Das Kind

Noroelle schloss die Augen. Ein Jahr war vergangen seit jener Nacht, in der sie vom Liebesspiel mit Nuramon geträumt hatte. Und es war mehr als ein Traum gewesen. In den letzten vier Jahreszeiten war ein Kind in ihr gewachsen. Heute war der Tag der Geburt gekommen. Sie spürte es so deutlich wie das Wasser, in dem sie schwebte, oder wie die Berührung der Nixen, die bei ihr waren.

Sie öffnete die Augen. Es war Nacht, und der Himmel war sternenklar. Im Mondlicht wurden die Elfen geboren, ins Mondlicht würden sie einst zurückkehren. Sie spürte kühles Wasser nach ihren Gliedern tasten. Der Zauber der Quelle durchdrang sie und berührte auch das Kind in ihr. Es regte sich.

Eine der drei Nixen stützte ihren Kopf. Noroelle konnte spüren, wie sich ihre Brust in regelmäßigen Atemzügen hob und senkte. Die zweite der Nixen sang eines der Lieder aus ihrer fernen Heimat, dem Meer. Die dritte aber war still an Noroelles Seite, bereit, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie alle waren aus Alvemer gekommen, um ihr bei der Geburt zu helfen. Sie waren Vertraute der Zauberin aus dem Meer, deren Name kein Elf kannte. Ihre nackte Haut funkelte, als wäre sie von winzigen Diamanten überzogen. Noroelles Blick schweifte zum Ufer und dann weiter zu den Wiesen, wo die Flügel unzähliger Auenfeen im Mondschein glitzerten.

Am Ufer standen Obilee, die Königin und einige Frauen vom Hof. Die junge Obilee lächelte vor Glück. In Emerelles Gesicht aber fand sich keine Regung. Diese beiden Gesichter waren wie ein Spiegel des vergangenen Jahres.

Obilee hatte ihr die alten Geschichten von Männern erzählt, die ihre Liebste nach ihrem Tod als Geist besuchten, um mit ihr ein Kind zu zeugen. Die Königin jedoch hatte ihre Zweifel geäußert und sich abweisend gezeigt.

Noroelle spürte, wie sich das Kind in ihrem Bauch bewegte. Der Streit mit der Königin beschäftigte sie weit weniger als die Frage, ob sie ihrem Kind eine gute Mutter sein konnte. Sie kannte die Geschichten, die Obilee ihr in langen Nächten erzählt hatte. Und sie wusste, welchen Teil ihre Vertraute stets ausgelassen hatte: Das Kind, das gezeugt wurde, trug die Seele des Geliebten. Dieser Gedanke machte Noroelle Angst, denn es hieße, dass Nuramon sich selbst gezeugt hätte. Er wäre sein eigener Vater, und sie wäre die Mutter ihres Geliebten.

Bang hatte sie sich gefragt, ob sie Nuramon eine Mutter sein könnte. Doch nun, da sie hier lag, wusste sie die Antwort. Ja, sie konnte es! Sie würde den Vater in Erinnerung halten, wie er gewesen war. Und sie würde dieses Kind …

Es war so weit! Ihre Mutter hatte ihr einst so viel von der Geburt erzählt. Doch nichts hatte sie auf das vorbereiten können, was sie nun spürte. Als wäre ein mächtiger Zauber gesprochen worden, bewegte sich das Kind. Ihr Körper veränderte sich, das spürte Noroelle deutlich. Sie wuchs, wo das Kind hinwollte, und zog sich zusammen, wo es herkam. Es war eine ständige Verwandlung, und Noroelle fühlte, wie ihr Leib in einem Wechselspiel wie von Ebbe und Flut die Magie des Quellwassers in sich aufnahm, um die Wandlung zu vollziehen und dem Kind den Weg zu bereiten. Deutlich spürte sie sein Drängen, es wollte endlich in diese Welt geboren werden.

Selbst die Zeit schien sich nun zu dehnen. Das Mondlicht auf dem Wasser, das Lied der Nixe, das Kind, selbst die unbedeutendste Kleinigkeit – all dies würde für immer in Noroelles Erinnerung bleiben. Sie atmete ruhig, schloss die Augen und ließ geschehen, was geschehen sollte.

Mit einem Mal spürte sie, wie etwas ihren Körper verließ und eine Welle neuer Empfindungen nach sich zog. Ihr ganzer Leib vibrierte und wandelte sich ein letztes Mal. Dann hörte sie den Schrei des Neugeborenen. Gebannt schlug sie die Augen auf.

Die Sängerin unter den Nixen hielt das Kind so, dass gerade eben sein Kopf über dem Wasser war. Es war so klein! So zerbrechlich. Und es schrie aus Leibeskräften.

Die Nixe berührte die Nabelschnur und war sichtlich überrascht, dass sie einfach abfiel. Noroelle wusste, dass bei anderen Albenkindern ein scharfes Messer benötigt wurde, um das Band zur Mutter endgültig zu durchtrennen.

»Ein Junge!«, sagte die Nixe leise. »Es ist … ein wunderschöner Junge.«

Die anderen beiden Nixen zogen Noroelle bis ans Ufer und hoben sie sanft aus dem Wasser. Sie setzte sich auf den flachen Stein und blickte auf das kleine Wesen, das die Sängerin noch immer im Wasser hielt.

Jemand legte Noroelle eine Hand auf die Schulter. Sie schaute auf und sah Obilee neben sich. Sie fasste die Hand der Vertrauten. Dann stand sie auf und schaute an sich hinab. Ein unversehrter Körper. Was hatte sie nicht alles über die Geburt anderer Albenkinder gehört! Dass es Stunden oder gar Tage voller Anstrengung dauerte. Und dass schreckliche Schmerzen wie ein Schatten über diesem wundervollen Ereignis lagen. Bei Noroelle verriet nichts, dass sie soeben ein Kind geboren hatte. Nur innerlich fühlte sie sich geschwächt und leer. Das Kind fehlte ihrem Körper.

