Die Stadt Firnstayn

Nuramon blickte über den Fjord. Es war Winter, wie damals, als sie zur Elfenjagd aufgebrochen waren. Hier hatte alles begonnen. Oben am Steinkreis hatte Mandred gegen den Tod gekämpft. Hier hatte der Devanthar sein Spiel in die Wege geleitet.

Er erinnerte sich, wie befremdlich ihm diese Welt erschienen war. Doch nun war ihm der Anblick vertraut. Er wusste, wie weit es von hier bis zu den Bergen war, er konnte die Entfernung richtig einschätzen. Eines war geblieben: Diese Welt war noch immer rau. Die Reise hierher hatte es bewiesen. Es war ein Winter, der selbst für die Menschenwelt besonders streng war und ihn ebenso quälte wie Felbion. Diese Welt war manchmal zu grob für einen Elfen.

Dort unten lag Firnstayn am zugefrorenen Fjord. Das Dorf von einst war zu einer Stadt geworden. Gewiss, die Menschen hatten ein kurzes Leben. Umso wichtiger war es, sich zu vermehren. Aber wie eine Siedlung in so kurzer Zeit wachsen konnte, das verwunderte ihn. Er dachte an die Warnungen der Fauneneiche. Vielleicht war er ein Opfer der Zeit geworden. Er hatte zwar nur wenige Tore durchquert, aber in Iskendria hatte er ein eigenartiges Gefühl gehabt.

Die Stadt mit ihren steinernen Mauern bezeugte, dass mehr als nur ein paar Jahre ins Land gegangen waren, seit er zum letzten Mal am Steinkreis auf der Klippe gestanden hatte.

»Es stimmt also«, sagte jemand neben ihm.

Nuramon zog Gaomees Schwert und fuhr herum. Am Rande des Steinkreises stand Xern. Sein mächtiges Hirschgeweih wirkte wie eine Krone. Beschämt steckte Nuramon die Waffe fort.

»Du bist tatsächlich gekommen.« Seine großen bernsteinfarbenen Augen funkelten.

»Doch nicht, um heimzukehren«, entgegnete Nuramon. »Aber es tut gut, ein bekanntes Gesicht zu sehen.«

»Was führt dich her?«, fragte Xern.

»Meine Suche ist noch nicht vorüber. Ich werde mich dort unten bei den Menschen mit meinen Gefährten treffen.«

»Das ist womöglich ein Fehler, Nuramon. Die Königin hat eure Tat nicht vergessen. Sie spricht zwar nicht mehr darüber. Aber du hättest damals ihren Zorn sehen sollen, als sie erfuhr, dass ihr fort wart! Selten hat sich jemand so sehr gegen ihr Gebot gestellt.«

»Bist du in ihrem Namen hier?«

»Nein, in meinem … und weil Atta Aikhjarto mir sagte, dass du kommen würdest. Du weißt ja: Seine Wurzeln reichen weit. Und ebenso weit reichen die Sinne Emerelles. Sie wird dich sehen, wenn du in der Nähe bleibst. Selbst Firnstayn ist zu nahe am Tor.«

»Daran vermag ich nichts zu ändern. Ich komme mit dem Rat des Orakels Dareen hierher. Und auf ihr Wort vertraue ich.«

»Dareen! Das ist ein Name aus zauberhaften Zeiten. Sie verließ einst Albenmark, weil die Welt der Menschen ein Reich der Veränderung ist.«

»Und sie hatte Recht. Die Stadt dort unten ist der Beweis.«

Xern trat an Nuramons Seite, und gemeinsam blickten sie hinab. »Das ist Alfadas’ Vermächtnis.«

»Er lebt nicht mehr?«, fragte Nuramon mit Bedauern. Er hätte Mandreds Sohn gern wiedergesehen.

»Nein. Er wuchs unter Albenkindern auf, doch sein Leben war das eines Menschen. So starb er, als seine Zeit gekommen war.«

»Wie viel Zeit ist vergangen, seit wir Albenmark verließen?«

Xern strengte sich sichtlich an, den Fluss der Jahre in eine Zahl zu bannen. In Albenmark spielte die Zeit eine viel geringere Rolle als bei den Menschen oder den Zwergen. Es gab kaum Veränderungen in Albenmark, und das Leben währte lange. Was bedeuteten schon zehn oder aber hundert Jahre? In Albenmark war nahezu alles so, wie es sein sollte. Ein Zwerg hingegen hätte ihm gewiss auf der Stelle eine Antwort geben können.

