Die kleine Elfe

Nuramon saß in seinem Zimmer über dem Buch, das ihm der Dschinn gegeben hatte, und betrachtete die Krone des Maharadschas, die in leuchtenden Farben auf das Pergament gemalt war. Welch ein Meisterwerk! Es war kaum zu glauben, dass ein Mensch dieses riesige Gebilde auf dem Kopf tragen konnte. Die Krone wirkte fast wie eine goldene Festung, die mit Edelsteinen übersät war. Der große Feueropal bildete das Zentrum, um das sich all die anderen Steine sammelten.

Mit der Abbildung hatte er eine wichtige Spur gefunden und war gespannt, was seine beiden Gefährten dazu sagen würden. Mit einem Mal hörte er ein Geräusch. Es klang wie ein Schluchzen. Er schlug das Buch zu und schritt zur Tür. Da weinte jemand! Vorsichtig öffnete er die Tür und trat nach draußen. Das kleine Mädchen saß gegen die Wand gelehnt da und weinte. Neben ihr lagen ein Beutel und drei Bücher.

»Was ist geschehen?«, fragte Nuramon und ging vor der Kleinen in die Hocke.

»Das weißt du doch genau!«, entgegnete die Elfe mit bebenden Lippen. Sie wandte den Blick ab und starrte zu Boden.

Nuramon setzte sich neben sie. Er wartete einen Moment, bis er sprach. »Der Dschinn hat dir alles erzählt.«

Die Kleine schwieg.

»Schau mich doch an!«, sagte er leise.

Sie blickte ihm ins Gesicht. Ihre braunen Augen funkelten.

»Du weißt nun, woher du kommst.«

»Ja … Der Dschinn hat mir gesagt, wo ich geboren wurde, wer meine Eltern waren und was mit Valemas geschah.«

»Hat er dir nie zuvor etwas erzählt? Nichts?«

»Er sagte immer, ich stammte von einer angesehenen Familie ab, und eines Tages würden mich meine Geschwister holen und nach Hause bringen. Ich habe ihm das geglaubt!«

»Er hat nicht gelogen. In gewisser Weise hat er die Wahrheit gesagt.«

Die kleine Elfe wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich dachte, ich hätte eine Familie – eine Mutter und einen Vater. Ich dachte, sie warteten irgendwo auf mich. Und ich dachte, dass ich Geschwister habe.«

»Natürlich tut es weh zu erfahren, dass die Dinge nicht so sind, wie du sie dir ausgemalt hast. Aber deshalb darfst du deine Träume nicht aufgeben. Wenn du dich nach einer Familie sehnst, dann mag es eines Tages geschehen, dass du eine findest.« Nuramon dachte an die Nacht vor dem Auszug der Elfenjagd und an den Orakelspruch, den Emerelle ihm als Rat gegeben hatte. »Weißt du, was die Königin einmal zu mir gesagt hat?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Sie sagte: _Wähle dir deine Verwandtschaft!_«

Die Kleine staunte. »Das hat die mächtige Emerelle dir gesagt?«

»Gewiss. Und dir mögen diese Worte auch helfen. Doch zuerst solltest du dir einen Namen wählen.«

Ein Lächeln legte sich auf das Gesicht der Elfe. Sie schien vergessen zu haben, dass sie eben noch geweint hatte. »Einen Namen!«

»Wähle gut!«

»Wieso machst _du_ das nicht? Sieh dir mein Gesicht an und sage mir, was ich für ein Name bin!«

Nuramon schüttelte lächelnd den Kopf. _Was für ein Name ich bin!_ Die kleine Elfe sah die Dinge auf eigentümliche Weise. Er ließ sich darauf ein und sagte: »Nun, vielleicht bist du eine Obilee …«

»Der Name gefällt mir«, meinte das Mädchen.

»Warte! Ein wenig weicher noch. Außerdem kenne ich schon eine Elfe, die so heißt. Es gibt aber einen Namen, der so ähnlich klingt.« Nuramon wurde klar, wonach er suchte. Für das Elfenkind konnte es nur einen Namen geben. »Wie gefällt dir _Yulivee_?«

Die Kleine ließ ihr Haar los, und die welligen Strähnen fielen ihr auf die Schultern. »Das ist ein schöner Name!«, sagte sie mit heller Stimme.

»Du hast ihn zuvor gewiss schon gehört, oder?«

»Noch nie.«

»Nun, eine Elfe namens Yulivee hat dein Volk aus Albenmark fortgeführt und Valemas gegründet.« Nuramon erzählte dem Mädchen von der alten Stadt Valemas in Albenmark und von der gleichnamigen Oasenstadt, in der er den Dschinn getroffen hatte.

