Leere Hallen

Nuramon kam in die Halle, in welcher der Gnom Builax ihn nach seinem Zeitempfinden vor über fünfzig Jahren empfangen hatte. Doch sie hatten beim Eintreten in die Bibliothek durch seine mangelnde Kenntnis mindestens hundert Jahre übersprungen, wahrscheinlich noch mehr, und so lag die Begegnung mit dem Gnom noch weiter zurück. Dennoch schien die Halle unverändert. All die Regale und die Bücher waren noch da, die Barinsteine verströmten ihr sanftes Licht. Nur Builax war nirgends zu sehen. In der Nische zwischen den Regalwänden, in welcher der Gnom einst sein Schwert verwahrt hatte, fand Nuramon Bücher, Schreibzeug und sogar ein kleines Messer. Doch der Staub darauf zeigte ihm, dass hier lange niemand gewesen war.

Ein umgekipptes Tintenfass fiel Nuramon besonders ins Auge. Die Tinte hatte sich über den Tisch verteilt und war längst eingetrocknet. Hier wirkte alles so, als hätte Builax nur das Nötigste genommen und den Rest einfach stehen und liegen lassen. Vielleicht hatte der Gnom fliehen müssen?

Nuramon ging zum dreiundzwanzigsten Regal und kletterte die Leiter hinauf. Als er das gesuchte Regal erreichte, kehrte das Gefühl zurück, das ihn ergriffen hatte, als er das erste Mal hier gewesen war. Er war auf den Spuren Yulivees gewandelt, als wäre sie eine Vertraute, wie Noroelle eine Vertraute für Obilee war.

Er nahm sich ihr Buch und machte sich wieder an den Abstieg. Während er Sprosse um Sprosse hinabkletterte, dachte er über die jüngsten Entwicklungen nach. Der Angriff auf den Albenstern beunruhigte ihn. Konnten die Tjuredpriester gar bis in die Bibliothek vordringen? Bisher offenbar nicht, doch ihre Attacken gegen die Albensterne richteten auch hier in der Zerbrochenen Welt Schaden an.

Noch einmal ließ Nuramon den Blick durch die Halle schweifen. Es war bedauerlich, dass weder Builax noch Reilif hier waren. Wer würde den Wissbegierigen nun den Weg weisen? Vielleicht war Reilif irgendwo anders in der Bibliothek zu finden. Wenn es niemanden mehr gab, der über die Bücher und ihre Inhalte Auskunft geben konnte, dann war die riesige Bibliothek für Besucher nahezu nutzlos.

Nuramon verließ die Halle und überlegte, wo er die Suche nach Wissen über die Albensteine beginnen sollte. Farodin hatte sein Gespür gelobt und ihn gebeten, auf eigene Faust nach Aufzeichnungen zu suchen, während er selbst mit den Hütern des Wissens sprach.

Nuramon trat in eines der Zimmer und legte Yulivees Buch auf einem Tisch ab. In den rautenförmigen Fächern der Regale an den Wänden stapelten sich Schriftrollen. Er griff nach einer beliebigen und öffnete sie. Kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, musste er seufzen. Es handelte sich um eine Ahnenliste der Kentauren.

Er ging zu einem anderen Regal und nahm sich eine weitere Rolle. In dem Text ging es um die Heldentat eines Menschen, der ein Tor nach Albenmark mit aller Macht verteidigte. Einzelheiten über die Tore wurden nicht genannt. Aber Nuramon wähnte sich auf der richtigen Spur. Jede Kultur hatte ihre Mythen und ihre Vorstellung vom Anfang der Welten. Dies waren die Geschichten, in denen er versteckte Hinweise entdecken mochte.

Er suchte Stunden und fand nur eine einzige Spur. In einer Chronik stand, dass Emerelle ihren Albenstein eingesetzt habe, um ein wichtiges Seetor zwischen der Menschenwelt und Dailos in Albenmark zu schaffen. Da hieß es: »_O wären die Alten doch nicht gegangen, wir hätten uns eigene Tore schaffen können!_« Alles, was er las, deutete darauf hin, dass die Königin den einzigen Albenstein besaß.

