79. KAPITEL

Leutnant Collet bediente sich aus dem Kühlschrank in Teabings Küche mit einem Perrier und ging gemächlich in den Salon zurück. Statt Fache nach London zu begleiten, wo die Musik spielte, saß er hier im Château Villette fest und spielte den Babysitter für die Leute von der Spurensicherung, die inzwischen im ganzen Schloss ausgeschwärmt waren.

Bislang hatte das Team wenig verwertbares Material zu Tage gefördert: Ein Projektil im Boden, ein Zettel mit den Wörtern »Winkel« und »Kelch«, sowie einen blutverschmierten Riemen mit Stacheln, der, wie Collet von einem der Beamten erfahren hatte, irgendetwas mit der ultrakonservativen katholischen Organisation Opus Dei zu tun hatte, die kürzlich nach einem Fernsehbericht über ihre aggressive Mitgliederwerbung in Paris ins Kreuzfeuer der Medien geraten war.

Collet seufzte. Wenn wir mit diesem Sammelsurium etwas anfangen können, haben wir mehr Glück als Verstand.

Er schlenderte den prunkvollen Flur hinunter und betrat den riesigen Ballsaal, der dem Hausherrn als Arbeitsraum diente. Der Chef des Spurensicherungsteams, ein korpulenter Mann mit Hosenträgern, war eifrig damit beschäftigt, Fingerabdrücke zu sichern.

»Schon was gefunden?«, erkundigte sich Collet, als er das Zimmer betrat.

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Immer wieder die gleichen Abdrücke, die wir schon überall im Haus gefunden haben.«

»Was ist mit den Abdrücken auf dem Bußgürtel?«

»Interpol ist noch dran. Ich hab denen alles gemailt, was wir gefunden haben.«

Collet zeigte auf zwei Plastiktüten für Beweismittel, die auf dem Tisch lagen. »Und was ist damit?«

Der Mann zuckte die Schultern. »Die Macht der Gewohnheit. Alles, was mir merkwürdig vorkommt, wird eingesackt.«

Collet ging zum Tisch. Merkwürdig?

»Dieser Teabing ist ein komischer Kauz«, sagte der Beamte. »Sehen Sie sich das mal an.« Er suchte in einer der Tüten, nahm ein Foto heraus und reichte es Collet.

Es war das Bild des Mittelportals einer gotischen Kathedrale – der übliche, tief in den Baukörper eingezogene gotische Kircheneingang, dessen Maueröffnung sich unter den gestaffelten Wülsten spitzbogiger Archivolten bis zum eigentlichen, relativ kleinen Portal verengte.

Collet betrachtete das Bild. »Was soll daran merkwürdig sein?«

»Drehen Sie's mal um.«

Die Rückseite war mit winzigen Notizen in englischer Sprache voll gekritzelt, in denen die weite Höhlung des Kirchenschiffs mit dem weiblichen Uterus verglichen wurde. Das war schon merkwürdig genug, aber der Gipfel war die Notiz zur Gestaltung gotischer Kathedraleneingänge. »Moment mal … «, sagte Collet, »der Mann ist tatsächlich der Ansicht, der Eingang einer Kathedrale sei ein Abbild der weiblichen … «

Der Ermittler nickte. »Genau. Samt Schamlippen und einer kleinen Lilie als Klitoris oben im Spitzbogen über der Tür.« Der Beamte seufzte. »Da möchte man doch glatt wieder mal in die Kirche gehen.«

Collet nahm den zweiten Beutel zur Hand. Durch die Plastikfolie konnte er ein großes Hochglanzfoto erkennen, auf dem ein offenbar sehr altes Dokument abfotografiert war. Am oberen Rand stand eine Überschrift:

Les Dossiers Secrets-numéro 4° lm1 249

»Was ist denn das?«, fragte Collet.

»Keine Ahnung, aber weil überall Abzüge davon herumliegen, kam es in den Beutel.«

Collet studierte das Dokument.


PRIEURÉ DE SION -

LES NAUTIONIERS/GROSSMEISTER

Jean de Gisors 1188-1220

Marie de Saint-Clair 1220-1266

Guillaume de Gisors 1266-1307

Edouard de Bar 1307-1336

Jeanne de Bar 1336-1351

Jean de Saint-Clair 1351-1366

Blanche d'Evreux 1366-1398

Nicolas Flamel 1398-1418

René d'Anjou 1418-1480

Iolande de Bar 1480-1483

Sandro Botticelli 1483-1510

Leonardo da Vinci 1510-1519

Connetable de Bourbon 1519-1527

Ferdinand de Gonzaque 1527-1575

Louis de Nevers 1575-1595

Robert Fludd 1595-1637

J.Valentin Andrea 1637-1654

Robert Boyle 1654-1691

Isaac Newton 1691-1727

Charles Radcliffe 1727-1746

Charles de Lorraine 1746-1780

Maximilian de Lorraine 1780-1801

Charles Nodier 1801-1844

Victor Hugo 1844-1885

Claude Debussy 1885-1918

Jean Cocteau 1918-1963


Prieuré de Sion? Collet war ratlos.

»Leutnant?« Ein Beamter steckte den Kopf zur Tür herein. »Die Vermittlung hat einen dringenden Anruf für Capitaine Fache, aber man kann ihn nicht erreichen. Wollen Sie das Gespräch annehmen?«

Collet ging zum Telefon in der Küche und nahm ab.

Es war Vernet. Trotz der gezierten Sprechweise des Bankiers war seine Anspannung unüberhörbar. »Es war vereinbart, dass Capitaine Fache mich zurückruft, aber ich habe bislang nichts von ihm gehört.«

»Der Capitaine ist sehr beschäftigt«, sagte Collet. »Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen.«

»Man hat mir versichert, dass ich über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten werde«, beschwerte sich der Anrufer. Seine Stimme kam Collet irgendwie bekannt vor, doch er konnte sie nirgends einordnen.

»Monsieur Vernet, ich bin derzeit mit den Ermittlungen in Paris betraut. Ich bin Leutnant Collet.«

Eine lange Pause entstand. »Äh … entschuldigen Sie, Leutnant, ich habe einen anderen Anrufer in der Leitung. Ich melde mich gleich zurück.« Vernet hängte ein.

Collet hielt unschlüssig den Hörer in der Hand. Dann dämmerte es ihm. Der Fahrer des Geldtransporters mit der falschen Rolex!

Deshalb hatte der Bankier so schnell aufgelegt! Er hatte sich beim Namen Collet an den Beamten erinnert, den er in dieser Nacht so unverschämt an der Nase herumgeführt hatte.

Collet dachte nach. Was hatte diese unerwartete Wendung zu bedeuten? Vernet steckt in der Sache mit drin! Collet wusste, dass er Fache benachrichtigen sollte, doch sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Glückstreffer seine Sternstunde werden konnte.

Er rief unverzüglich Interpol an, um sich alles verfügbare Material über die Zürcher Depositenbank und ihren Pariser Direktor André Vernet geben zu lassen.

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