»Aber der Dschinn sagte, meine Sippe sei die des Diliskar.«

»Das ist der Großvater Yulivees und der Begründer ihrer Sippe. Damit bist du sogar mit ihr verwandt.«

»Darf ich denn dann ihren Namen nehmen?«

»Aber natürlich. Es werden oft Namen an Neugeborene vergeben, deren frühere Träger ins Mondlicht gegangen sind.«

»Dann will ich ihn annehmen.«

»Eine gute Wahl! Du bist vielleicht die Letzte der Freien von Valemas. Einen besseren Namen könnte es für dich nicht geben … Yulivee!«

»Yulivee!«, wiederholte die kleine Elfe einige Male und betonte die Silben unterschiedlich. Übermütig sprang sie auf und rief ihren Namen. Dann stellte sie sich vor Nuramon und schaute in sein Gesicht. »Ich möchte fortan Abenteuer erleben und an deiner Seite sein.«

»Aber da bist du gewiss nicht so sicher wie in Albenmark. Wir könnten dich bis an die Pforte von Albenmark führen, wo dich jemand zur Königin bringen wird.«

Yulivee schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Ich bleibe lieber bei dir.«

Nuramon deutete auf den Beutel und die Bücher, die an der Wand lagen. »Ist das deine Ausrüstung?«

»Ja. Kleider und Wissen. Mehr brauche ich nicht.«

»Dann hol deine Sachen und bring sie ins Zimmer!« Nuramon ging voran; Yulivee tat, wie ihr geheißen, und legte die Bücher auf dem Tisch ab.

Nuramon setzte sich. »Was sind das für Bücher, die du da hast?«

»Die gehören mir!«

»Natürlich«, entgegnete Nuramon. »Aber wenn du mir sagst, was für Bücher es sind, dann schenke ich dir dieses Buch hier.« Er legte seine Hand auf die Aufzeichnungen Yulivees.

»Das sind Märchen. Von ihnen habe ich viel über Albenmark gelernt. Am liebsten habe ich die EmerelleMärchen. Sie ist so weise. Ich wünschte, ich könnte sie sehen.«

Nuramon musste an Emerelles Verhalten ihnen gegenüber denken. Es passte nicht so recht zu der Elfenkönigin jener Märchen, die er als Kind so gern gehört hatte. »Kannst du mir denn ein Märchen erzählen?«

Yulivee lächelte ihn an. »Gewiss. Weißt du, ich habe noch niemals jemandem etwas vorgetragen. Die anderen waren einfach zu beschäftigt.«

»Nun, ich habe Zeit«, sagte Nuramon.

Die kleine Yulivee begann das Märchen von Emerelle und dem Drachen zu erzählen, an dem so viele Krieger gescheitert waren. Sie war gerade beim schändlichen Verrat des Drachen angekommen, als Farodin und Mandred eintraten. Während Mandred ein erfreutes Gesicht machte, spiegelten sich in Farodins Miene Misstrauen und Ablehnung.

Das Mädchen blickte kurz zu den beiden und erzählte einfach weiter. »Und dann kehrte Emerelle zurück und schenkte den Hort des Drachen an die Sippe derer von Teveroi, die viele Krieger im Kampf gegen den Drachen gelassen hatten. Meister Alvias war froh, dass die Königin in Sicherheit war. Und so endet die Geschichte.«

Nuramon merkte, dass Yulivee das Ende sehr kurz gefasst hatte. Er strich ihr übers Haar. »Das war ein sehr schönes Märchen. Ich danke dir.« Er stand auf. »Doch nun möchte ich dir jemanden vorstellen. Dies ist Farodin. Er ist der beste Krieger am Hof der Königin.« Während Farodin nur leicht die Mundwinkel hob, grinste Mandred. »Und dies hier ist Mandred Torgridson, der Jarl von Firnstayn. Ein Mensch.«

Das Mädchen schaute mit offenem Mund zu Mandred auf, als wäre er eine prachtvolle Statue, die es zu bestaunen galt.

»Euch beiden möchte ich die letzte Elfe von Valemas vorstellen!«

Farodin machte ein entsetztes Gesicht. »Soll das heißen …«

»Ja. Valemas ist nicht mehr.« In knappen Worten erzählte er, was ihm der Dschinn berichtet hatte. »Und dieses Mädchen rettete der Dschinn hierher. Ihr Name ist Yulivee, und sie ist jetzt unsere Gefährtin.«

»Sei gegrüßt, Yulivee«, sagte Farodin mehr höflich als liebenswürdig.

»Sie wird uns eine Weile begleiten«, fuhr Nuramon fort. »Dann werde ich sie nach Albenmark bringen.«

»Ich will aber gar nicht nach Albenmark«, entgegnete Yulivee. »Ich bleibe lieber bei euch. Und dagegen könnt ihr auch ganz und gar nichts tun«, sagte sie mit selbstsicherer Stimme.