»So wirst du es nie finden«, sagte eine vertraute Stimme. »Denn die Zeit ist knapp …«

Nuramon fuhr herum. In der Tür stand eine Gestalt in einem schwarzen Mantel; die Kapuze bedeckte zur Hälfte ihre Stirn. »Meister Reilif!«, rief Nuramon.

»Ja, ich bin es. Und ich bin enttäuscht, dass du auf Elfenweise nach dem Wissen suchst.«

Nuramon legte die Schriftrolle, in der er gelesen hatte, zurück ins Regal. »Ist es so verwunderlich, dass ein Elf auf diese Weise handelt? Doch du hast Recht. Ich sollte an meinen menschlichen Gefährten denken und die Suche verkürzen.«

»Das meinte ich nicht so. Aber du sollst wissen, dass das Ende dieses Ortes naht.«

Ungläubig starrte Nuramon den Wissenshüter an. So groß war ihm die Gefahr bisher nicht vorgekommen. »Werden die Menschen die Tore zerstören, ohne zu wissen, was sie da tun?«

»Es ist nicht an mir zu sagen, was die Menschen wissen und mit welcher Absicht sie handeln. Ich kann nur sagen, dass wenig fehlt, bis diese Bibliothek verloren ist. Und welchen Sinn hätte es auch, Wissen zu behüten, wenn man mit ihm eingesperrt ist und niemand mehr hierher gelangt?«

»Keinen«, sagte Nuramon leise.

»Damit wenigstens du etwas von all der Weisheit hast, die dieser Ort birgt, werde ich dir helfen.« Reilif lächelte verbindlich.

»Hast du schon mit Farodin gesprochen?«

»Nein, Gengalos und die anderen Hüter sind bei ihm. Ich möchte nur mit dir sprechen.« Reilif blickte zum Tisch. »Wie ich sehe, hast du dir Yulivees Buch geholt.«

»Ich wollte noch einmal darin lesen«, sagte Nuramon, und seine Worte klangen wie eine Entschuldigung.

»Du tust gut daran. Und du darfst das Buch behalten.«

»Wie? Ich dachte …«

»Das Wissen dieser Bibliothek wird verblassen, auch wenn die anderen das nicht so klar sehen wie ich. Doch wenn dieser Ort vergeht, dann soll zumindest ein wenig Wissen aus diesen Hallen gerettet sein. Außerdem sind die Bücher wertlos für mich und die anderen. Ich habe sie gelesen, und nun sind sie ein Teil von mir.«

»Wieso verlasst ihr die Bibliothek nicht und errichtet woanders eine neue?«, fragte Nuramon und dachte an Albenmark, wo man die Hüter des Wissens gewiss mit offenen Armen empfangen würde.

»Wir haben geschworen, diese Hallen nicht zu verlassen, ehe wir all das Wissen, das hier gesammelt ist, in uns aufgenommen haben. Bislang dachten wir, das würde niemals geschehen und dieser Ort würde auf immer ein sprudelnder Quell der Weisheit bleiben. Aber die Quelle ist versiegt, denn nichts Neues gelangt zu uns. Und weil es so ist, mag der Tag kommen, da wir all die Schätze dieser Hallen in uns tragen. Dann dürfen wir fortgehen. Doch leider sind wir sehr langsam. Nur einer unter uns, den wir aus Not aufnahmen, kann schneller lesen als wir. Sollten wir demnach das Wissen dieser Bibliothek erlangt haben, ehe das Ende kommt, werden wir sie verlassen und nach Albenmark zurückkehren.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Gewiss hundert Jahre … Bei allen Alben! Hundert Jahre! Das wäre eine Zeit, über die wir beide früher gespottet hätten. Was sind schon hundert Jahre! Doch ich fürchte, die Menschen könnten früher kommen und alles verderben.«

Nuramon konnte die Hüter des Wissens verstehen. Wenn ein Schwur sie band, dann mussten sie das Wagnis eingehen, dass jede Verbindung zur Menschenwelt abriss und sie hier wie eingemauert leben mussten. Doch vielleicht war es klüger, den Schwur zu brechen, um zumindest einen Teil des unschätzbaren Wissens zu retten. Emerelle würde sie gewiss nicht verachten, wenn sie zu ihr an den Hof kämen.

