Farodin hatte sich in den Schatten des Waldrands zurückgezogen. Nicht mehr lange, und die letzte Wache wäre vorüber. Sie hatten beschlossen, noch vor dem Morgengrauen das Lager abzubrechen und nach der Fährte des Devanthars zu suchen. Sie würden zusammenbleiben. Es durfte nicht noch einmal geschehen, dass diese Kreatur mit ihnen spielte, sie als Köder benutzte.
Das Feuer war zu einem Haufen dunkler Glut herabgebrannt. Der Elf vermied es, direkt in das Licht zu blicken, um sich seine Nachtsicht nicht zu verderben. Leises Schnarchen erklang. Mandred war tatsächlich eingeschlafen. Seit er gestern von der hohen Klippe aus gesehen hatte, dass sein Dorf nicht verwüstet war, hatte sich der Menschensohn verändert. Trotz aller Schrecken blieb er ruhig. Offenbar war er noch immer davon überzeugt, dass die Elfenjagd das Ungeheuer töten würde. Selbst nachdem ihnen Vanna offenbart hatte, gegen wen sie ausgezogen waren. Das naive Vertrauen des Menschen in die Elfenjagd hatte etwas Rührendes.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Farodin eine Bewegung. Keine zwanzig Schritt entfernt war ein Schatten unter den Bäumen. Farodin nahm den Bogen von seinem Schoß, ließ die Waffe aber sogleich wieder sinken. Die Stämme und das dichte Unterholz machten es unmöglich, einen gezielten Schuss abzugeben. Die Kreatur wollte ihn reizen, aber er würde sich nicht darauf einlassen.
Der Elf nahm ein paar Pfeile aus dem Köcher und stieß sie vor sich in den Schnee. So könnte er bei Bedarf schneller schießen. Sollte der Devanthar versuchen, vom Waldrand aus das Lager anzugreifen, hätte er mindestens drei Schuss auf ihn. Unverwundbar war dieser Dämon gewiss nicht! Es war an der Zeit, dass er für das bezahlte, was er angerichtet hatte.
Farodin blinzelte. War die Kreatur wirklich dort drüben? Oder hatte ihm die Dunkelheit einen Streich gespielt? Wenn man zu lange in einen finsteren Wald starrte, dann konnte man dort alles sehen.
Nimm dich zusammen, schalt sich der Elfenkrieger stumm. Eine leichte Brise strich über das verschneite Land. Tief im Wald zerbarst ein Ast unter der Last des Schnees. Einer der beiden Wölfe hob den Kopf und blickte zum Waldrand, dorthin, wo Farodin den Schatten gesehen hatte. Er stieß einen wimmernden Laut aus und drückte dann den Kopf flach auf den Schnee.
Ein stechender Gestank lag einen Atemzug lang in der Luft. Dann war da nur noch der Geruch der Kälte.
_Ich erwarte euch in den Bergen, Farodin mit den blutigen Händen_.
Der Elf schreckte auf. Die Worte … Sie waren in ihm gewesen.
»Zeig dich!« Seine Stimme war nur ein Flüstern. Noch wollte er die anderen nicht aufschrecken.
_Und wieder treffe ich auf einen allein_, höhnte die Stimme in seinem Kopf. _Du bist sehr von dir eingenommen, Farodin. Wäre es nicht klüger, deine Gefährten zu wecken?_
»Warum sollte ich tun, was du erwartest? Berechenbarkeit ist der treueste Gefährte der Niederlage. Warum sollten wir uns dir an einem Ort stellen, den du wählst?«
_Es ist wichtig, die Dinge am richtigen Ort und zur richtigen Zeit zu tun. Du planst doch auch sehr sorgfältig Ort und Zeit, wenn du in Diensten der Königin reist_.
»Deshalb weiß ich, warum ich nicht auf dich hören werde«, entgegnete der Elf.
_Ich kann jeden von euch allein durch einen Gedanken töten. Ihr seid kaum mehr als ein schwacher Abglanz der Alben. Ich hatte mehr erhofft, als ich den Menschensohn in die Albenmark schickte_.
Farodin blickte zum Lagerplatz. Noch immer war Mandreds leises Schnarchen zu hören. Sollte er den Worten eines Devanthars trauen? Hatte die Königin mit ihrem Verdacht Recht gehabt?
_Glaubst du, der Menschensohn hätte aus eigener Kraft das Tor durchschreiten können?_
»Warum hättest du deinen Boten um ein Haar töten sollen?«
_Damit er überzeugend wirkt. Er wusste nicht, in wessen Dienst er stand. So konnte eure Königin keine Lüge in seinen Worten entdecken_.
