Der Abschied

Selten war der Thronsaal so belebt gewesen wie an diesem Morgen. Noroelle stand nahe einer der Wände, an der das Wasser leise flüsternd herablief. An ihrer Seite war ihre Vertraute Obilee; sie war erst fünfzehn Jahre alt und von zierlicher Gestalt. Die Gestik zeigte ihre Scheu, die Mimik ihre Neugier. Wie Noroelle stammte sie aus Alvemer und erschien ihr wie die kleine Schwester, die sie sich immer gewünscht hatte. Obilee hatte mit dem blonden Haar und den grünen Augen äußerlich zwar kaum etwas mit ihr gemein, dennoch waren sie einander so vertraut wie Geschwister. Wie Noroelle war sie früh aus der Heimat fortgegangen. Allerdings war Noroelle einst mit ihren Eltern hierher gekommen, während Obilee von ihrer Großmutter in Noroelles Obhut gegeben worden war.

»Sieh nur, Noroelle«, flüsterte Obilee. »Alle schauen dich an. Sie sind neugierig, was du deinen Liebsten mit auf den Weg gibst. Sei vorsichtig! Sie werden auf jede Geste und auf jedes Wort achten.« Sie kam nahe an Noroelles Ohr. »Das ist die Stunde, in der neue Bräuche geboren werden.«

Noroelle schaute sich rasch um. So viele Augenpaare auf sich gerichtet zu spüren bereitete ihr Unbehagen. Obwohl sie oft am Hofe war, hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt. Leise erwiderte sie: »Du irrst dich. Es ist das Kleid, das sie betrachten. Du hast dich diesmal selbst übertroffen. Man könnte meinen, du hättest Feenhände.«

»Vielleicht ist es etwas von beidem«, sagte Obilee lächelnd. Dann schaute sie an Noroelle vorbei und machte ein erstauntes Gesicht.

Noroelle folgte dem Blick ihrer Vertrauten und sah Meister Alvias, der an sie herantrat und freundlich nickte. »Noroelle, die Königin wünscht dich an ihrem Thron zu sehen.«

Die Elfe bemerkte die vielen neugierigen Blicke, verbarg aber ihre Unsicherheit. »Ich werde dir folgen, Alvias.« Dann wandte sie sich an Obilee. »Komm mit!«

»Aber sie will doch nur …«

»Komm mit mir, Obilee!« Noroelle fasste die junge Elfe bei der Hand. »Hör gut zu! Wir werden jetzt vor die Königin treten, und sie wird mich fragen, wer du bist.«

»Aber die Königin kennt mich doch, oder? Sie kennt doch jeden hier.«

»Du wurdest ihr aber noch nicht vorgestellt. Wenn ich deinen Namen genannt habe, gehörst du zur Hofgesellschaft.«

»Aber was muss _ich_ sagen?«

»Nichts. Es sei denn, die Königin fragt dich etwas.«

Alvias schwieg; weder ein Schmunzeln noch Argwohn waren in seiner Miene zu sehen. So folgten Noroelle und Obilee dem Meister zum Thron der Königin. All jene, an denen sie vorübergingen, begegneten Noroelle mit respektvollen Worten und Gesten. Vor der Königin angekommen, trat Meister Alvias zur Seite, während Noroelle und Obilee ihr Haupt senkten.

»Sei gegrüßt, Noroelle.« Emerelle schaute zu Obilee und fragte: »Wen bringst du mir?«

Noroelle wandte sich halb um und deutete mit eleganter Geste auf die junge Elfe. »Dies ist Obilee. Sie ist die Tochter Halvarics und Orones aus Alvemer.«

Emerelle lächelte die junge Elfe an. »Damit stammst du aus der Sippe der großen Danee. Du bist ihre Urenkelin. Wir alle werden deinen Weg beobachten. Bei Noroelle bist du in guten Händen. – Noroelle, mir ist zu Ohren gekommen, dass dich ein Band mit der Elfenjagd verbindet.«

»So ist es.«

»Du bist die Minneherrin von Farodin und Nuramon.«

»Ja, das ist wahr.«

»Eine Elfenjagd, bei der Minneherrin und Königin sich nicht einig sind, ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. So frage ich dich: Wirst du als Minneherrin deine Liebsten zur Elfenjagd freigeben?«

Noroelle musste an die Furcht denken, die in der Nacht ihre Träume begleitet hatte; sie hatte Farodin und Nuramon leiden sehen. Trotz ihres Stolzes auf die beiden wäre es ihr lieb gewesen, wenn sie nicht an der Jagd hätten teilnehmen müssten. Aber die Frage der Königin war nur eine Geste. Noroelle stand es nicht frei, Emerelle den Wunsch abzuschlagen. Wenn die Königin um die Hilfe ihrer Liebsten bat, dann konnte sie ihr diese nicht verwehren. Sie seufzte leise und merkte, dass Schweigen im Saal eingekehrt war. Allein das Rauschen des Wassers war noch zu vernehmen. »Ich werde sie dir für die Elfenjagd überlassen«, sagte Noroelle schließlich. »Was _du_ ihnen aufträgst, das werden sie für _mich_ tun.«

Emerelle erhob sich und trat an Noroelle heran. Sie sagte: »So sind Königin und Minneherrin vereint.« Dann fasste sie Noroelle und Obilee bei den Händen und führte sie die Stufen hinauf neben ihren Thron, um sich wieder zu setzen.

