Nuramon stand inmitten seiner Kammer, deren Wände und Decke reich mit Fresken verziert waren. Sieben hatte die Königin zur Elfenjagd berufen, und sieben Kammern gab es. Einst waren die Gemächer errichtet worden, damit die Jagdgefährten sich ausrüsten und ausruhen konnten. Hier sollten ihnen ihre Verwandten die Ehre erweisen. Und hier war es, wo Nuramon völlig allein war.
In die Decke und in die Wand waren honigfarbene Barinsteine eingelassen, die warmes Licht spendeten. An der Wand zu Nuramons Rechten zog sich eine tiefe Nische entlang, in der einige Waffen und Ausrüstungsgegenstände, aber auch Schmuck und so manches Kleinod lagen, dessen Zauberkraft er spüren konnte. All dies hatten seine Vorgänger einst auf der Elfenjagd getragen. Wer immer von der Jagd zurückkehrte, pflegte etwas in der Kammer zurückzulassen.
Als Berufener hätte Nuramon einige dieser Stücke an sich nehmen können; zumindest hatte ihm Farodin es so erzählt. Aber er wollte nichts von diesen Dingen für sich beanspruchen, wollte ihnen nicht den Glanz nehmen. So blieb ihm als Ausrüstung nur das, was er ohnehin besaß, und das war keineswegs viel. Die Bräuche verlangten, dass seine Verwandten ihn hier trafen, um ihm Beistand zu leisten und ihn auszustatten. Doch darauf konnte Nuramon sich nicht verlassen. Auf der steinernen Bank gegenüber der Nische saß weder ein Verwandter, noch lag dort irgendeine Gabe.
Hatte die Königin ihm nicht eine große Ehre erwiesen, dass sie ihn zur Elfenjagd berufen hatte? Hatte er es nicht verdient, dass seine Sippe, wie es üblich war, zu ihm kam, um ihm ihre Freude zu zeigen? Stattdessen hatte sich jedermann überrascht gezeigt. Sie machten sich nicht einmal mehr die Mühe zu flüstern, wenn sie über ihn spotteten. Er war ein Ausgestoßener, und er war sich sicher, dass nicht einmal die Königin etwas daran ändern konnte.
Was außer Noroelle gab es in dieser Welt, das ihn noch hier halten konnte? Seine Eltern waren längst ins Mondlicht gegangen. Geschwister hatte er keine und Freunde ebenso wenig. Da war nur Noroelle. Allein sie schien sein Erbe nicht zu bekümmern. Und hätte sie die Entscheidung der Königin vernommen, so hätte sie ihre Freude mit ihm geteilt. Sie wäre zu ihm in dieses Gemach gekommen.
Nuramon hatte die Geschichten von der letzten Elfenjagd gehört. Die Gefährten waren ausgezogen und hatten einen Trollfürsten vom Kelpenwall fern gehalten. Die Familien hatten den Jägern Waffen und allerlei Kostbarkeiten vorgelegt, aus denen sie hatten auswählen dürfen. Und jene, deren Gaben von den Jägern angenommen worden waren, waren mit Stolz erfüllt gewesen.
Gewiss überreichte man in diesem Augenblick, da er hier allein war, seinen Gefährten in den anderen Kammern die Ausrüstung. Bestimmt waren sogar einige bei dem Menschensohn. Nuramon fragte sich, ob jemals zuvor ein Elf einen Menschen beneidet hatte.
Das Geräusch von Schritten vor der Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um, in der Hoffnung, dass es ein Vetter, eine Base, ein Onkel oder eine seiner Tanten wäre, irgendeiner aus seiner Familie. Noch ehe die Tür sich öffnete, hörte Nuramon eine Frauenstimme seinen Namen nennen. Die Tür öffnete sich. Eine Frau im grauen Gewand einer Zauberin trat ein.
»Emerelle«, sagte er überrascht. Seine Herrin sah völlig verändert aus. Sie wirkte nun weniger wie eine Königin, sondern eher wie eine reisende Zauberin von großer Macht. Ihre hellbraunen Augen funkelten im Schein der Barinsteine, und auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. »_Du_ kommst zu mir?«, fragte er.
Sie schloss die Tür. »Und wie es scheint, bin ich die Einzige.« Sie trat an ihn heran und tat dies mit solcher Eleganz und Macht, dass Nuramon glaubte, eine Elfe aus den alten Tagen der Heldensagen vor sich zu haben. Die Königin hatte diese großen Zeiten noch miterlebt. Sie war nicht von Elfen gezeugt; sie stammte direkt von den Alben ab und hatte sie noch gesehen, bevor sie die Welt verlassen hatten. Irgendwo in dieser Burg verbarg Emerelle ihren Albenstein, das Kleinod, welches ihr die Alben hinterlassen hatten und das sie einst verwenden würde, um ihnen zu folgen. Warum aber kam sie zu ihm wie eine Magierin?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, antwortete sie: »Es ist Tradition, dass die Königin jedem Mitglied der Elfenjagd einen Besuch abstattet. Und da ich überall Stimmen hörte außer bei dir, wollte ich hier den Anfang machen.« Sie blieb vor ihm stehen und blickte ihn erwartungsvoll an.
Ein Hauch von frischen Frühlingsblüten stieg ihm in die Nase. Es war der Duft der Königin, und er besänftigte ihn. »Verzeih mir«, sagte er leise. »Ich bin nicht mit allen Traditionen vertraut.« Er senkte den Blick.
»Hast du nie davon geträumt, an der Elfenjagd teilzunehmen? Jedes Kind träumt davon, kennt die Traditionen und jeden einzelnen Schritt des Weges in dieser Nacht.«
Nuramon seufzte und sah ihr ins Gesicht. »Ein Kind, das nirgends Anerkennung findet, träumt von kleineren Dingen.« Er dachte an die Zeit, nachdem seine Eltern ins Mondlicht gegangen waren. Er war fast noch ein Kind gewesen, doch niemand war gekommen, um sich seiner anzunehmen. Seine Verwandten hatten ihn abgewiesen, und so war er in das Baumhaus seiner Eltern zurückgekehrt. Dort war er einsam gewesen. Allein die Albenkinder, denen der Fluch nichts bedeutete, welchen die Elfen in ihm sahen, hatten ihn in ihrer Nähe geduldet. Und das waren keineswegs viele gewesen.