»Lass uns ein Stück gehen«, sagte Reilif und schritt in den Gang hinaus.

Nuramon nahm Yulivees Buch vom Tisch und folgte dem Hüter des Wissens. »Kannst du mir helfen, etwas über Albensteine zu erfahren?«

Reilif lachte leise. »In deiner Frage steckt bereits eine gewaltige Annahme, nämlich dass es noch mehr Albensteine geben könnte als Emerelles.«

»Ist es so?«

Reilif nickte in seiner Kapuze. »Doch keiner weiß, wo sie sind … Und ich weiß ebenso wenig, wie man einen finden kann.«

Nuramon war enttäuscht. Er hatte mehr von Reilif erwartet. Sollte in all den Büchern, die er gelesen hatte, wirklich nichts darüber stehen, wie man einen Albenstein finden konnte?

»Nun, lass nicht gleich den Kopf hängen! Ich kann dir zwar nicht sagen, wo du einen Stein findest. Aber ich kann dir erklären, wozu ein Albenstein nützlich ist. Also hör gut zu! Wenn du einen solchen Stein besitzt, dann wird er dir ermöglichen, von einem Ende einer Welt zu einem anderen zu gelangen. Du schaffst dir damit Albenpfade, wo vorher keine waren. Du kannst Tore öffnen und schließen. Und du kannst sogar Albensterne erschaffen oder zerstören. Ein Albenstein, der in die falschen Hände gerät, ist ein großes Übel.«

»Kann man damit auch Zauberbarrieren durchbrechen?«

»Gewiss.«

Das war die Antwort, auf die Nuramon gehofft hatte. Er wollte einen solchen Stein zu nichts anderem verwenden als dazu, seine Geliebte zu befreien.

Sie verließen den Gang und nahmen eine Treppe nach oben. Der Hüter des Wissens sprach weiter. »Wer einen Albenstein nutzen will, der muss der Magie fähig sein. Und je mehr er damit erreichen will, desto schwieriger wird es, die Kraft des Steines zu beherrschen.«

»Aber so ein mächtiger Stein muss doch aufzuspüren sein! Seine Kraft müsste alles überstrahlen«, warf Nuramon ein. Er dachte an die Burg der Königin. Dort war nichts von dem Albenstein zu spüren gewesen. Vielleicht hatte Emerelle ihn mit einem Zauber umgeben, um die Aura seiner Macht zu verbergen.

»Du irrst dich. Die Kraft des Steins ist kaum wahrnehmbar. Gewiss würdest du ihn spüren, wenn ich ihn hier neben dir in Händen hielte, doch du würdest ihn trotz seiner Größe für eine Kleinigkeit halten.«

»Wie sieht er aus?«

Reilif schwieg und führte ihn in ein kleines Zimmer, das von der Treppe abging. Hier glommen die Barinsteine in kühlem Grün. Massige Schränke standen an den Wänden und reichten bis zur Decke. Der Hüter des Wissens öffnete einen davon, holte einen großen Folianten hervor und wuchtete diesen auf das Lesepult in der Mitte des Zimmers. Die Buchdeckel waren mit zwei Spangen verbunden, die Reilif nun öffnete. »In diesem Buch findet sich die Abbildung eines Albensteins. Es ist nicht der Emerelles, und sein Träger ist den Alben längst nachgefolgt.« Reilif rutschte die Kapuze vor die Augen. Mit einer schnellen Handbewegung warf er sie ganz zurück, und Nuramon war erstaunt, Elfenohren zu sehen, die aus dem grauweißen Haar hervorstachen. Dass der alte Elf sein Haupt zeigte, kam für Nuramon unerwartet. Reilif schien seine Verwunderung nicht zu bemerken, sondern schlug zielsicher die gesuchte Seite auf.

