69. KAPITEL

Die beiden donnernden Garrett TFE-73I Triebwerke jagten die Hawker 731 mit brachialer Gewalt zum Himmel. Der Flugplatz von Le Bourget wich mit atemberaubender Geschwindigkeit vor dem Fenster zurück.

Du fliehst aus deiner Heimat, dachte Sophie, die in den Ledersitz gepresst wurde. Bis zu diesem Moment hatte sie noch hoffen können, das Katz-und-Maus-Spiel mit Fache irgendwie vor ihrem Arbeitgeber, dem Innenministerium, rechtfertigen zu können. Du hast versucht, einen Unschuldigen zu schützen. Du wolltest den letzten Wunsch deines sterbenden Großvaters erfüllen. Aber dieses Schlupfloch gab es jetzt nicht mehr. Sie hatte das Land ohne Papiere verlassen, in Begleitung eines polizeilich gesuchten Mannes und einer gefesselten Geisel zwielichtiger Herkunft. Falls es je eine noch vertretbare Grenzlinie für Sophie gegeben hatte, dann hatte sie diese Linie soeben fast mit Schallgeschwindigkeit überschritten.

Sophie saß mit Langdon und Teabing im vorderen Teil der luxuriös ausgestatteten Kabine. Die bequemen verstellbaren Sitze waren am Boden in einem Schienensystem verankert und konnten um einen Edelholztisch herum gruppiert werden. Ein Sitzungssaal im Kleinen.

Das exklusive Ambiente konnte jedoch nicht über die unwürdige Situation im Heck der Kabine hinwegtäuschen, wo in einem separaten Sitzbereich neben der Bordtoilette Teabings Butler Rémy Platz genommen hatte und auf Geheiß seines Herrn mit der Waffe in der Hand widerwillig den blutverschmierten Mönch bewachte, der wie ein Gepäckstück als gefesseltes Bündel zu seinen Füßen lag.

»Bevor wir uns näher mit dem Schlussstein befassen«, sagte Teabing, »möchte ich Sie bitten, mir ein paar Worte zu gestatten.« Seine Stimme klang angespannt, wie die eines Vaters, der sich genötigt sieht, seinem Sohn die Geschichte von den Bienen und Blumen zu erläutern. »Meine Freunde, ich bin mir darüber im Klaren, dass ich auf dieser Reise im Grunde nur der Gastgeber bin – was mir übrigens eine Ehre ist. Doch als ein Mann, der sein Leben der Gralssuche gewidmet hat, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen ein Wort der Warnung mit auf jenen Weg zu geben, den Sie beschreiten möchten, denn auf diesem Weg gibt es kein Zurück mehr, auch wenn noch so große Gefahren lauern.« Er wandte sich an Sophie. »Miss Neveu, Ihr Großvater hat Ihnen dieses Kryptex in der Hoffnung anvertraut, dass Sie das Geheimnis des Heiligen Grals am Leben erhalten.«

»Ja.«

»Da ist es nur zu verständlich, dass Sie sich veranlasst sehen, dem Pfad zu folgen, wohin er Sie auch führen mag.«

Sophie nickte, wenngleich sie noch ein anderes Motiv hatte, das wie eine Flamme in ihr brannte: die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Und wenngleich Langdon der Überzeugung war, dass das Kryptex nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun habe, fühlte Sophie sich immer noch auf sehr persönliche Weise damit verbunden. Ihr war, als wolle dieses von der Hand ihres Großvaters gefertigte Marmorkunstwerk zu ihr sprechen; als würde es die Erlösung von der Leere in sich tragen, die Sophie all die Jahre bedrückt hatte.

»Ihr Großvater und drei andere Männer haben heute Nacht ihr Leben gelassen«, fuhr Teabing fort. »Sie sind gestorben, damit der Schlussstein nicht der Kirche in die Hand fällt. Opus Dei war heute Nacht nur noch einen winzigen Schritt davon entfernt, den Schlussstein zu besitzen. Ich nehme an, Sie wissen, dass eine außerordentliche Verantwortung auf Ihnen lastet. Ihnen wurde gleichsam eine Fackel übergeben, eine zweitausend Jahre alte Flamme, die weder verlöschen noch in die falschen Hände geraten darf.« Teabing streifte das Rosenholzkästchen mit einem Blick. »Miss Neveu, ich weiß sehr wohl, dass Sie mehr oder weniger unfreiwillig in diese Sache hineingeraten sind, aber angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, müssen Sie sich ohne Wenn und Aber der Verantwortung stellen, oder Sie müssen diese Verantwortung an jemand anderen weiterreichen.«

»Mein Großvater hat das Kryptex an mich weitergegeben. Ich bin sicher, er war davon überzeugt, dass ich der Verantwortung gewachsen bin.«