»Es ist etwa zweihundertfünfzig Sommer her, dass ihr verschwunden seid.«

Zweihundertfünfzig Jahre! Früher hätte ihm dem Elfen diese Zahl nichts bedeutet. Und auch wenn sich an seinem Zeitgefühl nichts Wesentliches geändert hatte, verstand er längst, wie viel zweihundertfünfzig Jahre für einen Menschen waren. Also hatte er sich nicht geirrt. Sie mussten wiederum einen Zeitsprung gemacht haben.

Xern sprach weiter. »Und es ist in diesen Jahren viel geschehen.«

Nuramon musste daran denken, dass die Königin alle Tore hatte bewachen lassen. »Nun, Emerelle hat offenbar ihr Verbot aufgehoben.« Es musste so sein, denn Xern hätte die Regeln der Königin gewiss nicht gebrochen, nur um mit ihm zu sprechen.

»Ja, und das kam für uns alle überraschend. Alfadas knüpfte ein Band zwischen den Elfen und den Menschen in diesem Land der Fjorde. Wir haben gemeinsam gegen die Trolle gekämpft.«

»Hat es etwa einen weiteren Trollkrieg gegeben?«

Xern deutete umher. »Hier war eines der Schlachtfelder. Es kam alles so schnell, zu schnell für viele von uns. Die Königin sagte, eine Zeit sei angebrochen, da wir uns an das Neue gewöhnen müssten.«

Nuramon hatte noch viele Fragen, doch eine beschäftigte ihn ganz besonders. Hatte er den Zeitsprung nun mit seinen Gefährten oder ohne sie gemacht? Wenn sie beim Eintreten nach Iskendria ein Opfer der Jahre geworden waren, dann erginge es Mandred und Farodin so wie ihm. Doch wenn er gemeinsam mit Alwerich beim Orakel den Sprung vollzogen hatte, dann mochte Mandred längst tot sein. Und für Alwerich wäre es gewiss eine bittere Heimkehr gewesen. »Hast du etwas von Farodin gehört? Oder von Noroelle?«

»Nein, weder von Farodin noch von deiner Liebsten. In dieser Hinsicht ist alles beim Alten geblieben. Man spricht nur noch wenig von dir und deinen Gefährten. Es gibt jetzt andere Geschichten.« Xerns Blick verlor sich in der Ferne. »Es liegt eine Zeit der Helden hinter uns. Bei den Menschen sind diese längst zur Legende geworden, bei uns leben sie voller Anerkennung oder wurden wiedergeboren. Große Namen! Zelvades, Ollowain, Jidena, Mijuun oder Obilee!«

»Obilee! Hat sie in dem Krieg gekämpft?«

»Ja. Sie macht ihrer Ahnin alle Ehre.«

Nuramon malte sich aus, wie Obilee von allen bewundert wurde und als zaubernde Kriegerin vor die Königin trat. Sie war schon eine junge Frau gewesen, als sie von der Jagd auf den Devanthar zurückgekehrt waren. Inzwischen war sie gewiss die Elfe geworden, die Noroelle immer in ihr gesehen hatte. Er hatte so viel verpasst. Man würde sicher lange über den Trollkrieg sprechen, ebenso wie man von jenem sprach, an dem einst Farodin teilgenommen hatte.

»Du würdest Obilee gern sehen, nicht wahr?«

»Offenbar kann man immer noch leicht in meinem Gesicht lesen«, entgegnete Nuramon lächelnd.

»Obilee soll in Olvedes sein. Ich könnte ihr eine Botschaft zukommen lassen. Sie hat Noroelle nicht vergessen und gewiss auch dich nicht.«

»Nein, es würden nur alte Wunden aufbrechen.« Vielleicht würde sie jetzt gar darauf bestehen, ihn auf seiner Suche zu begleiten. Der Gedanke mochte eigennützig sein, doch Nuramon beruhigte es zu wissen, dass wenigstens die einstige Vertraute Noroelles in Albenmark noch etwas zählte. Seine Liebste wäre gewiss stolz auf ihren Schützling.

Xern legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Ich werde niemandem außer Atta Aikhjarto von dieser Begegnung berichten.«

»Ich danke dir, Xern.«

»Ich wünsche dir, dass du Noroelle findest.« Mit diesen Worten zog sich Xern in den Steinkreis zurück und verschwand im dünnen Nebel.

