Mandred lauschte dem Lied der Nachtigallen. Die kleinen Vögel saßen hoch über ihm im Geäst der beiden Linden. Eine leichte Brise ließ die Blätter rascheln. Neben sich hörte Mandred das Plätschern einer Quelle. Nuramon hatte Recht. Dies war der zauberhafteste Ort von Albenmark.
Sein Freund hatte ein Lagerfeuer entzündet und ihn in die Pferdedecken eingewickelt. Dennoch kroch die Kälte immer tiefer in seine Knochen, so wie damals, als er auf das Hartungskliff gestiegen war, um Firnstayn vor dem Manneber zu warnen. Ob wohl alles anders gekommen wäre, wenn er das Signalfeuer hätte entzünden können?
Nuramon hatte einen Boten zur Shalyn Falah geschickt und einen weiteren zur Königin. Mandred hatte sehen können, wie sich der Himmel verdunkelte. Der erste Zauber war also geglückt. Sein Volk war gerettet. Albenmark würde weiter bestehen. Seine Fjordländer würden sich eine raue, stürmische Küste suchen. Einen Ort, an dem es ein wenig so war wie in ihrer verlorenen Heimat. Fast die ganze Nacht vor der Schlacht hatte er im Zelt von Königin Gishild verbracht. Er hatte mit ihr gesprochen und versucht, den Traum von einem neuen Firnstayn an sie weiterzugeben. Er glaubte an ihre Kraft. Sie würde ihrem Volk eine gute Anführerin sein.
Mandred wandte den Kopf ein wenig zur Seite und beobachtete seinen Freund. Nuramon legte gerade einen Scheit Holz auf dem Feuer nach. Leuchtende Funken stiegen zum Nachthimmel auf. Die Flammen vertieften die Schatten in Nuramons Gesicht. Mandred musste lächeln. Sein Gefährte hatte ihm tatsächlich geglaubt, dass er die letzte Nacht mit zwei jungen, hübschen Fjordländerinnen verbracht hatte.
Nuramon blickte auf. Seine Augen leuchteten, als er das Lächeln bemerkte. »Woran denkst du?«
»An die beiden Frauen von letzter Nacht.«
Der Elf seufzte. »Ich glaube, ich werde euch Menschen niemals verstehen.«
Fast tat Mandred der Scherz Leid. Einen Augenblick lang war er versucht, dem Elfen die Wahrheit zu sagen. »Es tut mir Leid, dass ich euch bei eurer letzten Reise nun nicht begleiten kann.« Der Jarl spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern. Er spürte keine Schmerzen. Seine Beine waren wie tot, er konnte sie nicht mehr bewegen. Und seine Fingerspitzen prickelten. »Sag keinem, dass es so eine kleine Bleikugel war, die mich umgebracht hat. Das ist kein Tod für einen Helden vom alten Schlag …«
»Du wirst noch nicht sterben!«, begehrte Nuramon auf. »Ich habe einen Boten zur Königin geschickt. Sie wird dich heilen können. Wir werden zusammen reisen. So wie wir es …« Er stockte. »So wie wir es fast immer getan haben.«
»Sei nicht zu streng mit Farodin. Er ist ein sturer Dickkopf, ja … Aber auch ein Freund, der ganz allein eine Trollburg angreifen würde, um dich …« Mandred seufzte. Das Reden schwächte ihn. »Wo ist meine Axt?«
Nuramon ging zu den Pferden und kam mit der Waffe zurück. Im Licht der Flammen leuchtete das Axtblatt golden. »Gib sie Beorn …« Mandred fielen die Augen zu. Er tauchte in die Finsternis. Ein Reiter kam auf ihn zu. Er hörte den Hufschlag, auch wenn es zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Gar nichts konnte er sehen. Er hob die Hand. Nicht einmal sie war da. Der Boden erzitterte unter dem Hufschlag. Der Reiter musste jetzt ganz nahe sein, und noch immer konnte er ihn nicht sehen. Erschrocken schlug der Jarl die Augen auf. Neben ihm kniete Farodin. Der Elf wirkte gehetzt.