»Ich weiß, wie schwer es ist«, sagte die Königin und holte Nuramon mit ihren Worten aus seinen Erinnerungen zurück. »Doch meine Entscheidung wird ein Zeichen für die anderen sein. Noch sind sie überrascht, aber bald schon werden sie dich mit anderen Augen sehen.«
»Ich wünschte, ich könnte das glauben.« Er wich Emerelles Blick aus.
»Schau mich an, Nuramon!«, forderte sie. »Du darfst nicht vergessen, dass ich auch deine Königin bin. Ich kann die anderen nicht dazu bewegen, dich zu lieben. Aber ich werde dich behandeln, wie ich sie behandle. Du fühlst dich einsam und fragst dich, ob du überhaupt noch den Elfen zugehörig bist. Doch schon bald werden die anderen dein wahres Wesen erkennen.« Sie senkte den Blick. »Du hast dein Leid der jungen Jahre überwunden. Es scheint, als hätte Noroelle Kräfte in dir geweckt, die keiner für möglich gehalten hätte. Jetzt ist der Augenblick gekommen, da ich dir die Anerkennung schenke, die du gemäß deiner Eigenschaften verdienst.«
»Und ich werde diese Gelegenheit nutzen, Emerelle.«
Die Königin schaute sich zur Tür um. »Da niemand kommt, die Jäger aber seit jeher ausgestattet werden, möchte ich mich deiner Ausrüstung annehmen. Ich werde sie später in dein Gemach bringen lassen.«
»Aber …«
»Nein, sag nicht, es stünde dir nicht zu! Schau nach dort oben.« Sie deutete auf das Abbild einer Elfe, die gegen einen Drachen kämpfte. »Das ist Gaomee. Sie besiegte den Drachen Duanoc, der durch das Tor von Halgaris in unsere Gefilde gelangt war.«
Gaomee! Duanoc! Halgaris! Das waren Namen aus der Sage, die auf große Taten verwiesen und an heldenhafte Zeiten erinnerten.
Viele Drachen waren einst nach Albenmark gekommen, doch nur wenige hatten ihren Platz in dieser Welt gefunden und waren mit Elfen ein Bündnis eingegangen. Aber Duanoc war weit davon entfernt gewesen, einen solchen Pakt zu akzeptieren. Zumindest erzählte man es sich so. Und die junge Gaomee hatte ihn erschlagen. Nuramon lief ein Schauer über den Rücken.
Die Königin sprach weiter. »Gaomee hatte keine Familie mehr. Ich habe sie erwählt und auch damals für große Überraschung gesorgt. Ich sah in ihr etwas, das ich einst in mir selbst gesehen hatte.« Emerelle schloss die Augen und zog Nuramon völlig in ihren Bann. Nie zuvor hatte er die geschlossenen Augenlider der Königin gesehen. So mochte sie aussehen, wenn sie schlief und von Dingen träumte, die nur eine Elfe von außergewöhnlicher Macht begreifen konnte. »Ich sehe Gaomee so klar in meiner Erinnerung … Sie stand hier vor mir, und die Tränen liefen über ihre Wangen. Sie besaß keine passende Ausrüstung, um mit den anderen gegen Duanoc auszureiten. Also stattete ich sie aus. Es soll nicht sein, dass einer der Jäger schlecht ausgerüstet ist, besonders wenn es in die Reiche der Menschen geht.«
»Dann will ich es annehmen.« Nuramon schaute hinauf zur Freske der Gaomee und verlor sich in ihrem Anblick. Die Königin hatte ihm einen Weg aufgetan, von dem er nie geglaubt hatte, dass er ihm offen stünde. Längst hatte er sich damit abgefunden, abseits der anderen stehen zu müssen.
»Ich weiß, es ist neu für dich«, sagte die Königin leise und holte ihn abermals aus seinen Gedanken zurück. »Doch dies ist ein Wendepunkt für deine Seele. Nie war einer, dem man den Namen Nuramon gegeben hat, Mitglied der Elfenjagd. Du bist der Erste. Und weil mit der Elfenjagd auch Elfenruhm verbunden ist, werden sich viele bei deiner Rückkehr neu entscheiden müssen, ob sie dir mit Spott oder aber mit Anerkennung begegnen wollen.«
Nuramon musste lächeln.
»Warum lächelst du? Lass mich an deinen Gedanken teilhaben«, forderte Emerelle.
»Ich muss an die Angst denken, die ich in den Gesichtern meiner Verwandten gesehen habe, als du mich berufen hast. Nun bin ich mehr als nur eine Schande, ich bin eine Gefahr. Sie müssen fürchten, dass ihnen im Fall meines Todes ein Kind geboren wird, das meine Seele trägt. Eigentlich sollten sie hier sein, um mir die beste Ausrüstung zu übergeben, in der Hoffnung, dass ich überlebe. Aber die Abscheu mir gegenüber scheint größer zu sein als die Angst vor meinem Tod …«
Emerelle schaute ihn gütig an. »Nimm sie nicht so sehr ins Gericht. Sie müssen sich erst an die neue Lage gewöhnen. Nur die wenigsten, die durch die Jahrhunderte gehen, gewöhnen sich schnell an das Neue. Niemand konnte ahnen, dass ich dich berufe. Nicht einmal du selbst hast es erwartet.«
»Das ist wahr.«
»Du bist dir im Klaren, wie es nun weitergeht?«
Nuramon wusste nicht, was sie meinte. Sprach sie von seinem Leben oder aber von diesem Gespräch?
Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Emerelle fort: »Die Gefährten der Elfenjagd begeben sich in Gefahr. Deswegen gibt die Königin jedem Einzelnen einen Rat mit auf den Weg.«
Nuramon schämte sich für seine Unwissenheit. »Ich werde ihm folgen, wie immer er auch lauten mag.«
»Gut, dass du mir so sehr vertraust.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist anders als die anderen, Nuramon. Wenn du in die Welt hinausblickst, dann siehst du etwas anderes als ein gewöhnlicher Elf. Du siehst das Schöne in dem, was andere verabscheuen. Du siehst das Erhabene dort, wo andere voller Verachtung vorübergehen. Und du sprichst von Harmonie, wo andere es nicht aushalten. Und weil du so bist, werde ich dir einen Rat geben, den ich einst das Orakel von Telmareen sagen hörte. _Wähle dir deine Verwandtschaft! Kümmere dich nicht um dein Ansehen! Denn alles, was du bist, das ist in dir_.«
Nuramon war wie gebannt. Er durfte die Worte des Orakels von Telmareen aus dem Munde der Königin hören! Eine Weile lang kostete er das Gefühl aus, das ihm die Königin vermittelte. Dann, mit einem Mal, erwachte eine Frage in ihm. Er zögerte, doch schließlich wagte er es, sie zu stellen. »Du meintest, du habest den Rat vernommen. Zu wem hat das Orakel gesprochen? Wem hat es diesen Rat gegeben?«
Emerelle lächelte. »Folge dem Rat der Königin!«, sagte sie und küsste ihn dann auf die Stirn. »Das Orakel sprach zu _mir_.« Mit diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und ging zur Tür.
Nuramon blickte ihr fassungslos nach. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, sagte sie, ohne noch einmal zu ihm zurückzublicken: »Ich habe Noroelle im Obstgarten gesehen.«
Als Emerelle fort war, ließ sich Nuramon auf die steinerne Bank sinken und dachte nach. Das Orakel hatte der Königin einst diesen Rat gegeben? Hatte sie ihn berufen, weil sie sich in ihm wiedererkannte? Nuramon wurde mit einem Mal bewusst, wie sehr er sich in der Königin getäuscht hatte. Er hatte sie immer als unnahbare Elfe betrachtet, als Frau, deren Glanz man nur bewundern konnte, wie man einen fernen Stern bewunderte. Aber nie und nimmer wäre er von selbst auf den Gedanken gekommen, es könnte irgendeine Gemeinsamkeit zwischen ihr und ihm geben.
Emerelle war allen Elfen und auch den anderen Albenkindern, die unter ihrem Schutz standen, Vorbild und Ideal zugleich. Wie hatte er sich davon ausnehmen können? Sie hatte ihm nicht nur einen Weg offenbart, den sie einst gegangen war, sondern auch auf Gaomee verwiesen. Auf der Elfenjagd würde er sich an Gaomee ein Beispiel nehmen. Darüber aber schwebte der Rat der Königin.
Noch einmal rief er sich ihre Worte ins Gedächtnis, und so wurde er auch an Noroelle erinnert. Er verließ die Kammer und sah Mandred am Ende des Ganges inmitten einiger Elfen stehen. Der Menschensohn bedankte sich lauthals. Nuramon musste schmunzeln. Um keine Gabe dieser Burg hätte er mit Mandred oder einem anderen aus der Elfenjagd nun mehr tauschen wollen.
Während er den Gang entlangging, bemerkte er, dass keine Frauen bei Mandred zu sehen waren. Das verwunderte ihn nicht. Offensichtlich hatte sich bei Hof schon herumgesprochen, auf welch unsittliche Art er die Frauen anstarrte. Er war froh, dass Noroelle im Thronsaal nicht Mandreds Blicken ausgesetzt gewesen war. Wie konnte man nur so taktlos sein!
In diesem. Augenblick rief Mandred laut: »Nun, meine Freunde! Sprecht einen Zauber, der mich in diese Rüstung passen lässt, und so will ich sie mit Freuden annehmen …
Halt! Bleibt mir mit Schwertern und anderem Kinderkram vom Leib. Ich bin Mandred! Habt ihr keine Axt?« Nuramon schüttelte den Kopf. Eine raue Stimme, ein raues Gemüt! Und doch eine Art, der man sich nicht entziehen konnte.
Auf dem Weg zum Obstgarten fragte sich Nuramon, wie Noroelle die Kunde von seiner Berufung aufnehmen würde. Würde die Angst um ihn die Freude überwiegen? Die Königin hatte ein Lob für Noroelle in ihre Worte eingeflochten. Und es entsprach der Wahrheit: Seine Liebste hatte ihn verändert. Sie hatte ihm Selbstvertrauen geschenkt, und er war durch ihre Zuneigung gewachsen.
Wenig später erreichte Nuramon den Obstgarten. Er war auf einem weiten Felsvorsprung angelegt, den man nur durch die Burg erreichen konnte. Es war Nacht. Er sah zum Mond hinauf. Das war das Lebensziel. Endlich ins Mondlicht zu gehen! In all den Jahren war der Mond sein Vertrauter gewesen. Seine Vorfahren – jene, die zuvor seine Seele und seinen Namen getragen hatten – mochten ebenfalls diese Verbundenheit zum Mond verspürt haben. Der Lichtschimmer, der ihn traf, war wie ein kühler Windhauch, welcher der warmen Frühlingsnacht ein wenig Frische verlieh. Nuramon ging unter den Bäumen hindurch.
Unter einer Birke blieb er stehen und schaute sich um. Er war vor langer Zeit zum letzten Mal hier in diesem Garten gewesen. Man sagte, jeder der Bäume hier besitze eine Seele und einen Geist, und jeder, der ein offenes Ohr habe, könne sie flüstern hören. Nuramon lauschte, doch er vernahm nichts. Waren seine Sinne immer noch zu schwach?