Mandred grinste. »Die Kleine scheint schon einen Plan zu haben. Sie gefällt mir! Lassen wir sie bei uns bleiben!«

Farodin schüttelte den Kopf. »Mandred! Es ist zu gefährlich für ein Kind. Stell dir vor, wir geraten in einen Kampf.«

»Dann mache ich mich unsichtbar«, sagte Yulivee darauf.

Mandred legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Siehst du! Die weiß schon, was sie tut.«

Farodin sah sie eindringlich an. »Du kannst dich unsichtbar machen?«

Yulivee winkte ab. »Das ist doch leicht.«

Nuramon mischte sich nun wieder ein. »Der Dschinn hat ihr einiges beigebracht.«

Farodin musterte das Mädchen. »Nun gut, dann soll sie bei uns bleiben«, sagte er schließlich. Lächelnd drohte er Nuramon mit dem Zeigefinger. »Aber du bist für sie verantwortlich!«

»Einverstanden. Doch nun erzählt mir, was euch die Hüter des Wissens gesagt haben.«

Farodin nickte und begann seinen Bericht. Sie hatten ihn auf zwei wichtige Bücher über die Kunst des Suchzaubers hingewiesen. Und er war zuversichtlich, sein Können auf diesem Gebiet der Magie zu vervollkommnen. Auch über Albensteine hatten sie gesprochen und darüber, dass es irgendjemanden gab, der in den letzten Jahrhunderten einen dieser Zaubersteine benutzt hatte, um neue Pfade in das Netz der Alben zu weben. Einen solchen neuen Pfad hatten sie aufgespürt, als sie zum ersten Mal die Bibliothek besuchten. Offenbar waren auch anderen Reisenden diese neuen Pfade aufgefallen. Sie hatten etwas Fremdes an sich, was freilich daran liegen mochte, dass sie ganz neu in ein jahrtausendealtes Wegenetz gezogen worden waren. Auf jeden Fall war ihre Existenz der Beweis dafür, dass es mehr als nur Emerelles Albenstein gab.

Nachdem Farodin geendet hatte, erzählte nun Nuramon seinerseits von der Begegnung mit Reilif. Die Gefahr, von der der Hüter des Wissens gesprochen hatte, sorgte bei seinen Gefährten für besorgte Mienen. Schließlich erzählte Nuramon von dem Hinweis des Dschinns auf den verschwundenen Feueropal.

»Aber wo sollen wir der Krone habhaft werden? Was du da beschreibst, hilft mir kaum, eine sichere Spur zu finden«, gab Farodin zu bedenken.

»Schau dir das an!« Nuramon öffnete das Buch, das ihm der Dschinn gegeben hatte, und schlug die Seite auf, die er sich zuvor angesehen hatte. »Das hier ist die Krone des Maharadschas von Berseinischi.«

Farodin betrachtete das Bild und nickte tief in Gedanken. »Das ist eine gute Spur, Nuramon.«

Die kleine Yulivee stand auf Zehenspitzen am Tisch, um in den Band sehen zu können. »Aber welchen Weg nehmen wir? Folgen wir dem jüngeren Albenpfad und suchen diesen Wegeschöpfer, oder finden wir den Feueropal?«, fragte sie.

»Du hast gut aufgepasst. Genau das ist die Frage«, erwiderte Nuramon.

»Ich denke, wir sollten den Feueropal suchen«, schlug Mandred vor. »Es ist bestimmt leichter, eine verschollene Krone zu finden und an uns zu bringen, als irgendjemandem einen Albenstein wegzunehmen.«

Farodin schlug das Buch zu. »Mandred hat Recht. Ich bin mir sicher, dass ich mit meinem Zauber diese Krone finden werde. Wir wissen ungefähr, wo sie ist, und wir wissen, wie sie aussieht. Das sollte genügen! Dürfen wir das Buch behalten?«

»Ja«, antwortete Nuramon.

»Dann lasst uns auf die Suche nach dem Albenstein gehen!« Zum ersten Mal, seit sie Noroelles Insel verlassen hatten, wirkte Farodin wieder voller Tatendrang.

Nuramon war erleichtert. Er erinnerte sich an ihren letzten Abschied von Iskendria. Damals hatten sie sich im Streit getrennt. Jetzt war alles anders. Sie würden als Gemeinschaft ausziehen, mit einer kleinen Gefährtin an ihrer Seite.

