Silas saß hinter dem Steuer des schwarzen Audi, den der Lehrer ihm besorgt hatte, und schaute hinaus auf das großartige Kirchengebäude von Saint-Sulpice. In den Strahlen der tief angebrachten Flutlichter ragten die beiden Türme wie zwei stämmige Wächter über dem langen Baukörper des Kirchenschiffs empor, aus dessen Seiten rechts und links schattige Reihen schlanker Strebebögen ragten wie die Rippen eine anmutigen Tieres.
Die Heiden missbrauchen ein Gotteshaus als Versteck für ihren Stein. Wieder einmal hatte die Bruderschaft einen Beweis für ihren legendären Ruf als Meister der Irreführung und des Betrugs geliefert. Silas freute sich, den Stein aufzufinden und dem Lehrer zu überreichen, damit endlich geborgen werden konnte, was die Bruderschaft den Rechtgläubigen schon so lange verweigerte.
Wie mächtig Opus Dei dann erst sein wird!
Silas parkte den Wagen am Rande des verlassenen Place Saint-Sulpice und atmete tief durch. Jetzt galt es, für die bevorstehende Aufgabe klaren Kopf zu behalten. Silas' breiter Rücken schmerzte noch von der Selbstgeißelung, die er sich zuvor abverlangt hatte – aber was war dieser Schmerz schon gegen das qualvolle Lehen, das er geführt hatte, bevor Opus Dei zu seinem Retter geworden war?
Doch die Erinnerungen lasteten auf seinem Seelenfrieden.
Lass ab von deinem Hass, befahl sich Silas. Vergib denen, die sich an dir versündigt haben.
Er schaute zu den steinernen Türmen von Saint-Sulpice empor und versuchte, den vertrauten inneren Sog zu unterdrücken, jene Kraft, die seine Gedanken so oft zurück in die Vergangenheit riss, bis er sich plötzlich wieder in jenem Gefängnis befand, das damals – er war fast noch ein Halbwüchsiger – seine Welt gewesen war. Die Erinnerungen an dieses Fegefeuer kochten in ihm hoch wie immer, fuhren wie ein Sturm durch all seine Sinne … der Gestank des faulenden Kohls, der Geruch des Todes, des Urins und der menschlichen Ausscheidungen, das hoffnungslose Anschreien gegen den Wind der Pyrenäen und das leise Schluchzen vergessener Männer.
Andorra, dachte er. Er spürte, wie seine Muskeln sich verkrampften.
Unglaublicherweise war Silas in ebendiesem verlassenen Gebilde zwischen Spanien und Frankreich, wo er in seiner Zelle vor Kälte zitternd den Tod herbeigesehnt hatte, gerettet worden.
Damals hatte er es nicht begriffen.
Erst lange nach dem Sturm ward wieder Licht.
Damals war sein Name nicht Silas gewesen. An den Namen, den seine Eltern ihm gegeben hatten, konnte er sich nicht mehr erinnern. Mit sieben Jahren war er von zu Hause ausgerissen. Sein Vater, ein Hafenarbeiter und Trunkenbold, hatte aus Wut, dass ihm ein Albino geboren worden war, immer wieder seine Frau verprügelt, der er die Schuld am eigentümlichen Äußeren des Kindes gab. Als der Junge sich einmal schützend vor seine Mutter warf, war auch er vom Vater schwer misshandelt worden.
Eines Abends, nachdem der Vater wieder einmal gewütet hatte, war Silas' Mutter nicht mehr aufgestanden, und in dem Jungen stieg ein Gefühl unsagbarer Schuld auf. Warum hatte er das zugelassen;
Es ist alles deine Schuld!
Als hätte ein Dämon von seinem Körper Besitz ergriffen, holte er das Schlachtermesser aus der Küche und schlich wie in Trance in die Schlafkammer, wo der Vater besinnungslos betrunken mit dem Gesicht zur Wand im Bett lag und schnarchte. Wortlos stieß Silas ihm das Messer in den Rücken. Aufbrüllend versuchte der Vater, sich umzudrehen, doch sein Sohn stieß immer wieder zu, bis es still in der Kammer wurde – totenstill.