Nun aber galt es, Noroelle zu finden. Dies war ein Obstgarten, also sollte er sie unter einem Obstbaum suchen. Er schaute sich nach den Früchten um, welche die Bäume hier das ganze Jahr trugen. Er sah Äpfel und Birnen, Kirschen und Mirabellen, Aprikosen und Pfirsiche, Zitronen und Orangen, Pflaumen und … Maulbeeren. Noroelle liebte Maulbeeren!
Ganz am Rande des Gartens standen zwei Maulbeerbäume, aber Noroelle war hier nicht zu finden. Nuramon lehnte sich an die Mauer und blickte über das Land. Die Zelte vor der Burg erschienen bei Nacht wie bunte Laternen. »Wo bist du nur, Noroelle?«, fragte sich Nuramon leise.
Da vernahm er ein Wispern in den Baumwipfeln. »Sie ist nicht hier, sie war nicht hier!« Erstaunt wandte er sich um – und sah doch nur die beiden Maulbeerbäume.
»Wir sind es«, drang es aus dem Geäst des größeren Baumes. »Geh zur Feentanne. Sie ist weise«, setzte der kleinere Baum nach. »Aber bevor du gehst, nimm von unseren Früchten!«
»Erzählt man sich denn nicht, dass beseelte Maulbeerbäume für die Sorge um ihre Früchte bekannt seien?«, fragte Nuramon voller Überraschung.
Die Blätter des größeren Baums raschelten. »Das stimmt. Wir sind nicht wie unsere seelenlosen Geschwister. Aber du bist auf dem Weg zu Noroelle.«
Der kleinere Baum schüttelte sich. »Es wäre uns eine Ehre, wenn sie von unseren Beeren kosten würde.«
Zwei Beeren fielen Nuramon direkt in die Hände. Die des kleinen Baumes war dunkelrot, die des großen weiß.
»Ich danke euch sehr, ihr beiden«, sagte Nuramon mit bewegter Stimme und machte sich auf den Weg. Er meinte eine Tanne ganz in der Nähe der Birke gesehen zu haben.
Als er die Feentanne erreichte, erinnerte er sich an sie. Als Kind hatte er im Winter dort mit den Auenfeen gespielt. Sie war weder hoch noch breit, sondern eher unscheinbar zu nennen. Aber sie war von einer Aura umgeben, die keine Kälte duldete. Daran war ein Zauber geknüpft, wie Nuramon ihn selbst beherrschte. Die Tanne besaß Heilkräfte. Er spürte es deutlich.
Ihre Zweige regten sich im Wind. »Wer bist du, dass du mich stören willst?«, raunte es aus ihrem Wipfel.
Ein Rascheln erhob sich rings umher. Überall dort, wo eben noch Stille geherrscht hatte, wurde nun gewispert.
»Wer ist es?«, schienen die Bäume zu fragen.
»Ein Elfling«, lautete die Antwort.
Die Feentanne gebot: »Still! Lasst ihn antworten!«
»Ich bin nur ein einfacher Elf«, sagte Nuramon. »Und ich suche meine Geliebte.«
»Wie ist dein Name, Elfling?«
»Nuramon.«
»Nuramon«, klang es vom Wipfel herab. Auch die anderen Bäume raunten seinen Namen.
»Ich habe von dir gehört«, erklärte die Tanne.
»Von mir?«
»Du wohnst in einem Haus auf einem Baum, auf einer Eiche namens Alaen Aikhwitan. Das Haus ist aus dem Holz, in dem einst die Seele der mächtigen Ceren steckte. Kennst du Alaen Aikhwitan? Und hast du von Ceren gehört?«
»Ceren ist mir nicht bekannt, doch Alaen Aikhwitan kenne ich. Ich spüre seine Anwesenheit, wenn ich zu Hause bin. Seine Magie hält das Haus im Sommer kühl und warm im Winter. Von ihm hatte meine Mutter die Heilkunst erlernt und ich von ihr. Aber er hat sich mir nie offenbart.«
»Er muss sich erst an dich gewöhnen. Du bist noch jung. Seine Boten haben mir von dir erzählt … von deiner Einsamkeit.« Nuramon lagen Fragen über Fragen auf der Zunge, aber die Tanne fragte nun ihrerseits: »Wer ist denn deine Liebste?«
»Ihr Name ist Noroelle.«
Ein heiteres Tuscheln wanderte durch die Baumwipfel rings herum, und Noroelles Name fiel gleich mehrere Male. Doch die Stimmen der Bäume verbanden sich auf eine Weise mit dem Rascheln ihres Blätterwerks, dass er nicht vernehmen konnte, was sie über Noroelle sagten.
Die Feentanne aber konnte er verstehen. »Sie ist nicht hier, sie war heute Nacht nicht hier.«
»Aber die Königin sagte, sie wäre hier in diesem Garten.«
»Die Königin sagt, was gesagt werden muss. Noroelle ist nicht hier, aber sie ist nahe. Geh zur Terrasse, dorthin, wo Linde und Ölbaum nebeneinander stehen!«
Nuramon hätte gern noch nach Ceren gefragt, aber im Augenblick war es wichtiger, Noroelle zu finden. So dankte er dem Baum und machte sich auf den Weg, den die Tanne ihm gewiesen hatte.
Bald sah er Linde und Ölbaum. Sie standen vor der Felswand, die bis hinauf zur Terrasse reichte. Als er näher kam, fand er eine schmale Treppe, die nach oben führte.
An der steinernen Brüstung der Terrasse stand Noroelle in einem weißen Gewand. Sie sah aus wie ein Geist, der aus dem Mondlicht herabgestiegen war. Noch hatte sie ihn nicht erblickt. Er trat unter die Linde. Die Feentanne hatte Recht: Die Königin hatte gesagt, was hatte gesagt werden müssen. Sie hatte ihn mit Bedacht in diese Lage gebracht. Noroelle dort oben, er hier unten! Diese Situation rief geradezu nach einem Gedicht, das aus dem Schatten einer Linde hinauf ins Mondlicht gesprochen wurde.