Noroelle hatte oft hier gestanden, doch wie jedes Mal fühlte sie sich fehl am Platze. In den Augen vieler stand Bewunderung, in manchen aber auch leiser Spott. Weder das eine noch das andere behagte ihr.

Die Königin bedeutete Noroelle mit einer knappen Geste, sich zu ihr hinabzubeugen. »Vertrau mir, Noroelle«, flüsterte sie in ihr Ohr. »Ich habe viele auf die Jagd geschickt. Und Farodin und Nuramon werden wiederkehren.«

»Ich danke dir, Emerelle. Und ich vertraue dir.«

Meister Alvias trat nun an die Königin heran. »Emerelle, sie warten vor dem Tor.«

Die Königin nickte Alvias zu. Dieser wandte sich um, breitete die Arme aus und rief mit wohltönender Stimme: »Die Elfenjagd steht vor dem Tor.« Er wies mit dem Finger auf die andere Seite des Saales. »Einmal entfesselt, werden sie ihrem Ziel nachjagen, bis sie ihre Aufgabe erledigt haben oder aber gescheitert sind. Wenn wir dieses Tor öffnen, dann gibt es für die Jagd kein Zurück mehr.« Er schritt durch die breite Gasse, die sich in der Mitte des Saales formte. »Wie immer müsst ihr die Königin beraten.« Er musterte einige der Anwesenden, offenbar stellvertretend für alle. Dann sprach er weiter: »Erwägt die Lage. Eine mächtige Bestie! In den Menschengefilden! Nahe unseren Grenzen! Soll die Königin das Tor geschlossen halten und damit hinnehmen, dass dort draußen etwas umherstreift, das auch uns einst gefährlich werden könnte? Oder soll sie das Tor öffnen, auf dass wir die Menschen des Fjordlandes von der Bestie befreien? Beide Pfade können Glück oder Verderben bedeuten. Bleibt das Tor geschlossen, mag die Bestie eines Tages ihren Weg zu uns finden. Öffnen wir das Tor, mag es sein, dass Elfenblut vergossen wird, um den Menschen zu dienen. Ihr habt die Wahl.« Alvias deutete mit sanfter Geste auf Emerelle. »Ratet der Königin, wie sie sich entscheiden soll!« Mit diesen Worten kehrte Alvias zu Emerelle zurück und verbeugte sich vor ihr.

Die Blicke der Anwesenden wanderten zwischen dem Tor und der Königin hin und her. Bald wurden die ersten Stimmen laut, die Emerelle rieten, sie solle das Tor öffnen. Es gab aber auch etliche, die sich dagegen aussprachen. Noroelle sah, dass Nuramons Verwandtschaft dazugehörte. Sie hatte es nicht anders erwartet. Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben; doch es war nicht die Angst um Nuramon, sondern die um Nuramons Tod und dessen Folgen.

Die Königin fragte den einen oder anderen, wieso er sich für dieses oder jenes entschieden hatte, und lauschte geduldig den Erklärungen. Dieses Mal hörte sie sich mehr Stimmen an als sonst. Als sie Elemon fragte, einen Onkel Nuramons, wieso er das Tor geschlossen sehen wollte, sagte dieser: »Weil daraus, wie Alvias sagte, Ungemach erwachsen kann.«

»Ungemach?« Die Königin musterte ihn eindringlich. »Du hast Recht. Das mag geschehen.«

Nun trat Pelveric aus Olvedes vor. Sein Wort zählte viel bei den Kriegern. »Emerelle, bedenke das Elfenblut, das vergossen werden könnte. Warum sollen wir den Menschen helfen? Was gehen uns deren Schwierigkeiten an? Wann haben sie uns das letzte Mal geholfen?«

»Das ist lange her«, war alles, was Emerelle zu Pelveric sagte. Schließlich wandte sie sich Noroelle zu und flüsterte: »_Deinen_ Rat will ich hören.«

Noroelle zögerte. Sie könnte der Königin raten, das Tor geschlossen zu halten. Sie könnte wie so viele von Elfenblut und der Undankbarkeit der Menschen sprechen. Doch sie wusste, dass aus solchen Worten nichts anderes als die Angst um ihre Liebsten spräche. Hier aber ging es um mehr als um sie. Leise sagte sie: »Mein Herz hat Angst um meine Liebsten. Und doch ist es richtig, das Tor zu öffnen.«