Brief an den Grossen Priester

Bericht über die Umtriebe in Angnos und im Aegilischen Meer

Werter Vater Therdavan, Ihr Glaubenskönig auf Erden, von Tjureds Hand so weise eingesetzt,


Eurem Wunsch gemäß sende ich Euch Nachricht von den Umtrieben in Angnos und dem Aegilischen Meer. Wie überall, wo wir im Sinne der Mission hingelangen, gibt es zwei Schwierigkeiten.

Die eine ist, dass jene Orte, die uns heilig sind, von Albenkindern entweiht sind. Viele von ihnen kämpfen bis aufs Blut, wie jeder, der um Haus und Hof kämpft. Doch durch unsere überlegene Strategie und die Opferbereitschaft unserer Ritter haben wir nie einen Kampf verloren. Es gibt nur wenige Orte, die wir länger belagern müssen, bis wir auf die andere Seite durchbrechen und jenen Boden, der nur unserem Gott bestimmt ist, von den dämonischen Albenkindern befreien. Möge Tjured die Alben verfluchen!

Die zweite Gefahr für unser Vorhaben sind die Ungläubigen, all jene, die zu den anderen Göttern beten. Tjured sei Dank, dass der schreckliche Balbarkult ausgerottet ist. Eure Visionen entsprachen der Wahrheit. In den Katakomben von Iskendria fanden wir das steinerne Herz des Kultes. Balbar war nichts weiter als ein Steingeist, von den Albenkindern zum Leben erweckt.

Der Arkassakult verlor seine Bedeutung, als die Leute die Wunder des Tjured gewahrten. Eure Entscheidung, die Hohepriester von den Belagerungen der Albensterne abzuziehen und stattdessen dem Volk von Angnos die Macht des Tjured zu zeigen, hat den Arkassakult hinfortgespült.

Es gibt nur eines, was mir Sorgen bereitet. Zwar mag man es im Augenblick noch kaum als große Gefahr betrachten, doch könnte es womöglich zu einem wahren Problem heranwachsen. Ich habe von vielen Orten rings ums Aegilische Meer die Nachricht erhalten, dass berittene Elfenkrieger unsere Gotteshäuser schänden. Erst gestern ereilte mich die Botschaft, dass in Zeilidos der Tempel gebrannt habe. Außerdem vermissen wir einige der Schiffe, die nach Iskendria übersetzen sollten. Die Überlebenden berichteten von Elfen, die sie angegriffen hätten. Noch sind dies nur Nadelstiche, doch am Ende mag auch aus diesem derzeit gering einzuschätzenden Widerstand eine große Rebellion erwachsen.

Ich möchte damit nicht die Behauptung aufstellen, dass die Heere von Albenmark sich langsam in Bewegung setzten. Doch fürchte ich, dass die Albenkinder, die an den heiligen Orten leben, erfahren haben, dass wir früher oder später gegen sie vorzugehen gedenken. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die plündernden Elfenreiter sich aus Flüchtlingen befreiter Heiligtümer zusammensetzen.

Als Letztes möchte ich Euch auf eine Nachricht unserer Spione aufmerksam machen. Sie haben herausgefunden, dass sich die Drusner tatsächlich erneut auf einen Krieg vorbereiten. Sie gehen davon aus, dass Ihr als Nächstes Euer Augenmerk auf sie richten könntet. Ihr Versuch, eine Rebellion in Angnos zu entfachen, ist gescheitert. Es gibt zwar Berichte über Elfen, die von Angnos nach Drusna zogen, doch diese sind nicht hinreichend gesichert. Ihr habt mich um meinen Rat gefragt, und ich schlage Folgendes vor: Lasst die Drusner ihren Krieg vorbereiten. In der Zwischenzeit stärken wir die Befestigungen in den Bergen von Angnos. Bisher waren wir immer die Angreifer, und nie haben wir verloren. Doch in Drusna hätte sich beinahe das Blatt gewendet. Es war ein Entschluss größter Weisheit, sich nicht in die Wälder von Drusna zu wagen, sondern rechtzeitig den Rückzug zu befehligen. Sonst wäre unserem Heer geschehen, was einst dem heiligen Romuald widerfuhr. Wir können die Drusner nur schlagen, wenn wir ihre Macht auf unserem Boden brechen. Dann steht uns alles offen. Lasst sie angreifen und uns die Verteidiger sein. Sie werden sich an den steinigen Hängen die Füße blutig laufen. Was die Nordmänner aus dem Fjordland angeht, so sehe ich keine Gefahr in ihnen. Sie sind Barbaren ohne Verstand, und sie haben keine Verbündeten. Wenn die Zeit gekommen ist, wird uns das Fjordland zufallen, so wie eine reife Frucht vom Baume fällt …

Auszug eines Briefes des Ordensfürsten

Gilom von Selescar an Therdavan,

den Ordenskönig und Grossen Priester des Tjured

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