Das Bild des Steins nahm die ganze Seite ein. Er war dunkelgrau und wirkte glatt. Fünf weiße Furchen liefen an ihm hinab. Die Zeichnung war eher schlicht und keineswegs das Werk eines Meisters. Doch sie reichte aus, um einen Eindruck zu gewinnen.

Nuramon deutete auf die abgebildeten Vertiefungen. »Was sind das für Linien?«, fragte er.

Reilif fuhr mit dem Finger über die linke Furche. »Das ist die Welt der Menschen. Daneben liegt die Welt, die nun zerbrochen ist und in der wir uns befinden. Dann folgt die Mark der Alben, darauf dann deren Heim.« Er tippte auf die Linie ganz rechts. »Und dies ist schließlich das, was wir Elfen das Mondlicht heißen.«

Nuramon staunte. »Das kann ich kaum glauben.«

»Was kannst du nicht glauben?«

»Dass die Welten, die ich kenne, so einfach neben dem Heim der Alben und dem Mondlicht stehen.«

»Lass dich dadurch nicht verwirren, Nuramon. Es heißt, jeder Albenstein sei einzigartig. Jeder soll für ein anderes Verständnis der Welt stehen. Von Emerelles Stein heißt es, die Furchen lägen übereinander.«

»Wem gehörte dieser Stein?«, fragte Nuramon.

»Einem Drachen namens Cheliach. Wir wissen nicht viel über ihn, nur dass er den Alben spät nachfolgte und daraufhin die Drachen an Bedeutung verloren.«

Nuramon war zufrieden. Das war der Anfang, den er sich erhofft hatte. »Ich danke dir, dass du mir dieses Bild gezeigt hast.«

Reilif schloss das Buch. »Du wirst diesen Band hier finden, wenn du ihn deinen Gefährten zeigen willst. Ich lasse ihn auf dem Tisch liegen. Doch erst einmal solltest du jemanden aufsuchen, der dich kennt und dich gewiss gern wiedersehen möchte.«

»Wer sollte das sein?«, fragte Nuramon überrascht.

Meister Reilif schmunzelte. »Den Namen darf ich dir nicht sagen. Das habe ich versprochen.« Er deutete zur Treppe. »Folge den Stufen bis ganz nach oben! In einer der kahlen Hallen wirst du ihn finden.« Die grauen Augen des alten Elfen funkelten im Schein der Barinsteine.

Zögernd verließ Nuramon das Zimmer. Auf der Treppe atmete er durch. Ihm war, als hätte der Hüter des Wissens einen Zauber über ihn gesprochen, so sehr hatten ihn dessen Augen in den Bann gezogen. Was mochte die Geschichte dieses Elfen sein? Er wagte nicht, ihn danach zu fragen. Außerdem gab es im Augenblick etwas anderes, dass ihn beschäftigte. Wer mochte dort oben auf ihn warten?

Als Nuramon das Ende der Treppe erreichte, folgte er einem breiten Gang, von dem kleinere Hallen abgingen. Sie waren leer; hier gab es weder Bücher noch Regale. Offenbar war das Wissen der Bibliothek noch nicht bis hier hinaufgewachsen. Und wie aus den Worten Reilifs zu schließen war, würde es wohl nie geschehen. Umso mehr überraschte es Nuramon, in einem Seitengang Bücher zu sehen, die links und rechts an der Wand gestapelt lagen.

Eine leise Stimme hallte durch den Gang. Nuramon folgte ihr, spähte durch die Türöffnung und konnte kaum fassen, was er da sah: In einem kahlen, kreisrunden Saal saß der Dschinn auf einem Thron aus Büchern und nahm soeben einen Band von einem säuberlich angelegten Stapel zu seiner Linken, warf einen Blick hinein und warf ihn dann unachtsam auf einen Haufen zu seiner Rechten. Der Dschinn hatte weißes Haar und trug ebenso weiße Gewänder, die ihn viel ehrwürdiger wirken ließen als in Valemas.