Der Junge flüchtete aus dem Haus, doch er geriet von einer Hölle in die nächste. In den Straßen von Marseille erging es ihm kaum besser als zu Hause. Sein seltsames Äußeres machte ihn unter den anderen Straßenkindern zum Außenseiter. Sie wollten ihn nicht akzeptieren. So hauste er, ganz auf sich allein gestellt, in einem verfallenden Fabrikgebäude und lebte von gestohlenem Obst und rohem Fisch aus dem Hafen. Sein einziger Zeitvertreib waren zerfetzte Illustrierte, die er im Abfall gefunden hatte. Er brachte sich selbst das Lesen bei. Wie sein Vater wurde er sehr groß und kräftig. Als er zwölf Jahre alt war, machte sich ein Mädchen – ebenfalls eine Ausreißerin und fast doppelt so alt wie er – auf der Straße über ihn lustig und versuchte obendrein, ihm sein Essen wegzunehmen, ein Unterfangen, das sie beinahe mit dem Leben bezahlte. Als die Polizei den Jungen von seinem Opfer weggezerrt hatte, stellte man ihm ein Ultimatum: Entweder du verschwindest auf der Stelle aus Marseille, oder du landest im Jugendgefängnis.
Er zog die Küste hinunter nach Toulon. Aus den Blicken, mit denen man ihn auf der Straße musterte, wich das Mitleid und verwandelte sich in Angst. Aus dem Jungen war ein Furcht einflößender Hüne geworden. Er konnte die Passanten tuscheln hören. Ein Gespenst, flüsterten sie einander mit schreckgeweiteten Augen zu und starrten auf seine weiße, farblose Haut. Ein Gespenst mit den Augen des Teufels.
Er kam sich tatsachlich wie ein Gespenst vor … durchsichtig … unstet … schwerelos …
Die Menschen schienen mitten durch ihn hindurchzusehen.
Als Achtzehnjähriger versuchte er in einer Hafenstadt auf einem Frachter eine Kiste Pökelfleisch zu stehlen. Er wurde von zwei Besatzungsmitgliedern gestellt. Die beiden Matrosen, die auf ihn einprügelten, stanken nach Bier wie vor Jahren sein Vater. Die Erinnerung an die Angst und den Hass drängten einem Ungeheuer gleich aus dem schwarzen Abgrund des Vergessens hervor. Dem einen der beiden Matrosen brach der junge Mann mit bloßen Händen das Genick, und nur das Eintreffen der Polizei bewahrte den anderen vor einem ähnlichen Schicksal.
Zwei Monate später war Silas in Handschellen im Gefängnis in Andorra geendet.
Ein weißes Gespenst, verhöhnten ihn die anderen Gefangenen, als er nackt und frierend von der Polizei hereingeführt wurde. Willst du nicht durch die Wand gehen und abhauen? Du bist doch ein Geist!
Im Verlauf von zwölf Jahren verwitterten Silas' Körper und seine Seele, bis er davon überzeugt war, tatsächlich durchsichtig zu sein.
Du bin ein Gespenst.
Du bist schwerelos.
Yo soy un espectro … pálido como un fantasma … caminando este mundo a solas. (Ich bin ein Gespenst … fahl wie ein Geist … allein wanderst du durch diese Welt.)
Eines Nachts erwachte das Gespenst vom Geschrei der Mitgefangenen. Er wusste nicht, welche unsichtbare Gewalt den Boden durchrüttelte, auf dem er geschlafen hatte, und den Mörtel aus den Fugen seines Zellengemäuers rieseln ließ, doch kaum war er aufgesprungen, krachte ein gewaltiger Steinquader genau auf jene Stelle, an der er einen Sekundenbruchteil zuvor gelegen hatte. Als Silas aufschaute, um zu sehen, wo der Quader sich gelöst hatte, sah er in der noch immer schwankenden Wand ein Loch – und dahinter bot sich ihm ein Anblick, den er seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gehabt hatte.
Der Mond.
Die Erde bebte immer noch, als das Gespenst durch einen engen Durchlass kroch und hinaus in eine unermessliche Weite taumelte. Über öde Berghänge stolperte er hinunter in den Wald. Er lief die ganze Nacht, immer bergab, halb ohnmächtig vor Hunger und Erschöpfung.
Im Morgengrauen gelangte er auf eine Lichtung. Eisenbahngleise schnitten eine Schneise durch den Wald. Wie in Trance folgte er den Schienen. Er stieß auf einen verlassenen Güterwaggon und kroch hinein, um sich im Schutz des Wagens auszuruhen.
Silas erwachte in einem fahrenden Güterzug. Wie lange fahren wir schon! Wie weit sind wir inzwischen gekommen? Seine Eingeweide schmerzten. Ist das der Tod …?