Nuramon schaute wieder zur Stadt hinab. Er hatte auf dem Weg hierher nach dem Ort Ausschau gehalten, den Dareen ihm gezeigt hatte. Sogar einen Umweg hatte er in Kauf genommen. Nach den Bäumen zu urteilen, die er gesehen hatte, musste das Tor, das sie suchten, im kühlen Norden am Meer liegen oder aber an einem See in einem hohen Gebirge. Das war alles, was er sagen konnte.

Das Orakel hatte Recht. Er würde die Hilfe seiner Gefährten brauchen. Mit Hilfe seines Wissens und Farodins Zauber würden sie gemeinsam den Ort aufspüren können. Vielleicht warteten Mandred und Farodin dort unten in Firnstayn auf ihn. Es mochte sein, dass das Schicksal sie dort wieder zusammenführte.

Nuramon packte Felbion bei den Zügeln und machte sich an den Abstieg. Am Fuße des Hügels stieg er auf das Pferd und ritt der Stadt entgegen. Dabei dachte er an die Elfenjagd. Obwohl sie für sein Zeitempfinden nur wenige Jahre zurücklag, hatte er das Gefühl, sie wäre in einem anderen Leben geschehen. Aigilaos’ Tod, der Kampf mit dem Devanthar und die schreckliche Rückkehr nach Albenmark … Es schien so lange zurückzuliegen, als wäre er schon ewig auf der Suche nach Noroelle.

Als Nuramon vor das Tor der Stadt ritt, hatte ihn die Wache längst gesehen. Doch das Tor stand offen, und Nuramon konnte hindurchgehen, ohne dass ein Wächter nach seiner Herkunft und seinem Begehren fragte. Stattdessen verkündete er auf Fjordländisch, dass ein Elf gekommen sei. Obwohl die Albenkinder – wie Xern gesagt hatte – den Menschen hier nun näher standen, schien es ein besonderes Ereignis zu sein, wenn Elfen nach Firnstayn kamen.

Nuramon saß auf Felbion und ließ das Pferd ruhig zwischen den Häuserreihen hindurchschreiten, begleitet von Kindern, von Blicken aus Fenstern und freundlichen Grußworten. Er wusste nicht, was die Firnstayner in ihm sahen. Wahrscheinlich betrachteten sie ihn als einen Helden der Trollkriege. Das missfiel ihm, denn er hatte nichts getan, um sich diese Ehre zu verdienen. So stieg er von Felbion ab, um nicht auf dem hohen Ross zu sitzen.

Nuramon versuchte, sich zu orientieren, doch nichts war mehr so, wie er es kannte. Schließlich erreichte er einen Platz, über dem ein steinernes Langhaus aufragte. Das mochte der neue Sitz des Jarls sein. Eine breite Treppe, gesäumt von Löwenstatuen, führte dort hinauf. Die Menschen sammelten sich um Nuramon, hielten jedoch respektvollen Abstand. Keiner wagte sich zu nahe an ihn heran. Er dachte an die Abreise bei den Zwergen. Welch ein Wechsel war das in seinem Leben, dass er überall, wo er hinkam, mit Ansehen empfangen oder entlassen wurde!

Zögerlich kam ein Menschenkrieger die Treppe hinab. Er war ein kräftiger Mann, der ein Breitschwert gegürtet hatte. »Bist du gekommen, den König zu sprechen?«, fragte er.

Nuramon zögerte mit der Antwort. Früher hatten sie ihren Anführer _Jarl_ genannt. Ob auch das die Spuren Alfadas’ waren? Was würde wohl Mandred dazu sagen, wenn er erfuhr, dass es in Firnstayn nun einen König gab? »Ich bin auf der Suche nach Mandred Torgridson«, erklärte Nuramon.

Nun folgte ein Geflüster, dann kehrte Totenstille ein. Er hatte einen Namen genannt, den sie gewiss nur aus den Legenden kannten …

Umso mehr verwunderte Nuramon die Antwort des Kriegers, der an ihn herangetreten war. »Mandred war hier. Und bei ihm war ein Elf namens Farodin. Doch sie sind längst wieder fort.«

Plötzlich machten die Leute für einen Menschensohn Platz, der an seiner prächtigen Plattenrüstung als Anführer zu erkennen war. Diese Rüstung war nicht die Arbeit eines Menschen, sondern stammte aus den Schmieden von Albenmark. Vielleicht war sie ein Geschenk Emerelles. Es mochte sein, dass sie einst Alfadas gehört hatte. Nun trug sie ein Mann mit grauem Haar. Er kam mit großen Schritten auf Nuramon zu und baute sich vor ihm auf. Auch er war ein Riese von einem Menschen und trug ein Schwert am Gürtel, eigentlich zu schmal für die Leute in diesen Gefilden. »Ich bin Njauldred Klingenbrecher, König von Fjordland«, sagte er und nickte. Er strahlte eine geradezu bedrohliche Kraft aus, sodass Nuramon keinen Zweifel hatte, dass der Zorn Njauldreds, einmal entfesselt, keine Grenzen kannte.