Kaum hatte Nuramon den Saal betreten, da hob der Dschinn den Kopf und musterte ihn. »Ach, du bist es, Nuramon«, sagte er, als hätten sie sich vor kurzem noch gesehen. Rasch errichtete er einen kleinen Stapel aus umherliegenden Büchern und deutete darauf. »Nimm doch Platz!«

Kaum hatte Nuramon sich niedergelassen, da fragte der Dschinn: »Hat dich mein Rat damals weitergeführt?«

»Ja, und ich möchte dir dafür danken. Er war von unschätzbarem Wert.« Nuramon erzählte, dass er in der Bibliothek einst auf Yulivees Spuren gewandelt war. Und er berichtete von den Zwergen und von Dareen.

»Wie ich sehe, hast du einen Narren an Yulivee gefressen.« Der Dschinn deutete auf das Buch, das auf Nuramons Knien ruhte.

»Reilif hat es mir überlassen. Vielleicht sollte ich es nach Valemas zu den Freien bringen. Ihr Hass auf Emerelle würde durch die Schriften gewiss ein wenig gemindert.«

Der Dschinn machte ein bedrücktes Gesicht. »Es hat keinen Zweck, die Bücher nach Valemas zu bringen. Die Oase ist zerstört.«

»Was?«, rief Nuramon erschüttert. »Wie konnte das geschehen?«

»Die weißen Ritter aus dem Norden, die unter dem Banner des Tjured reiten, haben die Freien vernichtet.«

»Wie ist das möglich? Wie können Menschenkrieger sich so tief in der Wüste bewegen und gegen Krieger wie die Freien von Valemas im Kampf bestehen?«

»Indem sie Magie verwenden. Einige unter den Menschen haben das Zaubern gelernt. Sie sammeln sich unter dem Banner des Tjured. Sie sind Anführer und spüren die Macht der Albenpfade. Sie fanden den Steinring in der Wüste, und weil es dort keine schützende Barriere gab, öffneten sie das Tor mit ihrer Magie. So konnte es zum Kampf kommen. Ich floh, und als ich zurückkehrte, fand ich nur mehr Ruinen und Tote. Die Menschen haben nicht einmal die wenigen Kinder verschont.«

»Das ist unfassbar! Diese Narren werden alles zerstören.« Nuramon stockte. »Haben sie etwa auch Albenmark angegriffen?«

»Mach dir keine Sorgen. Ich zog für die Freien von Valemas aus, um die Menschen zu beobachten. Und ich sah, wie sie sich an einem Albenstern sammelten, der nach Albenmark führte. Die Priester beteten dort und fragten ihren Gott, ob dieser Ort seinen Segen finde. Dann sprachen sie Worte, die ich nicht verstand. Es war gewiss der Zauberspruch. Ich merkte, wie etwas gegen den Albenstern schlug; gleichzeitig zogen die Krieger ihre Schwerter. Als dann aber nichts geschah, zogen sie fort. Ich habe mir die Spuren angesehen, die sie hinterlassen haben. Mit diesem Zauber wären sie niemals nach Albenmark gelangt. Die gleichen Spuren fand ich nach der Zerstörung von Valemas am Steinring. Die Priester können offenbar nur Tore in die Zerbrochene Welt öffnen.«

»Wieso haben sie die Bibliothek bisher verschont?«

»Oh, sie versuchen wohl schon seit einer Weile, hierher durchzudringen. Die Hüter des Wissens sagen, die Menschen seien verwirrt, weil in Iskendria so viele Albenpfade verlaufen. Außerdem hätten sie Schwierigkeiten, die Schutzzauber an den Toren zu durchbrechen. Doch Reilif meint, die Menschen rissen die Barrieren langsam nieder. Jeden Tag kommen sie weiter voran. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit, um das Wissen dieses Ortes aufzunehmen und zu verschwinden.«