Da sagte Noroelle etwas. Sprach sie mit dem Mond? Sprach sie in die Nacht hinaus? Schon fühlte er sich fehl am Platze. Er lauschte ihr, ohne dass sie es ahnte. Nun wandte sie sich zur Seite. Sie sprach nicht mit dem Mond oder der Nacht, sondern mit einem Elfen. Einen Lidschlag später sah Nuramon, wem sie sich zugewandt hatte: Es war Farodin.
Nuramon wollte nichts wie fort und taumelte aus dem Schatten der Linde in den des Ölbaums. An den Stamm gelehnt, lauschte er halbherzig den Worten, die dort oben gesprochen wurden. Farodin hatte einen neuen Ton gefunden, und Noroelle schien es zu gefallen. Zum ersten Mal sprach Farodin aus tiefstem Herzen von seiner Liebe.
Dann war es also vorbei …
Zwischen den Ästen hindurch beobachtete Nuramon, wie Noroelle Farodins Zauber im Mondlicht erlag. Nie hatte er sie so glücklich gesehen. Mit einem Kuss verabschiedete sich Farodin und zog sich zurück. Noroelle blieb, wo sie war, und blickte lächelnd in die Nacht hinaus. Und weil Nuramon sie liebte, konnte er nicht anders, als selbst zu lächeln. Es war nicht wichtig, dass Farodin offenbar den Sieg errungen hatte. Seine Liebste lächelte, und das berührte ihn.
Nuramon betrachtete Noroelle eine ganze Weile und sah, wie ihr Lächeln mehr und mehr verging und sich schließlich Trauer auf ihr Gesicht legte. Mit ihrem Lächeln schwand auch seines, und als sie leise seinen Namen in die Nacht hinaussagte, hielt er den Atem an. Farodin brachte sie zum Lächeln, der Gedanke an ihn jedoch bereitete ihr Kummer. Als er sah, wie eine Träne ihr Gesicht hinablief, hielt er es nicht länger aus. Er holte leise Luft und flüsterte: »_O hör mich, holdes Albenkind_.«
Noroelle schreckte auf.
»_Hör die Stimme aus dem Baume!_«
Sie blickte hinab, ihre Blicke trafen sich, und schon lächelte sie wieder.
»_Ich seh dich dort im Abendwind. Wie die Fee aus meinem Traume_.«
Noroelle wischte sich die Träne fort, atmete tief ein und sagte dann leise: »Aber wie kann eine Elfe einer Fee gleichen?«
»Nun«, begann er und fuhr dann rasch fort: »_Dein Kleid ist eine Birkenrinde. Sie strahlt und macht mich liebesblind_.« Er wechselte aus dem Schatten des Ölbaums zurück in den der Linde. »_Glaub der Stimme einer Linde. O hör mich, holdes Albenkind!_«
»Ich höre dich, du Baumgeist. Doch nie zuvor hörte ich einen Baum in Reimen sprechen.«
Er antwortete flüsternd: »Es fiel mir auch schwer, mit der Stimme eines Elfen zu sprechen, um meiner Fee zu gefallen.«
»Mir war so, als hätte ich eben noch einen Ölbaum sprechen hören.«
»Unsere Wurzeln sind verbunden. Wir sind ein Geist in zweierlei Rinde. In uns verbinden sich Liebe und Leben«, entgegnete er.
»Gibt es dort unten nicht genug Birken? Wieso sehnst du dich nach mir?«
»Wie du siehst, stehe ich am Rande des Gartens, den Blick zu dir erhoben. Die Herrin dieses Ortes sagte mir, ich solle den Liebenden beistehen, wenn sie der Liebsten die Worte hinaufsprechen.«
»Ich kenne diesen Garten, und ich weiß, dass du nur lauschen sollst, nicht aber sprechen. Hast du etwa meinetwegen dein Schweigen gebrochen?«
»Jeder muss irgendwann sein Schweigen brechen. Die Unendlichkeit ist lang und weit.«
»Dann liebst du mich?«
»Aber ja.«
Er sah, wie sie einen Ast berührte. »Du bist ein wundervoller Baum. Und deine Blätter sind zart.« Sie zog den Ast zu sich heran und küsste ein Blatt. »Ist das schön, mein Baum?«
»Es ist wie ein Zauber. Und dafür möchte ich dich beschenken.«
»Beschenken? Vielleicht mit einer Olive?«
»Aber nein. Jeder, der dort oben steht, nimmt sich eine Olive, ohne dass ich etwas dagegen habe. Ich möchte dir nichts schenken, was sich jeder von mir nehmen kann. Für meine Liebste muss es etwas Besonderes sein, für sie ist kein Aufwand zu hoch. Du weißt, wie eifersüchtig die beseelten Maulbeerbäume ihre Früchte hüten?«
»Ja. Deshalb ist es klüger, die seelenlosen zu suchen. Denn den anderen musst du gut zureden, damit sie sich von einer Frucht trennen.«
»Nun, genau das habe ich getan. Ich … Ich spürte einen Wind vorüberziehen, hin zu den beiden Maulbeerbäumen, die am anderen Ende des Gartens wurzeln. Da bat ich sie, mir je eine Frucht zu überlassen. Zuerst weigerten sie sich und sagten, ich sei schließlich auch nur ein Baum. Was sollte ich wohl mit den Beeren anfangen? Als sie aber erfuhren, dass ihre Früchte für dich bestimmt sind, da wurden sie mit einem Mal freigebig.«
»Aber wie haben sie dir die Beeren zukommen lassen? Du stehst hier, die anderen aber sind ein ganzes Stück von dir entfernt, wie du sagst.«
»Ach, sie wurden von Baum zu Baum gegeben und dann auf die Wiese gelegt, wohin ich meine Wurzeln ausstreckte und mich den ganzen Tag über abmühte, um das Geschenk für meine Liebste zu erreichen.«
»So hast du die Beeren denn nun?«
»Ja, und ich möchte sie dir geben.«
»Aber wie? Soll ich zu dir kommen? Oder wirst du sie in ein Blatt legen und mir mit einem Aste reichen?«
»Wir Bäume kennen große Zauberkraft. Sieh her!« Nuramon warf die rote Beere so, dass sie auf der Brüstung der Terrasse direkt vor Noroelle landete. Dann warf er die weiße Beere hinterher, die Noroelle geschickt auffing. »Sind sie beide angekommen?«, fragte er.