Teabing wirkte ein wenig zuversichtlicher, war aber offenkundig noch immer nicht überzeugt. »Gut. Ein starker Wille ist unverzichtbar. Trotzdem frage ich mich, ob Ihnen klar ist, dass die Sache erst dann wirklich schwierig wird, wenn der Schlussstein erfolgreich geöffnet worden ist.«

»Inwiefern?«

»Meine Liebe, stellen Sie sich vor, Sie halten plötzlich die Karte in der Hand, die Ihnen den Weg zum Heiligen Gral weist. In diesem Moment verfügen Sie über eine Wahrheit, die den Lauf der Geschichte für immer ändern kann. Dann sind Sie die Hüterin eines Wissens, dem die Menschheit seit Jahrhunderten auf die Spur zu kommen trachtet. Sie müssen die Entscheidung treffen, ob der Welt dieses Wissen enthüllt werden soll. Wenn Sie sich dafür entscheiden, werden Ihnen viele Menschen zujubeln, aber ebenso viele werden Sie verdammen. Die Frage ist, ob Sie die Kraft haben, sich dieser Aufgabe zu stellen.«

Sophie schien nachzudenken. »Ist es denn an mir, diese Entscheidung zu fällen?«

Teabing hob die Brauen. »An wem denn sonst, wenn nicht an dem, der den Schlussstein besitzt?«

»An der Prieuré de Sion, die das Geheimnis so lange gehütet hat.«

»An der Prieuré?« Teabing blickte Sophie skeptisch an. »Wie soll das gehen? Die Prieuré de Sion wurde heute Nacht zerschlagen – enthauptet, wie Sie selbst ganz richtig bemerkt haben. Wir werden nie erfahren, ob die Prieuré durch einen Spion in den eigenen Reihen oder durch irgendwelche Abhörpraktiken ausgespäht wurde, doch es bleibt die Tatsache bestehen, dass jemand die Identität ihrer vier höchsten Mitglieder aufgedeckt hat. Ich würde jedem misstrauen, der als Vertreter der Prieuré an mich herantritt.«

»Was schlagen Sie vor?«, fragte Langdon.

»Sie wissen so gut wie ich, Robert, dass die Prieuré die Wahrheit nicht all die Jahre gehütet hat, damit sie bis in alle Ewigkeit in einer dunklen Ecke vor sich hin schimmelt. Die Prieuré wollte den richtigen Moment in der Geschichte abwarten, um das Geheimnis zu enthüllen – gleichsam eine Zeit, die die Wahrheit verkraften kann.«

»Und Sie sind der Meinung, diese Zeit sei jetzt gekommen?«

»Absolut! Offensichtlicher könnte es gar nicht sein. Sämtliche historischen Vorzeichen sind eingetreten. Und wieso hätte die Kirche gerade jetzt zuschlagen sollen, wenn nicht aus dem Grund, weil die Prieuré die Absicht hat, in absehbarer Zeit an die Öffentlichkeit zu gehen?«

»Der Mönch hat uns seine Absichten noch nicht verraten«, wandte Sophie ein.

»Die Absichten des Mönchs sind die Absichten der Kirche«, gab Teabing zurück. »Es geht um die Zerstörung der Dokumente, die den ungeheuren Betrug der Kirche beweisen. Die Kirche ist ihrem Ziel heute Nacht näher gekommen als je zuvor. Die Prieuré, Miss Neveu, hat ihr Vertrauen in Sie gesetzt. Ihre Aufgabe, den Gral zu retten, umfasst auch den Auftrag, den letzten Wunsch der Prieuré zu erfüllen und die Wahrheit mit der Welt zu teilen.«

Langdon schaltete sich ein. »Sir Leigh, ist es nicht ein bisschen viel von Sophie verlangt, eine solche Entscheidung jetzt zu treffen, wo sie erst vor einer Stunde erfahren hat, dass es die Sangreal-Dokumente überhaupt gibt?«

Teabing seufzte. »Miss Neveu, entschuldigen Sie bitte meine Ungeduld. Was mich betrifft, war ich immer der Ansicht, dass diese Dokumente veröffentlicht gehören, aber die Entscheidung liegt letztlich bei Ihnen. Ich halte es aber für wichtig, dass Sie sich Gedanken darüber machen, was geschehen soll, wenn es uns gelingt, diesen Schlussstein zu öffnen.«

»Gentlemen«, sagte Sophie mit fester Stimme, »ich möchte Ihre eigenen Worte zitieren: Du wirst den Heiligen Gral nicht finden. Der Heilige Gral findet dich. Ich vertraue darauf, dass der Gral mich nicht ohne Grund gefunden hat. Wenn es so weit ist, werde ich wissen, was ich zu tun habe.«

Die beiden Männer blickten einander erstaunt an.

Sophie deutete auf das Rosenholzkästchen. »Dann wollen wir mal.«

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