»Bist du derjenige, der sich das Wissen so schnell aneignen kann?«

»Gewiss.«

»Was haben sie getan, um dich zu überreden?«

Der Dschinn zog eine verärgerte Miene. »Diese Kerle haben mich reingelegt. Sie haben mich schließlich dazu gebracht, meinen Namen zu nennen. Nun muss ich ihnen dienen. Diese Halunken sind einfach zu schlau für mich. Aber was sollʹs … Was hier geschieht, erinnert mich an die Dschinnenbibliothek. Offenbar ist es das Schicksal des großen Wissens, einfach zu vergehen.« Der Blick des Dschinns ging ins Leere. »Ich frage mich, wo das alles enden soll.«

Nuramon schüttelte den Kopf. »Wenn das Schicksal uns Albenkindern hold ist, dann werden die Krieger alles verbrennen, was sich in diesen Hallen befindet. Wenn es uns böse mitspielt, dann werden sie sich das Wissen erschließen … Sofern sie denn all die Sprachen lernen können.«

»Daran haben wir gedacht. In dem Augenblick, in dem die Menschen hier eindringen, werden wir einen Zauber wirken, der alles zerstört, was hier gehütet wird. Auch wir werden vergehen. Der Zauber ist bereits gewirkt. Wir müssen nur noch die letzten Worte sprechen. Und dann wird hier alles in einem gigantischen …« Der Dschinn brach ab und schaute zur Tür.

Nuramon folgte dem Blick des Geistes, und was er sah, überraschte ihn zutiefst. Ein kleines Elfenmädchen kam mit einem Stapel Bücher ins Zimmer. Es mochte etwa acht Jahre alt sein, gewiss nicht älter. Das Kind machte große Augen, als es ihn sah, und ließ vor Schreck die Bücher fallen.

Der Dschinn erhob sich. »Du brauchst dich nicht zu erschrecken, kleine Elfe. Dies ist Nuramon, ein Freund aus Albenmark.«

Das Mädchen blickte auf die Bücher hinab. Mit einem Ruck schwebten sie hoch und stapelten sich wieder auf ihren Händen. Nuramon war verblüfft. Für das Kind schien dieser Zauber nur eine Fingerübung zu sein. Sie trat näher und legte den Bücherstapel dann neben dem großen Bücherthron ab.

»Komm her! Begrüße unseren Gast!«, sagte der Dschinn.

Mit einem schüchternen Lächeln trat das Mädchen an die Seite des Dschinns und ließ sich von dem Geist durchs dunkelbraune Haar streichen.

»Wie ist dein Name?«, fragte Nuramon.

»Wie meinst du das?« Die Kleine sprach fast im selben Tonfall wie der Dschinn.

»Hast du keinen Namen?«, setzte Nuramon nach.

»Ach so! Kleine Elfe oder Elfenkind nennen sie mich.«

Nuramon verschlug es die Sprache. Der Dschinn hatte diesem Kind nicht einmal einen Namen gegeben!

»So, Elfenkind, bring diese Bücher wieder runter«, trug der Dschinn der Kleinen auf.

Sie zog eine unzufriedene Miene und machte sich daran, einige Bände vom Haufen der gelesenen Bücher zu holen. Sie lächelte Nuramon noch einmal zu und verließ dann den Saal.