»Die eine liegt in meiner Hand, die andere vor mir. Sie sind so schön und so frisch!«
Nuramon sah zu, wie sie die Beeren aß. Wie gebannt betrachtete er ihre Lippen.
Nachdem sie die Früchte gekostet hatte, sagte sie: »Das waren die süßesten Beeren, die ich jemals gegessen habe. Aber was soll nun aus uns werden, mein Baumgeist?«
»Willst du nicht zu mir herabkommen und hier Wurzeln schlagen?«
»Ebenso gut könntest du deine Wurzeln lösen und über die Treppe zu mir heraufkommen …«
»Hör mich an, Liebste! Hör meinen Vorschlag! Hier schläft ein Jüngling in meinem Schatten und träumt. Wäre er dir vielleicht genehm?«
»Ja, verbinde dich mit ihm und komm zu mir. Der Geist hinter deiner Stimme in diesem Körper, das wünsche ich mir in dieser Nacht. Komm zu mir, Nuramon!«
Der Elf zögerte. Doch war heute nicht ein Tag der Wunder? Er war zur Elfenjagd berufen worden. Die Königin hatte ihm ihr Orakel verraten. Die Bäume hatten zu ihm gesprochen.
Er fasste sich ein Herz, trat aus dem Schatten der Linde und stieg über die Treppe auf die Terrasse hinauf, wo Noroelle ihn erwartete. Zuerst wollte er Abstand zu ihr halten, so wie er es immer tat, um ihr nicht zu nahe zu kommen. Er wollte sie keinesfalls berühren. Aber sie stand dort so verführerisch wie nie zuvor. Der Nachtwind ließ ihr Kleid und das lange Haar wehen. Sie lächelte still und neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe gehört, was die Königin getan hat. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin.«
»Und du kannst dein Glück nicht vor mir verbergen.«
»Ich habe dir immer gesagt, dass man eines Tages dein wahres Wesen erkennen werde. Ich habe es gewusst. O Nuramon!« Sie zeigte ihm ihre Handflächen und wollte sie ihm entgegenstrecken, verharrte dann aber.
Und Nuramon überwand seine Scheu und fasste ihre Hände.
Noroelle sah hinab, als müsste sie sich vergewissern, dass seine Hände sie tatsächlich berührten. Sie hielt den Atem an.
Er küsste sie zärtlich auf die Wange, und sie atmete seufzend aus. Als seine Lippen sich langsam ihrem Mund näherten, begann sie zu zittern. Und als sich ihre Lippen berührten, spürte Nuramon, wie Noroelles Anspannung sich löste und sie den Kuss erwiderte. Dann schloss sie ihn fest in die Arme und flüsterte ihm ins Ohr: »Im richtigen Augenblick, Nuramon. Und doch so überraschend.« Sie sahen einander lange an, und Nuramon hatte das Gefühl, es wäre nie anders zwischen ihnen gewesen.
Nach einer Weile bat Noroelle: »Erzähl mir, was heute Abend geschehen ist.«
Nuramon berichtete ihr, was sich zugetragen hatte, und vergaß auch nicht das versteckte Kompliment der Königin an sie. Die Verbindung zu Gaomee und der Orakelspruch schienen Noroelle besonders zu berühren. Nuramon endete mit den Worten: »Ich fühle die Veränderung. Die Königin hat ein Feuer entfacht, das nun brennen muss. Ich bin noch derselbe wie zuvor, aber ich kann endlich handeln.«
»Kannst du mich deswegen erst jetzt berühren?«
»Zuvor hatte ich Angst. Und wenn ich Angst habe, dann tue ich törichte Dinge. Ich hatte Angst, dass du mich zurückweisen könntest; ich hatte Angst, dass du mich wählen könntest. Es war ein Zwiespalt.«
»Du und Farodin, ihr seid eigenartig. Heute am See sah es noch so aus, als würdest du dich mir niemals nähern und als würde Farodin mir niemals auch nur einen Hauch seines Innersten offenbaren. Heute Nacht aber habt ihr euch beide verwandelt.«
»Nur war Farodin schneller als ich.«
»Das wäre nicht gerecht, Nuramon … Bloß weil er zuerst den Weg zu mir fand? Soll ich dich dafür bestrafen, dass die Königin bei dir war? Nein! Eine Nacht ist für mich nur ein Augenblick, und da ihr beide in dieser Nacht zu mir kamt, kamt ihr im gleichen Augenblick. Du betrachtest die Zeit als zu knappes Gut, Nuramon.«
»Ist das verwunderlich? Wenn ich den Weg meiner Vorfahren gehe, dann ist jeder Augenblick, der mir bleibt, kostbar.«
»Du wirst diesen Weg nicht gehen. Du wirst lange leben und ins Mondlicht gehen.«
Nuramon schaute auf zum Mond. »Es ist so eigenartig, dass etwas, das ich so sehr liebe wie den Mond, sich meiner Seele seit so langer Zeit entzieht.« Er schwieg und dachte an all die Geschichten, die er über den Mond gehört hatte. Seine Großmutter hatte ihm vom Mond in den Menschenreichen erzählt. »Wusstest du, dass in Mandreds Welt der Mond seine Form verändert?«
»Nein, davon habe ich noch nie gehört.«
»Er ist viel kleiner als unser Mond. Und wie die Tage vergehen, nimmt er ab, verwandelt sich Nacht für Nacht immer weiter in eine Sichel, bis er ganz verschwunden ist. Dann wächst er allmählich wieder zu seiner vollen Größe heran.«
»Das klingt wie ein Zauber. Ich weiß nicht viel über die Andere Welt. Ich habe einige Sprachen von meinen Eltern gelernt. Aber im Grunde weiß ich nichts über die Welt der Menschen. Welche Magie dort wohl wirkt? Können Elfen auch in das Mondlicht der Menschenreiche gehen? Was geschieht, wenn sie dort sterben?«
»Das sind Fragen, die nur die Weisen beantworten können.«
»Aber was glaubst du, Nuramon?«
»Ich glaube, dass die Magie, die dort wirkt, mit unserer verwandt ist. Ich glaube, dass ein Elf ins Mondlicht der Menschen gehen kann. Nur ist der Mond dort weiter entfernt. Es ist eine viel längere Reise. Und wenn ein Elf in den Menschenreichen stirbt, dann ist es nicht anders, als wenn ein Elf hier sein Leben verlöre. Denn der Tod unterscheidet nicht zwischen den Gefilden.« Er musterte sie und sah einen Hauch von Sorge in ihren Zügen. »Du hast Angst um unser Leben.«
»Die Elfenjagd zieht es selten hinaus in die Menschenreiche. Erinnerst du dich, ob dort je ein Elf starb und dann hier wiedergeboren wurde?«
»Es heißt, einer meiner Ahnen wäre jenseits unserer Welt gestorben. Und siehe! Ich bin hier.«
Sie lachte, strich ihm über die Wange und sah ihn dann wie gebannt an. »Dein Gesicht ist einzigartig.«
»Und deines ist …«
Sie fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen. »Nein, du hast mir jahrelang diese Worte zugesprochen. Nun heißt es für dich: _O schweig, du schönes Albenkind!_« Sie löste die Finger von seinem Mund, und er schwieg.
