Leutnant Collet stand, am Anfang der Zufahrt zu Leigh Teabings Anwesen und schaute zu dem massigen Gebäude hinauf. Isoliert. Dunkel. Gute Deckung. Die acht Mann seines Kommandos waren geräuschlos am Zaun ausgeschwärmt, Binnen Minuten konnten sie hinübersteigen und das Château umstellen. Für einen Überraschungsschlag von Collets Einsatzkommando hätte Langdon keinen besseren Ort wählen können als das große Schloss mit dem weitläufigen Gelände.
Collet wollte gerade Fache anrufen, als sein Handy sich meldete und Fache selbst anrief. Der Capitaine schien von der jüngsten Entwicklung längst nicht so angetan, wie Collet erwartet, hatte. »Warum hat man mir nicht mitgeteilt, dass wir Langdons Spur wieder aufgenommen haben?«
»Sie hatten gerade telefoniert, Chef, und … «
»Wo ist Ihr genauer Standort, Leutnant Collet?«
Collet gab es durch. »Das Anwesen gehört einem britischen Staatsbürger namens Teabing«, fügte er hinzu. »Langdon hat eine ziemlich lange Fahrt in Kauf genommen, um hierher zu gelangen. Sein Wagen ist innerhalb der Umzäunung. Wir haben keine Anzeichen dafür gefunden, dass er sich gewaltsam Zutritt verschafft hat. Es ist eher davon auszugehen, dass Langdon den Bewohner des Anwesens kennt.«
»Ich komme zu Ihnen raus«, sagte Fache. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich werde die Sache persönlich in die Hand nehmen.«
Collet machte ein langes Gesicht. »Aber Sie können in frühestens zwanzig Minuten hier sein. Wir sollten sofort etwas unternehmen, Chef! Ich habe den Täter hier auf dem Präsentierteller, und acht einsatzbereite Männer stehen zu meiner Verfügung! Vier sind mit Armeegewehren bewaffnet, die anderen haben Handfeuerwaffen und … «
»Warten Sie auf mich!«
»Und was ist, wenn Langdon da drinnen Geiseln genommen hat, Capitaine? Wenn wir eingreifen wollen, muss es sofort geschehen! Meine Männer sind in Stellung und warten auf den Einsatzbefehl.«
»Leutnant Collet, Sie werden nichts unternehmen, bevor ich da bin. Das ist ein Befehl!« Fache unterbrach die Verbindung.
Auch Collet schaltete sein Handy aus. Er wusste, warum Fache ihm befohlen hatte, zu warten. Der Capitaine war mindestens so berühmt für seine Spürnase, wie er für seine Eitelkeit berüchtigt war. Fache möchte die Lorbeeren für die Verhaftung selbst einheimsen. Nachdem er dafür gesorgt hatte, dass das Gesicht des Amerikaners auf jeder Mattscheibe erschien, wollte er sichergehen, dass sein eigenes Gesicht mindestens ebenso oft über die französischen Bildschirme flimmerte. Collet hatte die undankbare Aufgabe, die Stellung zu halten, bis der Chef kam und den großen Zampano spielen konnte.
Während Collet noch an seinem Ärger kaute, schoss ihm eine andere Erklärung für die Verzögerung durch den Kopf. Schadensbegrenzung. Bei der Verhaftung eines Flüchtigen wurde nicht lange gefackelt, es sei denn, es waren Zweifel an seiner Schuld aufgekommen. Hat Fache Bedenken, dass Langdon der richtige Mann ist? Der Gedanke war alles andere als beruhigend. Fache hatte sich heute Nacht weit aus dem Fenster gelehnt, um Robert Langdon in die Finger zu bekommen – verdeckte Ermittlung, Interpol und jetzt die Fernsehfahndung. Nicht einmal der große Bezu Fache würde das innenpolitische Erdbeben überleben, wenn er einen prominenten amerikanischen Staatsbürger fälschlicherweise zum Mörder erklärt und eine Fernsehfahndung nach ihm losgetreten hatte …
Falls Robert Langdon unschuldig war, überlegte Collet, lieferte dies auch eine Erklärung für eine der merkwürdigsten Ungereimtheiten dieses Falls. Sophie Neveu, die Enkelin des Opfers, würde nicht ausgerechnet dem angeblichen Mörder ihres Großvaters zur Flucht verhelfen – es sei denn, sie wusste genau, dass Langdon unschuldig war.