»Wenn du unseren Tod willst, dann lass es uns gleich hier am Lagerplatz austragen. Ich wecke die anderen!«
_Nein! Frag Mandred nach der Höhle des Luth. Dort erwarte ich euch am Mittag in drei Tagen_.
Farodin überlegte, ob er ihn wohl noch etwas hinhalten und dann die anderen wecken konnte. Vielleicht hatten die Wölfe den Devanthar verletzt. Warum zeigte er sich nicht, wenn er sich unbesiegbar fühlte? Hier und jetzt sollten sie ihn töten! Er würde sich auf keinen Handel einlassen!
_Allein ein Gedanke von mir hat die Kraft zu töten, Farodin. Fordere es nicht heraus!_
»Warum leben wir dann noch?«, fragte der Elf selbstsicher.
_In diesem Augenblick hat Brandans Herz aufgehört zu schlagen, Farodin mit den blutigen Händen. Dein Zweifel hat ihn getötet. Seid ihr in drei Tagen nicht in den Bergen, dann werdet ihr alle diesen Tod sterben. Ich hatte dich für einen Krieger gehalten. Überleg dir gut, ob du mit dem Schwert in der Hand unter den Augen deines Feindes sterben willst oder so wie Brandan im Schlaf. Du glaubst, du wärst besonders gewandt. Vielleicht wirst du mich ja töten? Ich erwarte euch_.
Kaum drei Schritt entfernt trat eine massige Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Farodins Hand fuhr zum Schwert. Wie hatte sich der Devanthar so nah heranschleichen können, ohne dass er ihn bemerkt hatte? Da war kein Geräusch gewesen, kein Schatten zwischen den Bäumen. Selbst der faulige Geruch, der von dem Dämon ausging, war nicht stärker geworden.
Der Manneber nickte mit dem Kopf, als grüßte er ihn spöttisch. Dann verschwamm er wieder mit den Schatten.
Farodin stürmte vor. Laut knirschte der verharschte Schnee unter seinen Stiefeln. Keine zwei Herzschläge, und er war dort, wo der Dämon eben noch gestanden hatte. Doch der Devanthar war längst verschwunden. Es gab keine Spuren im Schnee. Nichts wies darauf hin, dass die Bestie eben noch hier gestanden hatte. War die schattenhafte Gestalt nur ein Trugbild gewesen? Hatte der Dämon ihn fortlocken wollen? Farodin blickte zum Lager. Seine Gefährten lagen noch immer eng in Decken gerollt am Feuer. Alles war ruhig.
In den alten Geschichten hieß es, dass ein Devanthar schon mit einem Wort zweimal zu lügen vermochte. Farodin wünschte, er wäre in der Lage zu durchschauen, was hinter der Aufforderung steckte, in die Höhle zu kommen.
Es war kälter geworden. Er schlug sich die Hände auf die Oberschenkel, um die Taubheit aus seinen Fingern zu vertreiben. Dann ging er zurück zu dem Baum, an dem sein Bogen lehnte.
Er zog die Pfeile aus dem Schnee und prüfte sie sorgfältig. Für den Manneber hatte er Kriegspfeile ausgewählt. Sie hatten ein flaches Blatt mit nach innen gekrümmten Widerhaken. Die Spitzen waren nur locker auf die Pfeilschäfte gesteckt. Versuchte man ein solches Geschoss aus einer Wunde zu ziehen, dann löste sich der Schaft, und die Spitze blieb mit ihren Widerhaken tief im Fleisch stecken. Farodin wünschte sich, er hätte wenigstens einen dieser Pfeile auf den Manneber abschießen können.
Wieder blickte er zum Lagerplatz. Er musste Gewissheit haben! »Sie vermögen mit nur einem Wort schon zweimal zu lügen«, flüsterte er leise. Wenn er jetzt zum Lager zurückging, dann tat er genau, was der Dämon von ihm erwartete. So war es, seit sie das Tor Aikhjartos durchquert hatten.
Farodin nahm Bogen und Köcher und trat zur Feuerstelle. Feine Eiskristalle tanzten in der Luft. Nie zuvor hatte er einen so eisigen Winter erlebt. Wie gelang es den Menschen nur in diesem unwirtlichen Landstrich zu siedeln? Er legte die Waffen auf seine Decke. Dann kniete er sich neben Brandan nieder. Der Fährtensucher hatte sich auf die Seite gedreht. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Wovon er wohl träumte?
Er würde Brandan nicht in seinen Träumen stören! Schon wollte er sich abwenden, als er ein winziges Eiskristall in Brandans Mundwinkel bemerkte. Erschrocken beugte sich Farodin vor und rüttelte an der Schulter des Jägers.
Brandan rührte sich nicht. Sein Lächeln im Schlaf war ihm zur Totenmaske geworden.