Sanft strich sie ihm durchs Haar. »Du hast immer gedacht, die Frauen hier würden nur über dich spotten. Und gewiss tun sie das auch gern. Über deinen Namen, über dein Schicksal … Das tun sie, weil man dich immer verspottet hat. Aber auch ihnen ist deine besondere Erscheinung nicht entgangen. Du würdest nicht glauben, was ich hinter vorgehaltener Hand alles gehört, welche geflüsterten Wünsche ich vernommen habe.« Nuramon wollte etwas sagen, doch Noroelle legte ihm wiederum die Fingerspitzen auf den Mund. »Nein. Du musst jetzt schweigen, wie die beiden Bäume dort unten.« Sie zog die Hand zurück. »Du bist viel mehr als das, was diese Frauen heimlich in dir sehen. Das Orakel hat Recht. _Alles, was du bist, das ist in dir!_ Und alles, was in dir ist, das liebe ich, Nuramon.« Sie küsste ihn.
Als sie die Lippen von seinen löste und ihn anschaute, setzte er vorsichtig zum Sprechen an. »Alles hat sich verändert. Ich kann kaum glauben, mit dir hier zu sein, diese Zärtlichkeiten auszutauschen und diese Worte. Was ist geschehen?« Er schaute sich um, als könnte er hier auf der Terrasse oder in der Tiefe der Nacht die Antwort finden.
»Es ist etwas, das weder du noch ich oder Farodin hätten leisten können, sondern nur die Königin. Dir steht jetzt die Welt offen.«
»Es ist nicht die _Welt_, nach der ich mich sehne.«
Sie nickte. »Nachdem ihr zurückgekehrt seid, werde ich mich entscheiden. Denn ihr habt alles getan, was ihr tun konntet. Nun ist es an mir … Ich gestehe, ich hatte gehofft, ihr könntet mich noch viele Jahre umwerben, aber das war wohl ein Traum. Ich muss einen von euch wählen. Welch ein Verlust, ganz gleich, wen von euch ich zurückweisen muss! Aber welch ein Gewinn für eine andere Elfe!«
Sie sahen einander schweigend an. Nuramon wusste, wie sehr ihn eine Zurückweisung schmerzen würde. Für ihn gab es keine andere Elfe; keine, für die er solche Liebe verspüren konnte. Er küsste noch einmal ihre Hände, strich ihr über die Wange und bat dann: »Lass uns nicht jetzt daran denken. Denken wir daran, wenn Farodin und ich wieder zurückkehren.«
Sie nickte.
»Wirst du morgen zugegen sein, oder wird dies hier unser Abschied sein?«
»Ich werde da sein«, sagte sie leise.
»Dann freue ich mich auf morgen. Welche Farbe wird dein Kleid haben?«
»Grün. Obilee hat es gemacht.« Sie strich sich gedankenverloren eine Strähne aus dem Gesicht. Nuramon mochte diese unbewusste Geste an ihr; sie nahm das Haar zwischen Ringfinger und kleinen Finger, wenn sie es zurückstrich.
»Dann ist das Kleid gewiss wunderschön.«
»Ich bin gespannt, was die Königin dir bringen lässt. Was es auch ist, es wird kostbarer sein als alles, was dir irgendwer sonst hätte schenken können.«
»Schenken? Ich werde es für die Elfenjagd annehmen. Aber wenn wir zurückkehren, werde ich es ihr wiedergeben.«
Noroelle musste lachen. »Nein, Nuramon. Die Königin ist freigebig. Sie wird es nicht zurücknehmen.«
Er küsste sie auf die Stirn. »Ich werde jetzt gehen, Noroelle.«
»Vielleicht kann sich doch noch einer deiner Verwandten dazu durchringen, dich in deiner Kammer aufzusuchen.«
»Nein, daran glaube ich nicht.« Er fasste ihre Hände und sagte: »Aber wer weiß.« Er schaute zu den Sternen hinauf. »Heute Nacht scheint alles möglich zu sein.« Er ließ von ihr ab. »Gute Nacht, Noroelle.«
Sie küsste ihn zum Abschied.
Nuramon verließ die Terrasse und blickte, als er an der Tür zum Festsaal angekommen war, noch einmal zu Noroelle zurück. Sie war einfach vollkommen. Nie und nirgends zuvor hatte er es so klar sehen können wie in diesem Augenblick.
