ich werde es Ihnen gleich sagen, aber zuerst brauche ich Ihr Handy.«

Sie reichte es ihm. »Ich glaube zwar nicht, dass Fache das Handy überwacht, aber sprechen Sie trotzdem weniger als eine Minute, für alle Fälle.«

»Ich muss in die USA anrufen.«

»Das geht nur per R-Gespräch. Der Funknetzbetreiber vermittelt sonst keine Transatlantikgespräche.«

Langdon wählte eine Null. Die nächsten sechzig Sekunden lieferten vielleicht die Antwort auf eine Frage, an der er schon die ganze Nacht herumgerätselt hatte.

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