Er schlief wieder ein. Diesmal erwachte er, als jemand kreischend auf ihn einschlug. Er wurde aus dem Waggon gestoßen. Aus unzähligen Wunden blutend, wankte Silas in eine kleine Siedlung. Vergeblich versuchte er, etwas Essbares aufzustöbern. Schließlich brach er am Straßenrand zusammen. Ohnmacht umfing ihn …
… bis es ganz langsam wieder hell wurde. Das Gespenst fragte sich, wie lange es schon tot war. Einen Tag? Drei? Es war ihm egal. Das Bett, in dem er lag, war weich wie eine Wolke, und die Luft roch anheimelnd nach brennenden Kerzen. Jesus stand über ihm und schaute auf ihn herab. Hier bin ich, sagte Jesus. Der Stein ist beiseite gerollt, und du bist neugeboren.
Und das Gespenst schlief und wurde wieder wach. Seine Gedanken verschwammen im Nebel. Er hatte nie an den Himmel geglaubt, nun aber stand Jesus neben ihm, wachte über ihn, gab auf ihn Acht. Speisen erschienen neben seinem Bett, und während das Gespenst alles verschlang, spürte es, wie seine Knochen sich wieder mit Fleisch überzogen. Erneut versank er in Schlaf. Als er erwachte, lächelte Jesus immer noch auf ihn herab. Mein Sohn, du bist gerettet. Gesegnet sind jene, die mir Folge leisten auf meinem Weg.
Und wieder schlief er ein.
Schmerzensschreie rissen ihn aus seinem Schlummer. Er sprang aus dem Bett, stolperte einen Gang hinunter in Richtung des Geschreis und gelangte in eine Küche. Ein großer Mann schlug auf einen kleineren ein. Ohne zu wissen warum, packte er den großen Kerl und schleuderte ihn mit solch brutaler Wucht gegen die Wand, dass der Mann humpelnd und schreiend die Flucht ergriff. Das Gespenst beugte sich über den anderen Mann, der zu Boden gegangen war. Er war ein junger Bursche in Priesterkleidung mit übel zugerichteter Nase. Das Gespenst hob den blutenden Priester auf und trug ihn zu einem Sofa.
»Ich danke dir, mein Freund«, sagte der Priester in gebrochenem Französisch. »Das Geld der Gottesdienstkollekte lockt immer wieder Diebe an. Du hast im Schlaf Französisch gesprochen. Sprichst du auch Spanisch?«
Das Gespenst schüttelte den Kopf.
»Wie heißt du?«, fragte der Priester.
Das Gespenst konnte sich nicht erinnern, welchen Namen seine Eltern ihm gegeben hatten. Er kannte nur die Spottnamen, mit denen die Wachen im Gefängnis ihn bedacht hatten.
Der Priester lächelte. »No hay problema. Ich heiße Manuel Aringarosa und bin Missionar aus Madrid. Man hat mich hergeschickt, damit ich für das Obra de Dio eine Kirche baue.«
»Wo bin ich?«, fragte das Gespenst. Seine Stimme klang hohl.
»In Orviedo in Nordspanien.«
»Wie bin ich hierher gekommen?«
»Jemand hat dich auf meine Türschwelle gelegt. Du warst sehr krank. Ich habe dir Nahrung und ein Bett gegeben. Du bist schon eine ganze Weile hier.«
Das Gespenst betrachtete eindringlich seinen jungen Pfleger. Seit Jahren war ihm niemand so freundlich begegnet. »Danke, Pater.«
Der Priester berührte seine blutige Lippe. »Ich habe dir zu danken, mein Freund.«
Als das Gespenst am nächsten Morgen erwachte, war seine Welt klarer und geordneter geworden. Er schaute hinauf zum Kruzifix an der Wand über seinem Bett. Es besaß etwas Tröstliches, auch wenn Jesus jetzt nicht mehr zu ihm sprach. Er setzte sich auf. Erstaunt bemerkte er einen Zeitungsausschnitt auf dem Tischchen neben seinem Bert. Der Artikel stammte aus einer französischen Zeitung und war eine Woche alt. Als er ihn gelesen hatte, bekam er es mit der Angst zu tun. Der Artikel handelte von einem Erdbeben im Gebirge, bei dem ein Gefängnis zerstört worden war. Viele gefährliche Gewaltverbrecher waren ausgebrochen.
Sein Herz raste. Der Priester weiß, wer du bist …
Er empfand etwas, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte: Schuldbewusstsein und Scham. Das Gefühl wurde begleitet von der Angst, wieder eingefangen zu werden. Er sprang aus dem Bett. Wohin fliehen?