Als er den Gang erreichte, von dem die Kammern der Elfenjäger abgingen, stellte er fest, dass nun alle Türen geschlossen waren. Die Besucher, die erwartet worden waren, hatten ihre Aufwartung gemacht, mit weiteren schien keiner zu rechnen. Das Stimmengewirr bezeugte, dass es viele waren, die den Weg zu den anderen gefunden hatten.
Vor seiner eigenen Tür blieb er stehen und lauschte. Es war still. Er hoffte so sehr, dass wenigstens einer seiner Verwandten über seinen Schatten gesprungen war und dort auf ihn wartete. Nuramon öffnete die Tür und schaute hinein. Tatsächlich, neben dem Bett stand eine reglose Gestalt und wandte ihm den Rücken zu. Seine Freude währte nur einen Herzschlag lang. In seiner Abwesenheit hatte man einen Rüstungsständer gebracht, und er hatte ihn im schwachen Licht der Barinsteine für einen Elfen gehalten, so sehr hatte er sich Besuch gewünscht.
Enttäuscht schloss er die Tür hinter sich. Er trat an den Rüstungsständer heran und betrachtete die Geschenke der Königin. Es waren ein Mantel, eine Rüstung und ein Kurzschwert.
Nuramon nahm den weinroten Mantel vom Ständer und wog ihn in den Händen. Er war schwer und aus Wolle und Leinen gefertigt; so geschickt war er gearbeitet und mit Zauberfäden verwoben, dass kein Windzug und kein Tropfen Wasser den Weg hindurchfinden würde. Er würde ihn vor Hitze wie auch vor Kälte schützen.
Noroelle besaß einen solchen Mantel. Sie hatte ihn aus Alvemer mitgebracht. Die Königin hatte ihn gewiss nicht unbedacht zur Verfügung gestellt. Ein Stück aus Alvemer war ein Stück aus Noroelles Heimat. Wenn er im Winter der Menschenwelt durch die Kälte ritt, würde er es warm haben.
Er faltete den Mantel und legte ihn auf die steinerne Bank. Neugierig betrachtete er die Rüstung. Es war der Harnisch eines Drachentöters. Diese Panzer waren berühmt dafür, zäh und anschmiegsam zugleich zu sein. Es erforderte eine besondere Kunstfertigkeit, eine solche Rüstung zu fertigen. Sie war aus zahlreichen Stücken Drachenhaut zusammengesetzt und schützte Rumpf und Arme. Der Rüstungsmacher war ein Meister seines Handwerks gewesen. Jedes Fragment Drachenhaut hatte er in zahlreiche dünne Lagen gespalten, dann bearbeitet und nach seinem Willen neu zusammengefügt. Zwischen den einzelnen Lagen hatte er etwas Tropfenförmiges eingelassen. Wahrscheinlich handelte es sich um zurechtgeschnittene Drachenschuppen. Was es wirklich war, blieb wohl das Geheimnis des Rüstungsmachers. Das Leder roch angenehm. Der Gestank der Drachen war bei der Behandlung der Haut vergangen und einem milden Geruch nach Wald gewichen.
Nur in Olvedes wurden noch Drachenrüstungen hergestellt, denn allein dort stellten die Feuer speienden Ungeheuer noch eine Gefahr dar. Die Rüstungsmacher von Olvedes waren berühmt, sie pflegten ihr Symbol auf ihren Werken zu hinterlassen. Nuramon löste das Wehrgehänge und nahm die Rüstung vom Ständer. Auf ihrer Innenseite suchte er nach dem Zeichen des Meisters, der dieses Prachtstück gefertigt hatte. Er fand es am Bruststück versteckt. Eine Sonne war dort abgebildet. Darunter stand in kleinen Lettern: Xeldaric.
Nuramon war gerührt. Xeldaric galt als einer der besten Rüstungsmacher, die es je gegeben hatte. Er war ins Mondlicht gegangen, nachdem er für die Königin sein Lebenswerk geschaffen hatte: eine vollständige Albenrüstung. Nuramon war noch ein Kind gewesen, als er von dieser Rüstung gehört hatte. Xeldaric war im Thronsaal der Burg ins Mondlicht gegangen, nachdem die Königin das Werk entgegengenommen hatte.
Eine Rüstung aus den Händen Xeldarics zu tragen war eine große Ehre. Und selbst wer sich nicht die Mühe machte, nach dem Zeichen des Meisters zu suchen, konnte erkennen, dass dieser Harnisch eine wahrhaft fürstliche Gabe war. Auch wenn ihr auf den ersten Blick die Gleichförmigkeit eines Plattenpanzers fehlte, war jedes Teilstück der Rüstung am rechten Platz und erzählte die Geschichte der Drachenjagd. Die grüne Haut der Drachen aus Olvedes war ebenso eingearbeitet wie das braune Leder der Drachen aus den Wäldern von Galvelun bis hin zu den roten Sonnendrachen von Ischemon. Zusammengenommen bildeten die Fragmente ein Mosaik aus Waldfarben, die fließend ineinander übergingen.
Nuramon hängte die Rüstung wieder auf den Ständer. Nun griff er nach dem Schwertgurt, den er auf das Bett gelegt hatte. Er fand ein Schwert in einer schlichten Lederscheide. Der Wiegenknauf und die Parierstange waren aus Gold und aufwändig verziert, der Griff war aus Perlmutt- und Kupferstreifen gefertigt. Nuramon zog die Waffe aus der Scheide und hielt den Atem an. Die Klinge war aus Sternenglanz geschmiedet, einem Metall, das nur auf den höchsten Gipfeln zu finden war. Diese Waffe war ein ebenso großes Meisterwerk wie die Rüstung. In der Mitte der breiten Parierstange befanden sich verschlungene Runen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Nuramon, was dort stand: Gaomee! Er hielt das Schwert der Gaomee in Händen! Mit dieser Waffe hatte sie Duanoc besiegt. Und jetzt sollte er sie führen …