Farodin hielt seine Hand. »Ich hatte schon befürchtet, dass du gegangen wärst, mein Waffenbruder. Halte aus! Die Königin wird kommen.« Dem blonden Elfen standen Tränen in den Augen. Nie zuvor hatte er Farodin weinen sehen. »Deine neue Frisur steht dir gut, Krieger. Du siehst gefährlicher aus mit der Glatze.«
Mandred lächelte schwach. Er hätte den beiden gern etwas gegeben. Etwas zur Erinnerung. Aber er besaß nichts von Wert außer seiner Axt.
»Es war gut, mit euch geritten zu sein«, flüsterte er. »Ihr habt mein Leben reich gemacht.«
Wieder war undurchdringliche Dunkelheit um ihn herum. Mandred dachte an die goldenen Hallen der Götter. Hatte er sich einen Platz an der Seite der großen Helden verdient? Dort würde er Alfadas begegnen … Es wäre gut, mit ihm Fliegenfischen zu gehen. Er hatte es dem Jungen nie richtig beibringen können. Ob es ein Land jenseits der Halle gab? Ein Land wie das Fjordland, mit schroffen Bergen und Fjorden voller Fische?
Er musste mit Luth reden! Kein Methorn mehr anzurühren konnte nicht auch in der Halle der Helden gelten!
Plötzlich verging die Kälte. Er stand in knietiefem, klarem Wasser. Silberne Salme zogen langsam über dem steinigen Grund dahin und schwammen gegen die Strömung flussaufwärts.
»Bist du endlich gekommen, alter Mann!«
Mandred blickte auf. Unter einer Eiche am Ufer stand Alfadas. Mit einem lockeren Schwung aus dem Handgelenk ließ er die Schnur von seiner Angel schnellen.
Nicht schlecht für einen Anfänger, dachte Mandred. Nicht schlecht.
Buch 98:
Vom Ende Albenmarks
Der weise Krieger Erilgar träumte eines Nachts von Tjureds Worten. Und diese geboten ihm, einen großen Angriff anzuführen. So stellte er gewaltige Heerscharen auf und führte sie gegen die Feinde. Doch siehe! Da standen sie nun, die Dämonenheere von Albenmark, und die Gläubigen Tjureds waren in der Unterzahl. Doch weil der Glaube in ihnen stark war, kämpften sie tapfer. Aber die Albenkinder sind seit jeher heimtückisch gewesen. Sie zauberten und ließen Steine vom Himmel regnen. Sie verhexten die Pferde der Gläubigen, auf dass sie sich vor den Feinden fürchteten. Und sie ließen ihre Toten auferstehen, damit sie nimmermehr besiegt würden. Und trotz alledem blieben die Gläubigen unter der Führung Erilgars stark.
Nun geschah es, dass Erilgar in Bedrängnis geriet, ihm Tjureds Antlitz erschien und der Heerführer an den göttlichen Lippen ablesen konnte, was zu tun war. So sprach er ein Gebet, rief seine Boten zu sich und befahl den Rückzug. Diesem Befehl widersetzten sich viele. Doch Erilgar sprach: »Hat mir Tjured nicht die Macht verliehen? Hat er mich im Gefüge nicht über euch gestellt?« Und doch glaubten viele, sie wären Tjured näher als Erilgar. So geschah, was geschehen musste.
Die Gläubigen hatten sich zurückgezogen, die Ungläubigen blieben und kämpften gegen die Albenkinder und die Verräter aus dem Fjordland. Und so begab es sich, dass an jenem Tage Tjured selbst vom Himmel herabkam und die ewige Finsternis über die Albenkinder legte. Ihr Land verschwand in einem dichten Nebel. Nur der Boden, auf dem die Gläubigen mit ihren Füßen standen, blieb zurück. Und nie wieder ward ein Albenkind gesehen, denn in der ewigen Finsternis erwarteten sie die Alben, die alten Dämonen. Und sie quälen ihre Kinder noch heute.