Die Mona Lisa.
Einen Augenblick lang vergaß Sophie, dass sie soeben noch über die Nottreppen aus dem Louvre hatte fliehen wollen.
Ihr Schock wurde nur noch von ihrer Verlegenheit übertroffen, weil sie nicht von allein auf die Lösung gekommen war. Ihre berufsbedingte Fixierung auf komplizierte Zusammenhänge hatte sie ein schlichtes Wortspiel übersehen lassen, doch es hätte ihr nicht entgehen dürfen. Schließlich war sie mit Anagrammen bestens vertraut, vor allem mit solchen in englischer Sprache.
Als Sophie ein Kind gewesen war, hatte ihr Großvater gern Anagramme als Übungsfeld für die englische Rechtschreibung benutzt. Einmal hatte er das englische Wort »planets« für Planeten aufgeschrieben und Sophie mit der Behauptung neugierig gemacht, dass man aus den paar Buchstaben dieses Wortes zweiundneunzig andere englische Wörter verschiedener Länge zusammensetzen könne. Sophie hatte sich drei Tage lang mit einem englischen Wörterbuch hingesetzt und sämtliche zweiundneunzig Wörter ausgeknobelt.
»Ich kann nicht begreifen, wie Ihr Großvater in den wenigen Minuten vor seinem Tod noch in der Lage gewesen ist, sich ein so raffiniertes Anagramm auszudenken«, sagte Langdon mit einem Blick auf den Computerausdruck.
Sophie wusste es sehr wohl, und der Gedanke war ihr erst recht peinlich. Dass du das nicht gesehen hast! Sie erinnerte sich daran, dass ihr Großvater, der Kunstkenner und Liebhaber von Wortspielen, sich als junger Mann zum Spaß Anagramme auf die Titel berühmter Kunstwerke ausgedacht hatte. Eines seiner Anagramme hatte ihn sogar in gewisse Schwierigkeiten gebracht. Beim Interview mit einer amerikanischen Kunstzeitschrift hatte er sein Missfallen an der modernen Kunstrichtung des Kubismus zum Ausdruck gebracht, indem er bemerkte, der Titel von Picassos Meisterwerk Les Demoiselles d'Avignon (Die Mädchen von Avignon) sei ein perfektes Anagramm von vile meaningless doodles (eitles nichtiges Gekritzel).
Die Picasso-Liebhaber waren alles andere als begeistert.
»Mein Großvater hat sich das Mona-Lisa-Anagramm vermutlich schon vor langer Zeit überlegt«, meinte Sophie mit einem Seitenblick auf Langdon. Und heute Nacht war er gezwungen gewesen, es als improvisierten Code einzusetzen. Die Stimme ihres Großvaters hatte mit einer Klarheit aus dem Jenseits zu ihr herübergerufen, die sie betroffen machte.
Leonardo da Vinci!
Die Mona Lisa!
Sophie hatte keine Ahnung, weshalb seine letzten Worte ein Verweis auf das berühmte Gemälde waren, aber sie konnte sich nur einen Grund vorstellen. Einen beunruhigenden Grund.
Es waren gar nicht seine letzten Worte.
Wollte er sie zum berühmtesten Gemälde der Welt schicken, der Mona Lisa? Hatte ihr Großvater dort eine Nachricht für sie hinterlassen? Es schien durchaus plausibel. Das Gemälde hing in der Salle des États, einem abgeschlossenen Ausstellungsraum, der nur von der Grande Galerie aus zugänglich war. Sophie fiel ein, dass man die Leiche ihres Großvaters nur zwanzig Meter vom Saaleingang entfernt aufgefunden hatte.
Vor seinem Tod hätte er ohne weiteres noch zur Mona Lisa gehen können.
Innerlich hin und her gerissen schaute Sophie das Nottreppenhaus hinauf. Sie wusste, dass sie Langdon unverzüglich aus dem Museum schaffen musste, doch eine innere Stimme forderte genau das Gegenteil. Wenn ihr Großvater ihr ein Geheimnis mitzuteilen hatte, konnte es kaum einen geeigneteren Ort dafür gehen als Leonardo da Vincis Mona Lisa.