Die Hofdamen kamen heran, rieben Noroelle mit blütenzarten Tüchern trocken und halfen ihr dabei, ihre weißen Gewänder anzulegen. Obilee reichte ihr das Tuch, in das sie das Kind wickeln würde.

Erwartungsvoll betrachtete Noroelle die Nixe mit dem Neugeborenen. Endlich kam die Wasserfrau herangeschwommen und hielt Noroelle den Jungen hin. Die Haut des Kindes war ganz glatt, und das Wasser perlte davon ab.

Noroelle nahm ihr Kind in die Arme und wickelte es vorsichtig in das Tuch. Neugierig musterte sie es. Es hatte ihre blauen Augen, und es schrie nicht länger, nun, da es bei der Mutter war. Das wenige Haar, das sie vorsichtig mit dem Tuch trocknete, war braun wie Nuramons. Doch ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass ihr Haar bei der Geburt auch braun gewesen und erst mit den Jahren dunkler geworden war. Dieses Kind kam ganz nach ihr. Nur die Ohren unterschieden sich deutlich. Sie waren zwar ein wenig länglich, aber keineswegs spitz. Doch auch das mochte sich noch ändern.

Die Königin trat an Noroelles Seite. »Zeig mir das Kind, auf dass wir erfahren, ob es die Seele eines bekannten Elfen trägt.«

Noroelle hielt der Königin den Jungen hin. »Hier ist mein Sohn.«

Emerelle streckte die Hand aus und wollte das Kind an der Stirn berühren. Doch plötzlich zuckte sie zurück. Entsetzen spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »Dies ist nicht Nuramons Kind. Du hast dich geirrt, Noroelle. Es ist nicht einmal ein Elfenkind.«

Das Neugeborene fing wieder an zu schreien.

Noroelle wich erschrocken vor der Königin zurück und drückte ihren Sohn an die Brust. Sie versuchte, das Kind zu beruhigen.

»Schau dir die Ohren an!«, sagte Emerelle.

Gewiss, die Ohren waren zu rund für einen gewöhnlichen Elfen. Aber vielleicht würden sie noch die gewohnte Form annehmen. Was sie viel mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass Emerelle in dem Kind nicht Nuramon sehen wollte. »Bist du dir sicher, dass nicht Nuramons Seele in meinem Sohn wohnt?«

»Das Kind kommt sehr nach dir, es ist aber nicht der Sohn eines Elfenvaters.«

Noroelle schüttelte entschieden den Kopf. Die Königin irrte sich! »Nein! Das kann nicht sein! Das ist unmöglich. Es war Nuramon, der mich in jener Nacht besuchte.«

»Es ist so, wie ich es sage. Hör mir gut zu!« Emerelle richtete den Finger auf sie. Noch nie war ihr jemand mit einer solch drohenden Geste begegnet. »Du wirst deinen Sohn in drei Tagen vor meinen Thron bringen! Dort werde ich über ihn und auch über dich entscheiden.« Mit diesen Worten wandte sich die Königin ab und verließ mit ihrem Gefolge das Ufer des Sees.

Noroelle wollte sich an die Nixen wenden. Doch sie waren verschwunden. Sie schaute zur Wiese jenseits des Sees. Auch die kleinen Auenfeen waren fort. Nur Obilee war bei ihr geblieben.

Die Vertraute legte ihr einen Mantel um. »Gib nichts darum, was die anderen über dich sagen. Du hast einen Sohn.«

Noroelle dachte an die Worte der Königin. »Du solltest dich von mir …« Ihr wurde schwindelig.

Obilee stützte sie. »Komm, lass mich dich führen.«

Gemeinsam gingen sie fort.

Es hätte der schönste Tag in ihrem Leben werden sollen. Und nun war alles zerstört. Die Königin machte ihr Angst. Was meinte sie damit, dass sie über den Jungen und sie entscheiden würde? Das klang wie ein Urteilsspruch. Könnte denn Emerelle über sie richten, ohne zu wissen, was in jener Nacht vor einem Jahr geschehen war? Wer sollte dieses Kind gezeugt haben, wenn nicht Nuramon? Hatte sie etwa ein anderes Albenkind besucht, sie gelähmt und sich während ihres Schlafes an ihr vergangen? Noroelle schaute dem Kind in die Augen und mochte nicht daran denken. Selbst mit seinen unförmigen Ohren war es ein schöner Knabe. Die Königin musste sich irren.

Zum ersten Mal in ihrem Leben misstraute Noroelle ihrer Herrin. Emerelle verheimlichte ihr etwas. Sie hatte es auf ihrem Gesicht gesehen. Für einen kurzen Augenblick hatte Noroelle dort Furcht erkannt.

»Wird Emerelle dir das Kind wegnehmen?«, fragte Obilee völlig unvermittelt.

Noroelle blieb erschrocken stehen. »Was?«

»Sie hat mir Angst gemacht. Glaubst du, sie sagt die Wahrheit?«

Noroelle strich ihrem Sohn über die Wange. »Schau ihn dir an! Siehst du irgendetwas Schlechtes in den Augen dieses Kindes?«

Obilee musste lächeln. »Nein. Es ist wunderschön und dir sehr ähnlich.«

»Ich werde allem, was die Königin sagt, folgen. Nur eines werde ich nicht zulassen: dass diesem Kind ein Leid geschieht.«

Obilee nickte. »Aber wie heißt er denn nun?«

»Es gibt nur einen Namen, den ich ihm geben kann.« Sie küsste das Kind sanft. »Nuramon!«, flüsterte sie.

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