Kaum waren ihre Schritte im Gang verklungen, da wandte sich Nuramon an den Dschinn. »Wie konntest du ihr keinen Namen geben?«

»Namen bringen nur Probleme. Das habe ich dir doch schon gesagt. Sie führen nur dazu, dass andere Macht über einen erlangen.«

Nuramon deutete zur Tür. »Das hält dich nicht davon ab, dieses Kind wie eine Dienerin herumzuschicken!«

»Ho! Du kennst die Kleine nicht. Die ist ein übler Quälgeist. Sie hat eben nur auf mich gehört, weil du hier bist. Die hat einen Dickschädel, dagegen ist ein Trollkopf geradezu zierlich! Außerdem habe ich sie nur aus einem Grund fortgeschickt.«

»Und der wäre?«

»Sie weiß nichts von ihrer Herkunft. Ich habe ihr eine Geschichte erzählt, um sie vor der Wahrheit zu schützen.«

»Und was ist die Wahrheit?«, fragte Nuramon, winkte dann aber ab. »Ich ahne es schon. Die Kleine kommt aus Valemas, nicht wahr?«

»Ja. Sie ist vielleicht die Letzte der Freien.«

Nuramon schaute den Dschinn verwundert an. »Wie ist das möglich? Ich dachte, es wären mindestens hundert Jahre vergangen. Wie kann es da sein, dass sie noch ein Kind ist?«

Der Dschinn lachte. »Das hängt eben davon ab, wie stark die Schutzbarrieren der Albensterne sind und wie weit die Kunst des Zaubers reicht. Ihr seid gewiss mit dem Kopf durch die Wand gegangen, ohne es mit Magie auszugleichen.«

Nuramon begriff, was der Dschinn sagen wollte. »Dann seid ihr in der Zeit, die wir beim Durchqueren des Tores verloren haben, hierher gekommen? Das heißt, die Tjuredanbeter haben erst Iskendria genommen und dann…«

»Valemas! Und gewiss haben sie auch andere Orte zerstört. So ist es. Das Mädchen wurde mir anvertraut, als die Schlacht vor Valemas bevorstand. Hildachi, ihre Mutter, war eine mächtige Zauberin und Seherin. Sie sagte, wir sollten die Kinder in Sicherheit bringen. Doch da es nur wenige Kinder gab und die Krieger die Gefahr viel zu gering einschätzten, war es nur die Kleine, die ich fortbrachte. Hildachi sagte mir, ich solle sie an einen sicheren Ort führen, um sie dann später zurückzubringen. Nachdem ich Valemas zerstört vorfand, kam ich mit ihr hierher. Das war vor sechs Jahren. Die Kleine konnte damals nicht einmal sprechen. Ich habe ihr inzwischen einige Sprachen beigebracht, auch das Lesen und das Schreiben vieler Schriften. Und ich lehrte sie ein wenig Magie. Unterschätze sie nicht! Da ich aber an diesen Ort gebunden bin, solange die Hüter des Wissens ihn nicht verlassen wollen, kann ich sie nicht in Sicherheit bringen. Doch ich möchte nicht, dass sie in der Gefahr dieser Bibliothek lebt, denn es mag sein, dass wir unser Ziel nicht erreichen, ehe die Menschen kommen.«

Nuramon überlegte. Ein Kind war das Letzte, was sie auf ihrer Suche gebrauchen konnten. Aber der Dschinn hatte Recht. Dies war kein Ort für ein Elfenkind. »Ich werde sie mitnehmen. Auch wenn ich das erst meinen Gefährten klar machen muss und das gewiss unsere Suche erschweren wird.«

»Ich habe gehört, ihr sucht nach einem Albenstein.«

»Weißt du vielleicht etwas darüber?«

»Aber ja. Doch alles, was ich dir in meiner großen Weisheit zuteil werden lassen kann, habe ich bereits getan.«

»Wie meinst du das?«

»So wie ich es sage«, entgegnete er grinsend. »Von mir wirst du nichts Neues erfahren.«

Was konnte der Dschinn nur damit meinen, dass er ihm bereits alles über die Albensteine gesagt hätte? Nichts hatte er gesagt! Weder heute noch damals in Valemas. Von Albensteinen war nie die Rede gewesen.

»Denk ruhig weiter darüber nach. Ich werde in der Zwischenzeit lesen.« Der Dschinn nahm sich das Buch, das er begonnen hatte, und schien langsam darin zu blättern. Doch Nuramon bemerkte, wie rasch die Augen des Geistes sich bewegten. Er blätterte nicht einfach nur, sondern er las.