Ihr erster Besuch beim berühmtesten Gemälde der Welt kam Sophie in den Sinn. Sie war damals noch ein Kind gewesen …
»Nur noch ein kleines Stück«, hatte ihr Großvater geflüstert, als er Sophie an ihrer winzigen Hand nach Besuchsschluss durch das verlassene Museum geführt hatte.
Sie war damals sechs Jahre alt gewesen. Der Blick hinauf zur gewaltigen Decke und hinunter auf das verwirrende Muster des Fußbodens verlieh ihr das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein. Das verlassene Museum machte ihr Angst, doch ihr Großvater sollte nichts davon merken. Sophie setzte ein entschlossenes Gesicht auf und ließ seine Hand los.
»Gleich da vorn ist der Salle des États«, hatte Großvater ihr gesagt. Die Vorfreude war ihm anzusehen, doch Sophie wollte lieber nach Hause. Sie kannte die Mona Lisa aus Büchern und konnte gar nicht verstehen, warum die Erwachsenen einen solchen Wirbel um das Gemälde machten. Ihr gefiel es nicht einmal.
»C'est ennuyeux«, murrte sie.
»Wenn es dich langweilt, musst du sagen: ›It's boring‹«, antwortete der Großvater. »Französisch in der Schule und Englisch zu Hause.«
»Der Louvre ist aber nicht zu Hause«, hatte sie widersprochen.
Der Großvater hatte ein wenig müde, aber geduldig gelächelt. »Da hast du Recht. Dann lass uns nur zum Spaß Englisch sprechen.«
Sophie hatte eine Schnute gezogen, war aber brav weitermarschiert. Als sie den Salle des États betraten, huschte ihr suchender Blick durch den Raum und blieb an der Stelle ruhen, wo unverkennbar der Ehrenplatz war – die Mitte der rechten Wand, an der hinter einer Schutzscheibe aus Plexiglas ein einsames Porträt hing. Der Großvater blieb an der Schwelle stehen und deutete auf das Gemälde.
»Geh zu ihr, Sophie«, sagte er. »Nicht viele Leute haben die Ehre einer Privataudienz.«
Sophie schluckte ihren Widerwillen hinunter und näherte sich tapfer dem Gemälde. Nach allem, was sie von der Mona Lisa gehört hatte, kam es ihr vor, als müsste sie einer Königin Guten Tag sagen. Vor der schützenden Plexiglasscheibe angekommen, hob sie erwartungsvoll den Blick und nahm alles in sich auf.
Sie wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht, dass jegliches Gefühl ausblieb. Kein plötzliches Erstaunen, keine Verwunderung, keine tiefe Ehrfurcht. Das berühmte Gesicht sah aus wie in den Bildbänden. Eine Zeit lang, die Sophie wie eine Ewigkeit vorkam, hatte sie schweigend davor gestanden und darauf gewartet, dass etwas passierte.
»Was hältst du von ihr?«, hatte Großvater gefragt, der inzwischen hinter sie getreten war. »Ist sie nicht schön?«
»Sie ist zu klein.«
Saunière hatte gelächelt. »Auch du bist klein und trotzdem schön.«
Ich bin nicht schön! Sophie hasste ihre roten Haare und ihre Sommersprossen. Außerdem war sie größer als die meisten Jungen in ihrer Klasse. Sie betrachtete wieder die Mona Lisa. »Sie sieht noch schlechter aus als in den Büchern. Ihr Gesicht ist irgendwie nebelig … «
»Auf Englisch heißt das ›foggy‹«, half ihr der Großvater.
»›Foggy‹«, wiederholte sie, denn das Gespräch würde nicht weitergehen, bevor sie das neue Wort wiederholt hatte, um es sich einzuprägen.