»Die Apostelgeschichte des Lukas«, sagte eine Stimme an der Tut.
Angstvoll fuhr das Gespenst herum.
Der junge Priester trat in die Kammer. Er lächelte. Seine Nase war umständlich verbunden. Er hielt dem Gespenst eine alte Bibel hin. »Ich habe eine französische Bibel für dich aufgetrieben. Das Kapitel habe ich dir angestrichen.«
Unsicher nahm das Gespenst das Buch entgegen und schlug das angestrichene Kapitel auf.
Apostelgeschichte, Kapitel 16.
Die Verse handelten von einem Gefangenen namens Silas. Er liegt nackt und schwer misshandelt im Gefängnis und singt trotzdem das Lob Gottes. Als das Gespenst den Vers las, hielt es erschrocken inne.
Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen …
Er blickte zu dem Priester auf.
Dieser lächelte ihn voller Wärme an. »Mein Freund, da du keinen anderen Namen hast, werde ich dich von nun an Silas nennen.«
Das Gespenst nickte. Es war wieder eine Person aus Fleisch und Blut.
Ich heiße Silas.
»Zeit fürs Frühstück«, sagte der Priester. »Du musst gut bei Kräften sein, wenn du mir helfen willst, meine Kirche zu bauen.«
Sechstausend Meter über dem Mittelmeer wurde Alitalia Flug 1618 von Turbulenzen durchgeschüttelt. Die Passagiere drückten sich nervös in die Sitze. Bischof Aringarosa nahm kaum Notiz davon. Seine Gedanken kreisten um die Zukunft von Opus Dei. Er hätte gern gewusst, wie die Sache in Paris vorankam und wünschte sich, Silas anrufen zu können. Aber das war ausgeschlossen. Die Anweisungen des Lehrers waren eindeutig.
»Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit«, hatte der Lehrer auf Englisch mit französischem Akzent erläutert. »Ich kenne mich mit den elektronischen Kommunikationsmedien gut genug aus, um zu wissen, wie leicht man abgehört werden kann, und das könnte für Sie zur Katastrophe werden.«
Aringarosa wusste, dass der Lehrer Recht hatte. Er schien ein ungewöhnlich umsichtiger Mensch zu sein. Ohne Aringarosa die eigene Identität preiszugeben, hatte er sich als ein Mann erwiesen, auf dessen Wort man etwas geben konnte. Hatte er sich nicht geheimste Informationen zu verschaffen gewusst? Die Namen der vier führenden Köpfe der Bruderschaft! Es war eine jener Bravourleistungen gewesen, die den Bischof davon überzeugt hatten, dass der Lehrer tatsächlich dazu fähig war, ihm die phantastische Trophäe zu präsentieren, die auszugraben er sich anheischig machte.
»Exzellenz«, hatte der Lehrer zu ihm gesagt, »ich habe sämtliche nötigen Vorkehrungen getroffen. Wenn mein Plan gelingen soll, müssen Sie dafür sorgen, dass Silas ein paar Tage lang ausschließlich mit mir in Verbindung tritt. Während dieser Zeit darf zwischen Ihnen und ihm keinerlei Verständigung stattfinden. Ich werde mich mit Silas über abhörsichere Kanäle in Verbindung setzen.«
»Werden Sie ihn mit Respekt behandeln?«
»Als Mann des rechten Glaubens verdient er mehr als das.«
»Ausgezeichnet. Ich versichere Ihnen, dass es zwischen Silas und mir keine Verbindung mehr geben wird, bis die ganze Sache vorbei ist.«
»Exzellenz, ich tue dies zum Schutz Ihrer Identität, zum Schutz von Silas' Identität und zum Schutz meiner Investitionen.«
»Ihrer Investitionen?«
»Wenn ein gewisser Übereifer, stets auf der Höhe der Ereignisse zu sein, Exzellenz ins Gefängnis bringen sollte, werden Sie nicht in der Lage sein, mir mein Honorar zu bezahlen.«
Der Bischof lächelte. »Trefflich bemerkt. Wir sitzen im gleichen Boot. Gott schütze Sie.«
Zwanzig Millionen Euro, dachte der Bischof, der nun wieder aus dem Fenster blickte. Diese Summe entsprach ungefähr dem gleichen Betrag in US-Dollar. Eine Kleinigkeit für etwas, das so viel Macht verkörpert.
Sein Vertrauen, dass der Lehrer und Silas erfolgreich sein würden, war aufs Neue bestärkt. Geld und Glauben waren starke Motive.