»Sei mir gegrüßt, Njauldred!«, sagte Nuramon und wunderte sich, dass der König keine Krone trug, wie es sonst bei den Menschen üblich war. Überhaupt kam es ihm merkwürdig vor, dass das Fjordland nun von hier aus regiert wurde. Ob es Alfadas’ Verdienst war, dass Firnstayn zur Königsstadt geworden war?

»Du suchst nach Mandred?«, fragte Njauldred.

»So ist es, und ich hoffe, dass du mir einen Rat gibst, wo ich ihn finden kann«, sagte Nuramon in einem freundlichen Tonfall.

»Das kommt darauf an, wer nach ihm fragt«, sagte der Hüne und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er ist immerhin mein Ahnherr.«

Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Njauldred und Mandred war nicht zu bestreiten. Besonders die Augen des Königs glichen denen Mandreds. Doch dieser Mann war viel älter. Nuramon war zwar noch immer nicht besonders gut im Einschätzen von Menschen, doch er glaubte, dass Njauldred jenseits der fünfzig war, denn sein Haar war ergraut. Die meisten seiner Falten lagen halb hinter dem Bart versteckt. Nur an Augen und Stirn waren sie auf ganzer Länge zu erkennen.

»Mein Name ist Nuramon, und ich …«

Njauldred ließ ihn nicht aussprechen. »Bist du etwa der Kampfgefährte Mandreds? Nennt man dich auch Nuredred den Elfenprinzen?«

Nuramon war überrascht. Offenbar hatten die Menschen die Geschichte um Mandred Torgridson nach ihrem Belieben ausgeschmückt. »Ich bin Mandreds Kampfgefährte. So viel entspricht der Wahrheit. Was aber das andere angeht, so fürchte ich, seht Ihr mehr in mir, als ich bin.«

Njauldred schüttelte den Kopf. »Bescheidenheit ist die Tugend der Helden.«

Nuramon blickte in die Gesichter der Menschen. Sie betrachteten ihn, als wären die Alben selbst zurückgekehrt. Und wie er seinen Blick wandern ließ, fiel ihm etwas auf. Auf der Schulter der linken Löwenstatue am Fuß der Treppe war eine Inschrift.

»Eine wundervolle Arbeit, nicht wahr?«, sagte Njauldred.

»Gewiss«, war alles, was Nuramon darauf sagen konnte. Sein Blick hing an den kunstvoll geschwungenen Elfenrunen. Dort stand: ›Verzeih mir und warte auf uns, wenn du kannst. Farodin.‹

»Alfadas ließ diese Löwen aufstellen, im Angedenken an Mandred, von dem die Könige von Firnstayn abstammen.« Njauldreds Blick verfinsterte sich. »Diese Zeichen hat irgendjemand vor vielen Jahren eingeritzt. Der kam gewiss nicht aus Firnstayn. Niemand hier würde in dieser Weise ein Ehrenmal für Mandred Torgridson entweihen.«

Nuramon strich mit der Handfläche über die Inschrift. »Ich finde sie wunderschön! Sie ist vollkommen ausgeführt und lobt den Helden Mandred. Es sieht so aus, als wäre dies das Werk eines Elfen.«

Njauldred machte ein überraschtes Gesicht. »Wirklich?«

Nuramon bekräftigte seine Worte. Und wie er in das gutmütige Gesicht des Königs blickte, tadelte er sich dafür, dass er einen Herrscher an der Nase herumführte. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln. »König Njauldred, ich habe eine Frage. Hat Mandred gesagt, wohin er will?«

Der Blick des Königs wurde härter. »Sie trafen hier auf eine sterbende Elfe. Sie war lange Jahre Gefangene auf der Nachtzinne, einer Festung der Trolle, die weit im Norden liegen soll. Seit den Tagen von König Alfadas hat sich dort kein Mensch mehr hingewagt. Doch Faredred, der Elfenfreund von Mandred, war wild entschlossen, zur Nachtzinne zu reisen und die übrigen Elfen zu befreien, die dort eingekerkert sind. Mehr als drei Jahre ist es nun schon her, dass sie zu ihrer Reise aufgebrochen sind, und keiner hat je wieder von ihnen gehört.«