»Man nennt diese Art zu malen sfumato«, erklärte er. »Das bedeutet ›foggy‹ auf Italienisch. Es ist sehr schwer, dieses weiche Halblicht zu malen. Leonardo da Vinci hat diese Technik besser beherrscht als jeder andere.«
Das Gemälde hatte Sophie dennoch nicht gefallen. »Sie sieht aus, als würde sie etwas wissen … wie wenn Kinder an der Schule ein Geheimnis haben.«
Der Großvater lachte. »Das ist einer der Gründe, weshalb sie so berühmt ist. Die Leute wüssten nur zu gern, worüber sie lächelt.«
»Weißt du, worüber sie lächelt?«
Der Großvater hatte ihr zugezwinkert. »Vielleicht. Eines Tages werde ich dir alles erzählen.«
Sophie hatte mit dem Fuß aufgestampft. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich Geheimnisse nicht mag!«
»Prinzessin, das Leben ist voll von Geheimnissen«, hatte der Großvater erwidert. »Du kannst nicht alle auf einmal erfahren.«
»Ich gehe wieder hinauf«, erklärte Sophie. Ihre Stimme hallte durchs Treppenhaus.
»Zur Mona Lisa?« Langdon machte ein erschrockenes Gesicht. »Jetzt?«
Sophie wog das Risiko ab. »Ich stehe ja nicht unter Mordverdacht. Ich lasse es darauf ankommen. Ich muss herausfinden, was Großvater mir mitzuteilen versucht hat.«
»Und was ist mit der amerikanischen Botschaft?«
Sophie bekam ein schlechtes Gewissen, Langdon jetzt im Stich lassen zu müssen, nachdem sie ihm zur Flucht vor dem Gesetz verholfen hatte, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Sie deutete die Treppe hinunter auf eine Stahltür. »Gehen Sie durch diese Tür, und folgen Sie den beleuchteten Zeichen zum Ausgang. Mein Großvater hat mit mir immer diesen Weg nach draußen genommen. Die Zeichen führen zu einem Drehgitter. Es öffnet sich nach draußen.« Sie hielt Langdon ihren Autoschlüssel hin. »Mir gehört der rote Smart auf dem Angestelltenparkplatz. Er steht direkt vor der Schranke. Können Sie den Weg zur amerikanischen Botschaft alleine finden?«
Langdon schaute auf den Schlüssel in ihrer Hand und nickte.
»Hören Sie«, sagte Sophie. Ihre Stimme war weicher geworden. »Ich glaube, mein Großvater hat mir bei der Mona Lisa eine Nachricht hinterlassen – vielleicht einen Hinweis auf seinen Mörder oder weshalb ich in Gefahr schwebe.« Oder was mit meinen Angehörigen passiert ist. »Ich muss unbedingt hin und nachsehen.«
»Aber wenn er Ihnen mitteilen wollte, weshalb Sie in Gefahr sind, warum hat er es nicht einfach vor seinem Tod auf den Boden geschrieben? Wozu diese umständlichen Wortspielereien?«
»Ich glaube, Großvater wollte nicht, dass jemand anders als ich erfährt, was er mir mitzuteilen hatte – nicht einmal die Polizei.«
Saunière hatte eindeutig alles getan, was in seiner Macht stand, um seiner Enkelin eine vertrauliche Mitteilung zukommen zu lassen. Er hatte einen Code benutzt, ihre geheimen Initialen verwendet und sie angewiesen, Robert Langdon zu suchen – eine kluge Anweisung, denn der amerikanische Symbolspezialist hatte den Code entziffert.
»Es mag seltsam klingen«, sagte Sophie, »aber ich habe das Gefühl, mein Großvater möchte, dass ich zur Mona Lisa gehe, bevor jemand anders dort auftaucht.«
»Ich komme mit.«
»Nein, auf keinen Fall! Wir wissen nicht, wie lange in der Grande Galerie die Luft noch rein ist. Sie müssen hier raus.«
Langdon schien zu überlegen, ob die Befriedigung seiner akademischen Neugier das Risiko wert war, Fache erneut in die Hände zu fallen, oder ob er nicht besser seinem gesunden Menschenverstand folgen sollte.