Nuramon überlegte, was der Dschinn ihm damals in Valemas gesagt hatte. Er hatte Nuramon von der Zerbrochenen Welt erzählt und dass es unmöglich war, durch die unendliche Finsternis zu reisen. Aber es war nie die Rede von einem Stein gewesen. Oder doch? »Der Feueropal!«, sprach er vor sich hin.

Der Dschinn legte sein Buch zur Seite. »Du hast ein gutes Gedächtnis, Nuramon.«

»Du meinst den Feueropal, welcher sich in der verlorenen Krone des Maharadschas Berseinischi befindet? Ist er ein Albenstein?« Nuramon erinnerte sich noch an die Worte des Dschinns. Er hatte ihn gefragt, ob er ihm wohl eher glauben würde, wenn er sagte, der Opal sei ein Albenstern, der sich bewegte … Nach allem, was Reilif ihm über die Macht der Albensteine erzählt hatte, begriff er nun den Hintersinn der Worte des Dschinns. Nuramon schüttelte den Kopf. »Der Albenstein der Dschinnen! Das passt zu euch. Euren Stein an einem Ort zu verstecken, der so offensichtlich ist, dass man ihn dort niemals vermuten würde!«

»Wir Geister sind eben klug … Nun, nicht ganz so klug. Denn wir konnten nicht ahnen, dass dieser Dummkopf Elebal die Krone mit auf seine Eroberungszüge nehmen würde.«

»Ich kann es immer noch kaum glauben … Du sagst doch die Wahrheit, oder?«

Der Dschinn grinste schelmisch. »Habe ich dich jemals angelogen?«

»Nein, das hast du nicht. Du hast mir sogar gesagt, wo ich die Suche nach der Krone beginnen soll.« In Drusna hatte der Maharadscha Elebal die entscheidende Schlacht verloren, und dort war die Krone mit dem Feueropal verschwunden. »Nur eines verstehe ich nicht. Wieso hast du nicht selbst nach der Krone gesucht? Warst du in Valemas etwa auch mit deinem Namen an den Ort gebunden?«

»Nein, das war ich nicht. Ich habe die Krone gesucht, nur habe ich sie nicht finden können. Entweder sie ist zerstört, oder ein Schutzzauber umgibt sie. Früher konnte ich sie an jedem Ort der Menschenwelt spüren.«

»Ich dachte, Albensteine könnte man nicht auf Entfernungen spüren.«

»Das stimmt auch, aber wir haben einen besonderen Zauber auf den Stein gelegt, den nur wir Dschinnen kennen und der uns sagt, wo sich der Feueropal befindet. Doch wie gesagt, sein Ruf ist verstummt. Und über die Grenzen einer Welt hinaus konnte man ihn ohnehin nicht vernehmen.«

Vielleicht vermochte Farodin zu helfen. Sein Suchzauber würde die Krone womöglich aufspüren können. »Gibt es ein Bild von der Krone?«

»Ja, sogar in dieser Bibliothek. Als ich das erste Mal hier war, da habe ich sie malen lassen. Damals war ich noch auf der Suche nach ihr und hatte gehofft, hier etwas über ihren Verbleib zu erfahren. Komm, ich zeig es dir!« Er erhob sich.

»Mein Gefährte Farodin beherrscht einen Suchzauber. Wenn wir ihm eine Abbildung der Krone zeigen und du ihm erzählst, was du über sie weißt, dann könnte es sein, dass er sie aufspürt. Aber dürfen wir den Stein auch für unsere Zwecke verwenden, wenn wir ihn finden?«

»Wenn du den Feueropal findest, dann werden die Dschinnen sich in einer Reihe vor dir aufstellen und dir die Füße küssen! Jeder von ihnen wird dir seinen Namen sagen und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen! Mit schlichten Worten: ja, Nuramon!«

Загрузка...