Nuramon nickte ernst. Zwei Mann gegen eine Festung voller Trolle, das passte zu den beiden! »Wenn du es gestattest, König, dann werde ich hier in eurer Mitte auf die Rückkehr Mandreds und seines Elfenfreundes warten.«

»Du glaubst, dass die beiden nach so langer Zeit noch zurückkehren werden?«

»Ich glaube nicht, ich bin mir sicher«, antwortete Nuramon mit einer Entschiedenheit, die ihn selbst überraschte. Dies konnte nicht das Ende ihrer gemeinsamen Suche nach Noroelle sein!

Das Gesicht des Königs hellte sich auf. »Es ist noch Hoffnung, dass Mandred zu uns zurückkehren wird«, rief er der Menge zu, die inzwischen auf dem Platz zusammengekommen war. »Und der berühmte Nuredred wird als Gast in Firnstayn verweilen. Welch eine Ehre!«

»Ich bin Nuramon. Nuredred ist das, was ihr aus mir gemacht habt«, sagte der Elf leise.

»Du kennst die Geschichte unseres Ahnen. Du warst dabei. Du warst damals wirklich in der Höhle, nicht wahr? Und du kannst den Skalden die Wahrheit berichten. Damit alles so erzählt wird, wie es sich tatsächlich ereignet hat. Das kannst du doch tun, oder?«

»Das kann ich, und ich werde es gern tun.« Natürlich würde er ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen. Er hatte Mandred versprochen, niemandem zu sagen, dass sie sich bei den Händen gehalten hatten. Die Menschen sahen in Mandred mehr als den Mann, den Nuramon kannte. Sie wären gewiss enttäuscht, wenn sie die Wahrheit erführen. So beschloss er, über sich und Farodin alles so zu berichten, wie es sich zugetragen hatte, doch was Mandred anging, würde er dafür sorgen, dass dessen Name unsterblich würde. Die Menschen von Firnstayn würden Torgrids Sohn noch so manches Denkmal setzen.

»Komm!«, sagte Njauldred und klopfte Nuramon freundschaftlich auf die Schulter. Dann deutete er voran. »Dort hinten, wo einst sein altes Haus war, steht nun eines, das auf immer Mandred gehört. Dort sollst du wohnen. Das wird eine Feier! Dein Gefährte, Faredred…«

»Verzeih, aber sein Name ist Farodin!«, wandte Nuramon ein.

»Jedenfalls hat der Junge eine Menge weggetrunken.« Er klopfte ihm noch einmal auf den Rücken. »Mal sehen, was du schaffst.«

Ein größeres Gelage als das, was er bei den Zwergen erlebt hatte, konnten ihm die Menschen gewiss nicht bieten. Doch er war offen für Überraschungen. Er musste sich an die Menschen hier gewöhnen. Wer wusste schon, wie lange Mandred und Farodin noch fortblieben? Vielleicht einige Monde, vielleicht ein Jahr, vielleicht länger. Er würde warten und sich auf den Tag vorbereiten, da er gemeinsam mit seinen Gefährten die Suche fortsetzte. Vielleicht konnten ihm die Menschen gar helfen. Er hatte im Hafen zwei Schiffe bemerkt, die in ihrem Aussehen entfernt an Elfenschiffe erinnerten. Vielleicht kannte jemand unter den Seefahrern die Insel, die er beim Orakel gesehen hatte. Er würde sie malen und dann den Menschen zeigen.

Firnstayner Familien

Nuramon der Elf

In jenen Tagen, da Vater Soreis auf Geheiß des Mandred Torgridson die Chronik von Firnstayn begann, damals im fünfzehnten Jahr der Herrschaft Njauldreds, kam Nuramon der Elf nach Firnstayn. Er sagte, er werde auf Mandreds Rückkehr warten.

Damals war ich noch ein Kind. Nun aber neigt sich mein Leben dem Ende entgegen. Und ich kann mit Stolz sagen, dass ich zu der Zeit gelebt habe, da hier ein Elf unter uns weilte. Ich war dabei, als Nuramon zu uns kam. Ich lief neben seinem Pferd her und folgte ihm zum Platz. Und ich war dabei, als er an der Seite Mandreds und des Elfen Farodin davonritt.