»Gehen Sie jetzt.« Sophie lächelte ihn dankbar an. »Ich sehe Sie dann in der Botschaft, Mr Langdon.«
Langdon blickte sie widerstrebend an. »Also gut, wir treffen uns dort, aber unter einer Bedingung«, sagte er mit fester Stimme.
Sophie sah ihn erstaunt an. »Und die wäre?«
»Dass Sie mich nicht mehr Mr Langdon nennen.«
Sophie sah den Anflug eines schelmischen Lächelns auf seinem Gesicht, und auch ihre Züge hellten sich ein wenig auf. »Viel Glück, Robert.«
Am Fuß der Treppe stieg Langdon der unverkennbare Geruch von Leinöl und Gipsstaub in die Nase. Ein Leuchtpfeil mit der Aufschrift Sortie/Exit wies in einen langen Korridor.
Langdon machte sich auf den Weg.
Rechter Hand tat sich eine düstere Restaurationswerkstatt auf, aus der ihm eine Heerschar von Skulpturen in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls entgegen starrte. Zur Linken befand sich eine Flucht von Ateliers, die den Unterrichtsräumen für die Kunststudenten von Harvard ähnelten; darin waren Staffeleien, Gemälde, Paletten, Werkzeug zum Rahmen der Bilder zu sehen – eine Art Fließband zur Herstellung von Kunst.
Beim Weitergehen fragte er sich, ob er nicht im nächsten Augenblick in seinem Bett in Cambridge aus dem Schlaf auffahren würde. Der ganze Abend erschien ihm wie ein wirrer Traum. Du bist im Begriff, aus dem Louvre zu verschwinden … du bist auf der Flucht.
Saunières raffinierte anagrammatische Botschaft beschäftigte ihn immer noch. Er hätte gern gewusst, was Sophie bei der Mona Lisa finden würde … falls sie etwas fand. Sie war nicht davon abzubringen gewesen, dass ihr Großvater sie zu einem letztmaligen Besuch des berühmten Gemäldes aufgefordert hatte. Vieles schien für die Richtigkeit ihrer Interpretation zu sprechen, doch Langdon grübelte über einen beunruhigenden Widerspruch nach.
P.S. Robert Langdon suchen.
Saunière hatte Sophie aufgefordert, Robert Langdon zu suchen, dessen Namen er auf den Boden geschrieben hatte. Aber warum? Nur, damit Langdon seiner Enkelin helfen konnte, das Anagramm aufzulösen?
War das nicht ein bisschen dürftig?
Außerdem hatte Saunière keinen Grund zu der Annahme, dass Langdon ein Spezialist für Anagramme sein konnte. Wir sind einander nie begegnet. Wichtiger noch, Sophie war es nachgerade peinlich gewesen, dass nicht ihr die Lösung des Anagramms gelungen war. Sie hatte auf Anhieb die Fibonacci-Folge erkannt und hatte das Anagramm über kurz oder lang auch ohne Langdons Hilfe geknackt.
Sophie sollte das Anagramm selbst entschlüsseln, Langdon war sich da ziemlich sicher – aber damit tat sich in Saunières Logik plötzlich eine erklärungsbedürftige Lücke auf.
Was hat er von dir gewollt?, fragte Langdon sich auf seinem Weg den Gang hinunter. Warum ist es Saunières letzter Wunsch gewesen, dass seine Enkelin, die ihn ablehnt, mich sucht? Was glaubt Saunière, das du weißt?
Langdon blieb abrupt stehen. Mit aufgerissenen Augen stieß er die Hand in die Tasche und riss den Computerausdruck heraus.
P S. Robert Langdon suchen.
Sein Blick ruhte auf zwei Buchstaben.
P.S.
Mit einem Mal sah Langdon die Lösung. Alles, was Jacques Saunière heute Nacht getan hatte, ergab plötzlich Sinn.
Er fuhr herum und starrte in die Richtung, aus der er gekommen war.
War es schon zu spät?
Darauf kam es jetzt nicht mehr an.
Er rannte zum Treppenhaus zurück.