Das Gesicht des Feindes

Nuramon schrie auf und verschwand in der Dunkelheit. Bevor Farodin zurückspringen konnte, zerriss der Weg unter ihm in Spiralen wirbelnden Lichts. Er hatte das Gefühl zu fallen. Die Pferde wieherten in Panik. Yulivee schrie. Plötzlich wich die Dunkelheit zurück wie ein Vorhang, der den Blick auf ein neues Bühnenbild freigibt.

Farodin stand in einem hohen Raum. Um ihn waren seine Gefährten versammelt. Murmeln und Rufe erklangen. Der Elf blickte auf. Sie befanden sich im Innern eines großen Turmes. Entlang der Wände verliefen Galerien, auf denen dicht gedrängt Menschen standen.

Ein dicker Mann in fließenden weißen Gewändern kam vorsichtig auf Farodin zu. Er hielt einen Anhänger mit einer goldenen Kugel hoch. Schweiß rann in dicken Perlen von seiner Stirn. Der Priester blinzelte nervös. »Weiche von uns, Dämonenbrut!«, rief er mit zittriger Stimme. »Dies ist das Haus Tjureds, er wird euch mit seinem Zorn verbrennen!«

Farodin hielt seinen Hengst am Zügel. Das große Tier keilte aus und versuchte dann den Priester zu beißen. »Ruhig, mein Schöner«, flüsterte der Elf. »Ruhig.« Farodin hatte keine Ahnung, was sie vom Albenpfad abgebracht und hierher verschlagen hatte. Er wollte keinen Ärger. Er wollte nur hier heraus. Schnell sah er sich um. Der Kirchenbau war von innen weiß verputzt. Über einem Altarstein hing ein Banner mit einem schwarzen toten Baum auf weißem Grund. Farodin erinnerte sich, dieses Wappen schon bei den Ordensrittern, die Iskendria erobert hatten, gesehen zu haben.

»Wie hat dieser jämmerliche Fettsack es geschafft, uns von dem Albenpfad herunterzureißen?«, fragte Mandred auf Fjordländisch. »Ist er ein Magier?« Er deutete in Richtung des Priesters. Nun sprach er in der Zunge von Fargon, und das so laut, dass ihn gewiss jeder im Tempel verstehen konnte. »Geh mir aus dem Weg, Dickwanst, oder ich lege dir deinen Kopf vor die Füße!«

Der Priester wich ängstlich zurück. »Helft mir, meine Brüder und Schwestern! Vernichtet dieses Dämonengezücht!« Er schlug ein Zeichen über seiner Brust und begann zu singen: »_Kein Arg kann mich berühren, denn ich bin Tjureds Kind. Keinen Kummer werd ich spüren_ …«

Die anderen Gläubigen fielen in den Gesang ein. Auf den Galerien gab es Bewegung. Farodin hörte Schritte auf verborgenen Treppen. »Raus hier!«, rief der Elf. Er stieß den Priester zur Seite und hielt auf das Portal zu, das offensichtlich der Ausgang des Tempels war. Über den beiden Flügeltüren hing ein großes, auf Holz gemaltes Heiligenbild. Es war stümperhaft ausgeführt wie die meisten Arbeiten der Menschen. Die Augen waren viel zu groß, die Nase wirkte unecht, und doch haftete dem Bild etwas Vertrautes an.

Neben Farodin schlug klirrend ein Messer auf den steinernen Boden. »Bringt sie um!«, rief eine sich überschlagende Männerstimme. »Es sind Dämonenkinder! Sie haben einst den heiligen Guillaume ermordet, der gekommen war, uns alle zu erlösen!«

Ein wahrer Hagel von Geschossen prasselte nun von den Galerien: Mützen, schwere Geldbeutel, Messer, Schuhe. Eine hölzerne Bank verfehlte Yulivee nur knapp. Farodin hob schützend die Arme über den Kopf und rannte auf den Eingang zu. Mandred hielt sich dicht an seiner Seite. Vor dem Tempeltor öffneten sich rechts und links zwei kleine Türen. Von hier aus mussten wohl Treppen hinauf auf die Galerien führen. Ein stattlicher Mann kam aus der linken Tür. Mandred streckte ihn mit einem einzigen Fausthieb nieder.

Farodin stieß das Tempeltor auf. Eine breite Treppe führte hinab auf einen gepflasterten Marktplatz. Nuramon hatte Yulivee auf den Arm genommen und drängte ins Freie. Hoch über ihnen erklang Glockengeläut. Mandred hielt seine Axt drohend erhoben. Rückwärts ging er neben Farodin, der die Pferde führte, über die Treppe auf den Platz. Niemand wagte es, in die Nähe des rothaarigen Hünen zu kommen. Aus dem Tempel drang vielstimmiges Geschrei.

