Sophie verstummte erschöpft. Langdon sah, dass ihr diese nächtliche Begebenheit noch immer zu schaffen machte. Er selbst war fasziniert, einen authentischen Bericht über einen hieros Gamos gehört zu haben. Nicht nur, dass Sophie das Ritual in allen Einzelheiten miterlebt hatte, der eigene Großvater war obendrein der Zelebrant gewesen … der Großmeister der Prieuré de Sion. Er befand sich in einer Reihe mit großen Namen. Da Vinci, Botticelli, Victor Hugo, Jean Cocteau … Jacques Saunière.
»Ich kann Ihnen nachfühlen, dass es ein Schock für Sie war«, sagte Langdon sanft.
Sophies tränenfeuchte Augen schimmerten jetzt in einem tiefen Grün. »Er hat mich aufgezogen wie sein eigenes Kind.«
Langdon kannte das Gefühl, das bei Sophies Worten aus ihren Augen sprach. Es war Reue. Sophie sah ihren Großvater, dem sie sozusagen den Laufpass gegeben hatte, nun in einem anderen Licht.
Draußen an Steuerbord zog der heraufdämmernde Morgen eine scharlachrote Schärpe über den Horizont. Die Erde unter ihnen war noch schwarz.
»Kleine Erfrischung gefällig?« Teabing präsentierte schwungvoll einige Dosen Cola und eine Schachtel Cracker. »Unser Freund, der Mönch, ist noch ein wenig mundfaul«, berichtete er dann, »aber das wird sich geben.« Er biss geräuschvoll in einen Cracker. »Sind Fortschritte zu vermelden, meine Schöne?«, wandte er sich nach einem Blick auf den Vierzeiler an Sophie.
Sophie schüttelte den Kopf und erwiderte nichts.
Während Teabing sich erneut dem Vierzeiler widmete, riss Langdon eine Coladose auf und schaute zum Fenster hinaus. In seinem Kopf wirbelten Bilder von Geheimritualen und rätselhaften Codes, die auf ihre Entschlüsselung warteten, um Geheimnisse von unvorstellbarer Tragweite preiszugeben. Langdon dachte an die dritte Zeile des rätselhaften Vierzeilers: ein gepriesener Templerstein. Er nahm einen tiefen Schluck, betrachtete die letzten Schleier der Nacht, die rasch schwanden, und versuchte, dem noch blassen Tageslicht irgendeine Erleuchtung abzuringen, doch je heller es draußen wurde, desto weiter schien er sich von der Erkenntnis der Wahrheit zu entfernen. In Langdons Kopf vermischten sich der Rhythmus des Vierzeilers und der orgiastische Gesang beim Ritual des hieros Gamos mit dem Dröhnen der Triebwerke.
Ein gepriesener Templerstein.
Das Flugzeug hatte die Küste erreicht, als ihm wie ein Blitz die Erleuchtung kam. Langdon setzte die leere Coladose so heftig ab, dass es wie ein Pistolenschuss knallte. »Ihr werdet es mir nicht glauben«, wandte er sich Sophie und Teabing zu, »aber ich weiß, was mit dem gepriesenen Templerstein gemeint ist.«
Teabing riss die Augen auf. »Sie wissen, wo dieser Stein ist?«
»Nicht wo, sondern was er ist.« Langdon lächelte. »Ich bin sicher, damit ist ein steinerner Kopf gemeint.«
»Ein steinerner Kopf?«, fragte Teabing verwirrt.
Auch Sophie blickte verwundert drein.
»Die Kirche«, fuhr Langdon fort, »hat den Templern doch alle möglichen Blasphemien und Ketzereien vorgeworfen, nicht wahr?«
»Allerdings«, sagte Teabing. »Man hat eine stattliche Liste von Vorwürfen konstruiert: Sodomie, Urinieren auf das Kruzifix, Teufelsverehrung … «
»Auf der Liste befand sich auch der Vorwurf der Götzenanbetung, nicht wahr? Die Kirche hat den Templerorden beschuldigt, Geheimrituale zu vollziehen, bei denen die Skulptur eines steinernen Kopfes verehrt wurde. Der Kopf des heidnischen Gottes … «
»Baphomet!«, platzte Teabing heraus. »Sie haben Recht! Ein gepriesener Templerstein!«
Langdon erläuterte Sophie, dass Baphomet ein heidnischer Fruchtbarkeitsgott war, dem die schöpferische Kraft der Reproduktion zugeschrieben wurde. Sein Kopf wurde als Widderkopf oder Kopf eines Ziegenbocks dargestellt, die weithin als Symbole der Fortpflanzung und Fruchtbarkeit galten. Zur Verehrung Baphomets hatten die Templer, von Gesängen und Gebeten begleitet, einen Reigen um ein steinernes Abbild seines Kopfes getanzt.
»Baphomet!« Teabing schüttelte den Kopf. »Im Baphometkult wurde das schöpferische Geheimnis der geschlechtlichen Vereinigung verehrt, bis Papst Klemens V. aller Welt verkündete, dass der Kopf Baphomets in Wirklichkeit das Haupt des Teufels sei. Er hat den Kopf Baphomets als Stolperstein benutzt, mit dem er die Templer zu Fall brachte.«
Langdon pflichtete ihm bei. Die heutige Vorstellung vom gehörnten Teufel verdanken wir dem Bemühen der Kirche, den gehörnten Fruchtbarkeitsgott als Symbol des Bösen zu diffamieren. Das Bemühen der Kirche war offensichtlich von Erfolg gekrönt, wenn auch nicht vollständig. Auf der Festtafel beim traditionellen amerikanischen Thanksgiving, dem Erntedankfest, wurden immer noch gehörnte heidnische Fruchtbarkeitssymbole aufgestellt. Auch das Füllhorn war ein Tribut an Baphomets Fruchtbarkeit und ging zurück auf die Göttersage von Zeus, der von einer Ziege gesäugt wurde, deren Gehörn abbrach und sich wundersamerweise mit Früchten füllte.
»Ja!«, rief Teabing begeistert. »Der Vers muss sich auf Baphomet beziehen. Damit hätten wir unseren gepriesenen Templerstein!«
»Aber wenn das stimmt«, meinte Sophie, »haben wir ein neues Problem.« Sie deutete auf die fünf Einstellsegmente des Kryptex. »Baphomet hat acht Buchstaben, aber wir haben nur Platz für fünf.«
Teabing grinste übers ganze Gesicht. »Und hier, meine Liebe, kommt nun der Atbasch-Code ins Spiel.«