Nuramon war ein Gewinn für unsere Stadt, und ich denke gern an jene Tage zurück. Ich erinnere mich, wie er im ersten Frühling nach seiner Ankunft den Wettstreit der Skalden gewann. Nie sonst vernahm man solche Sagas, solche Lieder und solche Verse. Mit seinen schwermütigen Worten über seine verlorene Liebe gewann er die Gunst der Frauen. Und weil das die Männer ärgerte, endete der Tag in einer Schlägerei. Der Elf ging unversehrt daraus hervor. O wie oft hatte Njauldred versucht, Elfenblut in seine königliche Linie zu bekommen! Doch Nuramon war seiner verlorenen Liebe so treu, dass er jede Frau zurückwies, und sei sie noch so schön. Der Elf war aber mehr als ein Skalde. Im einen Jahr übte er sich im Bogenschießen und brachte diese Kunst zur Vollendung. Nie zuvor hatte wohl ein Menschenauge beobachten können, wie ein Elf vom Grünschnabel zum Meister einer Kunst wurde. Er schuf Statuen und Gemälde von großer Schönheit. Er nahm sich zwei Jahre, in denen er nichts anderes tat, als in den Luthtempel zu kommen und mit Vater Soreis und später mit mir über das Schicksal zu sprechen. Er schien ein Mann des Geistes und der Kunst zu sein. Dadurch entstand auch manches Übel. Denn die Jünglinge nahmen sich an ihm ein Beispiel. Und bald wollten viele das Schwert und die Axt gegen die Laute tauschen. Manche sagten gar, der Elf stelle eine Gefahr für die jungen Männer und damit für die Zukunft Firnstayns dar. Als Njauldred Nuramon zu sich holte und ihm die Vorwürfe darlegte, da sagte Nuramon, er wolle eine Hand voll Jünglinge im Kampf unterweisen und sie an die Tugenden Mandreds erinnern. Er nannte seine Krieger die Mandriden, die Söhne Mandreds. Und er lehrte sie den Schwertkampf, das Bogenschießen, aber auch den Axtkampf. Man sah ihn zwar selten eine Axt führen, doch er zeigte den Jünglingen das, was er bei Mandred gesehen hatte.

Da Mandred und Farodin ihre Pferde zurückgelassen hatten, kümmerte sich Nuramon um sie. Er sagte, Mandred habe davon geträumt, dass seine Stute ein Geschlecht der besten Pferde hervorbringe. Die edelsten Hengste des Nordens wurden ihr zugeführt, während die Rösser Nuramons und Farodins die prachtvollsten Stuten deckten. So entstanden die Firnstayner Rösser.

Im neunzehnten Jahr der Herrschaft Njauldreds kämpfte Nuramon mit seinen Mannen an der Seite des Königs gegen die Krieger der Stadt Therse und wütete wie ein Berserker unter den Feinden, nur um dem König danach als vornehmster Berater zu dienen. Ein jeder seiner Krieger ging lebend aus diesem Kampf hervor.

Nuramon unterwies den jungen Tegrod, den Sohn Njauldreds. Er lehrte ihn nicht nur, was er den Mandriden beibrachte, er zeigte ihm auch, wie er selbst ein Lehrmeister werden könne. Und Tegrods Fähigkeiten sprachen für sich.

Aus Dankbarkeit schenkte ihm der alte Njauldred ein Schiff, dem Nuramon den ungewöhnlichen Namen Albenstern gab. Doch er fuhr nie mit ihm hinaus. Stattdessen pflegte er es und stellte sich daneben, um aufs Meer hinauszuschauen. Das Schwanken zwischen Fröhlichkeit und Trübsinn war das Erkennungszeichen des Elfen. Einmal im Mond verbrachte er den ganzen Tag an Freyas Eiche und gedachte Mandreds Weib, obwohl er mir an einem Winterabend gestand, dass er sie nie gesehen habe. Und ebenfalls einmal im Mond ging er hinauf zum Steinkreis. Man sagte, er treffe sich dort mit anderen Albenkindern. Einmal begleitete er mich hinauf in die Berge zur Höhle des Luth. Er opferte den Eisenmännern, wie es üblich war, und erzählte mir in der Höhle, die seit den Tagen des Alfadas wieder geweiht war, was sich hier einst zugetragen hatte.

Und dann – eines Tages – kam der Abschied selbst für Nuramon überraschend …

Lurethor Hjemison, Band 12 der Tempelbibliothek

des Luth zu Firnstayn, s. 53-55

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