Die Gefährten sprangen auf die Pferde. Nuramon deutete auf die breiteste Straße, die vom Marktplatz fortführte. »Da entlang!«

In halsbrecherischem Tempo trieben sie die Pferde über das Pflaster. Hohe, bunt bemalte Fachwerkhäuser säumten ihren Weg. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Offenbar hatte sich die ganze Stadt im Tempel versammelt. Farodin blickte zurück. Erste Verfolger hatten sich auf den Marktplatz gewagt. Mit drohend erhobenen Fäusten schrien sie ihnen ihre Flüche hinterher. Vor dem riesigen Tjuredtempel wirkten sie lächerlich klein. Wie ein massiger, runder Turm ragte er hinter ihnen auf. Auch von außen hatte man ihn ganz mit weißer Farbe getüncht. Sein Kuppeldach glänzte hell in der Sonne, so als wäre es mit Platten aus lauterem Gold beschlagen.

»Dort entlang!«, rief Mandred. Er hatte die Stute gezügelt und deutete in eine Seitengasse, an deren Ende man ein Stadttor sehen konnte.

»Im Schritt«, befahl Nuramon. »Wenn wir wie von Wölfen gehetzt auf das Tor zupreschen, dann schließen sie es am Ende noch.«

Farodin hatte Mühe, seinen unruhigen Hengst unter Kontrolle zu halten. Nuramon, der Yulivee vor sich im Sattel hatte, ritt voran. Hinter ihnen kam das Geschrei der aufgebrachten Tempelbesucher nur langsam näher. Keiner der unbewaffneten Bürger schien sie wirklich einholen zu wollen.

Ein Mann in weißem Waffenrock stellte sich breitbeinig in das Tor. »Wer seid ihr?«, rief er sie schon von weitem an.

Farodin bemerkte hinter den Schießscharten des Torturms eine Bewegung. Vermutlich Armbrustschützen. Ein paar Schritt noch, und sie wären im toten Winkel für die Schützen. Doch sobald sie das Tor hinter sich ließen, könnte man ihnen in den Rücken schießen. Sie durften sich nicht einfach durchschlagen, auch wenn es ein Leichtes gewesen wäre, den einzelnen Wächter niederzureiten. Sie mussten die Torwachen täuschen!

»Drüben beim Tempel hat es einen Aufruhr gegeben«, rief er dem Wächter zu. »Dort brauchen sie jeden Krieger!«

»Einen Aufruhr?«, fragte der Mann misstrauisch. »Das hat es noch nie gegeben.«

»Glaub mir! Dämonenkinder sind plötzlich in den Tempel eingedrungen. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Hörst du nicht das Geschrei? Sie setzen den Gläubigen nach und treiben sie wie Vieh durch die Straßen!«

Der Krieger blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ein Trupp Gläubiger am Ende der Gasse erschien. Sie hatten sich mit Knüppeln und Heuforken bewaffnet. »Da kommen sie«, sagte Farodin ernst. »Sie alle sind besessen, fürchte ich.«

Der Wachmann griff nach seiner Hellebarde, die neben dem Tor lehnte. »Alarm!«, schrie er aus Leibeskräften und winkte den Männern, die verborgen hinter den Schießscharten standen. »Ein Aufstand!«

»Rette deine Seele«, rief Farodin. Dann gab er seinen Gefährten ein Zeichen, und sie preschten durch das Stadttor davon. Niemand sandte ihnen einen Bolzen hinterher.

Sie flohen eine staubige Straße entlang, die zwischen goldenen Kornfeldern verlief. Im Westen stieg das Land in sanften Hügeln an. Dort gab es breite Waldstreifen zwischen grünen Weiden.

Nach etwas mehr als einer Meile verließen sie die Straße und ritten querfeldein. Eine Schafherde stob blökend vor den donnernden Hufen der Pferde auseinander. Endlich erreichten sie einen Wald. Im Schutz des Dickichts verharrten sie.

Farodin blickte zurück zur Stadt. Ein kleiner Trupp Reiter war auf der Straße zu sehen. Bis zum ersten Wegkreuz ritten sie miteinander, dann trennten sie sich und stoben in alle Himmelsrichtungen davon.