Fache hatte für Sophies merkwürdiges Verhalten bereits sämtliche denkbaren und undenkbaren Erklärungen angeboten, einschließlich der Version, dass Sophie als Saunières Alleinerbin ihren heimlichen Geliebten Robert Langdon zum Mord an ihrem Großvater angestiftet hatte, der wiederum Verdacht geschöpft und der Polizei den Hinweis P.S. Robert Langdon suchen hinterlassen hatte. Doch Sophie Neveu war viel zu klug, um sich auf ein so verrücktes und riskantes Spiel einzulassen. Collet war sicher, dass hier etwas ganz anderes im Busch war.
»Leutnant?« Einer von Collets Beamten kam zu ihm gerannt. »Wir haben einen Wagen gefunden.«
Collet folgte dem Mann etwa fünfzig Meter über den Abzweig der Zufahrtsstraße hinaus. Der Beamte deutete auf das breite Bankett auf der anderen Straßenseite, wo fast unsichtbar im Gebüsch ein schwarzer Audi stand. Das Fahrzeug hatte die Nummernschilder einer Autovermietung. Collet legte die Hand auf die Motorhaube. Sie war noch warm, fast heiß.
»Mit diesem Wagen muss Langdon gekommen sein«, sagte Collet. »Rufen Sie die Autovermietung an. Fragen Sie nach, ob er gestohlen wurde.«
»Ja, Chef.«
Ein anderer Beamter winkte Collet zum Zaun herüber. »Leutnant, das sollten Sie sich mal ansehen«, sagte er und hielt Collet ein Nachtsichtgerät hin. »Die Baumgruppe am Ende der Zufahrt.«
Collet peilte die Kuppe des Hügels an und stellte das Glas scharf. Aus verschwommenen grünen Umrissen schälte sich langsam ein klares Bild heraus. Collet folgte der Zufahrt, schwenkte langsam zu der Baumgruppe – und konnte kaum fassen, was er sah. Dort, im üppigen Grün, stand ein Geldtransporter. Genau so ein Transporter wie der, den er zuvor aus der Zürcher Depositenbank gelassen hatte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, es möge sich um einen dummen Zufall handeln, doch er wusste, dass es keiner war.
»Langdon und Neveu sind offenbar mit diesem Lieferwagen aus der Bank entwischt«, meinte der Beamte.
Collet fehlten die Worte. Der Fahrer des Geldtransporters fiel ihm ein. Seine Rolex. Seine Ungeduld. Du hast den Laderaum nicht kontrolliert!
Jemand in der Bank musste die Polizei an der Nase herumgeführt und Langdon und Sophie zur Flucht verholfen haben. Collet konnte es kaum glauben. Aber wer? Und warum? Collet fragte sich, ob vielleicht das der Grund war, weshalb Fache ihm befohlen hatte, auf sein Erscheinen zu warten. Vielleicht war Fache dahinter gekommen, dass heute Nacht mehr Leute im Spiel waren als lediglich Langdon und Sophie.
Aber wenn Langdon und Neveu mit dem Geldtransporter gekommen sind, wer hat dann den Audi gefahren?
Hunderte von Kilometern weiter südlich raste eine gecharterte Beechcraft Baron 58 über das Tyrrhenische Meer nach Norden. Trotz des ruhigen Flugs hielt Bischof Aringarosa sich eine Tüte vors Gesicht. Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Das Telefonat mit Paris war alles andere als erwartungsgemäß verlaufen.
Aringarosa saß als einziger Passagier in der kleinen Kabine. Er drehte den goldenen Ring an seinem Finger und versuchte, seiner lähmenden Angst und Verzweiflung Herr zu werden. In Paris ist alles schrecklich schief gegangen. Aringarosa schloss die Augen und betete, dass es Bezu Fache gelingen möge, alles wieder ins Lot zu bringen.