»Boten«, brummte Mandred. »Bald wird jeder Ordensritter im Umkreis von hundert Meilen wissen, dass in diesem verdammten Tempel Dämonenkinder erschienen sind.« Er wandte sich an Nuramon. »Was, bei der Schlachtaxt Norgrimms, ist eigentlich geschehen? Warum waren wir plötzlich mitten in diesem Tempel?«

Der Elf breitete hilflos die Arme aus. »Ich kann mir das nicht erklären. Wir hätten in einen Albenstern treten sollen, um von dort einen anderen Pfad zu nehmen. Es war so, als hätte man mir den Boden unten den Füßen weggezogen. Ich konnte fühlen, dass in dem Albenstern alle Pfade wie abgestorben waren.«

»Abgestorbene Pfade?«, fragte Mandred. »Was ist das für ein Unsinn?«

»Die Magie ist lebendig, Menschensohn«, mischte sich Farodin ein. »Du spürst die Pfade pulsieren, als wären sie die Adern dieser Welt.«

»War es vielleicht das komische Haus, das die Menschen gebaut haben?«, fragte Yulivee schüchtern. »Es war unheimlich, auch wenn es ganz weiß war. Da war etwas, das zerrte an mir … In mir … Etwas wollte mir meine Magie wegnehmen. Vielleicht war es dieser tote Baum oder der Mann mit den großen Augen.«

»Ja, der Mann auf dem Bild.« Nuramon drehte sich im Sattel um und blickte zu Farodin. »Ist dir etwas an dem Bild aufgefallen?«

»Nein, außer vielleicht, dass es nicht gerade ein bemerkenswertes Kunstwerk war.«

»Ich fand, der Mann sah aus wie Guillaume«, sagte Nuramon entschieden.

Farodin schnitt eine Grimasse. Das war albern! Warum sollte jemand ein Bild von Guillaume in einem Tempel verwahren?

»Du hast Recht«, stimmte Mandred zu. »Jetzt, wo du es sagst! Der Kerl sah wirklich aus wie Guillaume.«

»Wer ist Guillaume?«, fragte Yulivee.

Nuramon erzählte ihr vom Devanthar, während sie langsam tiefer in den Wald ritten.

»Guillaume war also ein Mensch, der einem die Magie wegnehmen konnte, wenn er zauberte?«, fragte Yulivee, nachdem Nuramon geendet hatte.

»Kein Mensch«, berichtigte sie Farodin. »Er war zur Hälfte ein Elf und zur Hälfte ein Devanthar. Menschen beherrschen keine …« Er hielt inne. Nein, das stimmte nicht mehr! So war es gewesen, so lange er denken konnte, doch die Ereignisse in Iskendria hatten bewiesen, dass zumindest die Mönche des Tjuredkultes zaubern konnten.

»Ohne Magie wären die bösen Ritter doch nicht nach Valemas gekommen«, sagte Yulivee traurig. »In dem Tempel hat es sich so angefühlt, als wollte mir jemand meine Magie wegnehmen. Wohnt vielleicht Guillaumes Geist in dem Bild?«

»Guillaume war nicht böse«, beschwichtigte Nuramon sie. »Da gab es bestimmt keinen Geist.«

»Aber etwas wollte mir meine Magie stehlen«, beharrte die Kleine.

»Vielleicht ist es der Ort«, wandte Mandred ein. »Der Tempel selbst. Er stand doch genau über dem Albenstern, wenn ich dich richtig verstanden habe, Nuramon.«

»Das kann auch Zufall gewesen sein. Menschen errichten ihre heiligen Stätten gern dort, wo sich die Pfade der Alben kreuzen.«

Farodin rann ein eisiger Schauer über den Rücken. »Was ist, wenn sie die Albensterne bewusst vernichten? Sie trennen diese Welt damit von Albenmark. Sie hassen uns und nennen uns Dämonenkinder. Wäre es da nicht folgerichtig, wenn sie danach trachteten, alle Tore nach Albenmark zu verschließen? Überlegt doch … Sie haben die Tore in die Zerbrochene Welt durchstoßen und vernichten die Enklaven dort. Und die Tore nach Albenmark verschließen sie. Erkennt ihr nicht den Plan, der dahinter steht? Sie trennen die Welten voneinander. Und sie vernichten alle, die nicht Tjured folgen.«

Nuramon hob die Brauen und lächelte. »Ich muss mich schon sehr über dich wundern, Farodin. Wie kommt es, dass ausgerechnet du den Menschen auf einmal so viel zutraust? Du verachtest sie doch sonst.«

Mandred räusperte sich.

»Nicht alle, zugegeben«, schränkte Nuramon ein. »Aber noch etwas spricht gegen dich, Farodin. Jemand zieht neue Albenpfade und erschafft neue Sterne. Das passt nicht zu deinen Überlegungen.«

Die Worte klangen einleuchtend. Nur zu sehr wünschte sich Farodin, dass Nuramon Recht hatte! Und doch wollte der Zweifel nicht weichen. »Du kennst die Gegend hier?«

Nuramon nickte.

»Dann führe uns zum nächstgelegenen größeren Albenstern. Lasst uns sehen, ob auch dort ein Tempel steht.«

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