Die Königin erhob sich würdevoll. Das Rauschen des Wassers an den Wänden schwoll langsam an. Mehr und mehr Wasser drang aus den Quellen, lief die Wände hinab und ergoss sich rauschend in die Bassins. Emerelles Blick war auf das Tor gerichtet. Sie schien nicht zu bemerken, wie sich der glitzernde Wasserdunst in der Luft verteilte, nach oben zur weiten Deckenöffnung des Saales stieg und dort unter dem Licht der Sonne einen breiten Regenbogen erscheinen ließ. Plötzlich glühten die Wände hinter dem Wasser auf. Es zischte, und ein Lufthauch wehte durch den Saal. Die Torflügel schlugen zur Seite und gaben den Blick auf die Jagdgemeinschaft frei. Das Wasser beruhigte sich, doch der Dunst und der Regenbogen blieben.

Die Gefährten verharrten kurz unter dem Torbogen, bevor sie eintraten. An der Spitze ging Mandred der Menschensohn, der mit großer Verwunderung den Regenbogen betrachtete, dann aber der Königin entgegenblickte. Links und rechts dahinter kamen Farodin und Nuramon, hinter ihnen wiederum Brandan der Fährtensucher, Vanna die Zauberin, Aigilaos der Bogenschütze und Lijema die Wolfsmutter. Es war ungewohnt, einen Menschen als Teil der Elfenjagd zu sehen, obwohl er von seinem Wesen her den Elfen ähnlicher war als Aigilaos der Kentaur. Doch in all den Jahren hatte man sich daran gewöhnt, dass Kentauren Teil der Elfenjagd sein mochten. Aber ein Mensch? Dass Mandred an der Spitze ging, ließ das Geschehen noch befremdlicher erscheinen. Stets hatte ein Elf die Jagd angeführt.

Nuramon und Farodin erinnerten an die Helden der Sage. Farodin bot wie gewohnt einen makellosen Anblick, während Nuramon erstmals auch in den Augen der anderen dem Ideal entsprach. Noroelle konnte es deutlich in den Gesichtern der Umstehenden erkennen. Sie freute sich darüber. Selbst wenn sein Ansehen nur von kurzer Dauer sein sollte, diesen Augenblick konnte ihm keiner nehmen.

Die Gemeinschaft schritt der Königin entgegen. Als sie vor der Treppe zum Thron angekommen waren, beugten die Elfen das Knie vor Emerelle, und selbst der Kentaur war bemüht, sich so weit wie möglich zu neigen. Nur Mandred blieb aufrecht stehen, er schien von der Art der Ehrerbietung seiner Gefährten überrascht zu sein. Er war im Begriff, es ihnen nachzutun, als die Königin sich in seiner Sprache an ihn wandte. »Nein, Mandred. In der Anderen Welt bist du der Jarl deiner Gemeinschaft – ein Menschenfürst. Du brauchst das Knie nicht vor der Elfenkönigin zu beugen.«

Mandred machte ein erstauntes Gesicht und schwieg.

»Ihr anderen: erhebt euch!« Auch diese Worte sprach Emerelle auf Fjordländisch. Einige der Anwesenden waren dieser Sprache offenbar nicht mächtig und blickten verstimmt drein.

Fjordländisch! Noroelles Eltern hatten ihr viele Menschensprachen beigebracht, und doch hatte Noroelle Albenmark noch nie verlassen. Das wilde Land der Menschen hatte sie sich bislang nur in ihrer Vorstellung ausmalen können.

Die Königin wandte sich wiederum an Mandred. »Du hast aus meinen Händen eine zweifache Würde empfangen. Du bist der erste Menschensohn, der Teil der Elfenjagd ist. Und ich habe dich außerdem zum Anführer berufen. Ich kann von dir nicht erwarten, dass du dich wie ein Elf benimmst. Deine Wahl hat viele Albenkinder empört. Aber die Macht Atta Aikhjartos ist in dir lebendig. Ich vertraue deinem Gespür. Keiner von uns kennt deine Heimat so, wie du sie kennst. Du wirst deinen Gefährten ein guter Anführer sein. Aber bei allem, was du tust, vergiss nicht, was du mir versprochen hast.«

»Ich halte mein Verspechen, Herrin.«

Noroelle hatte erfahren, welchen Pakt der Menschsohn mit der Königin geschlossen hatte. Sie musterte Mandred und war von seinem Auftreten überrascht. Bisher hatte sie keine Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen, da sie erst spät am vergangenen Abend an den Hof gekommen war. Und in den Palastflügel, in dem die Gemächer der Elfenjäger lagen, hatte sie sich nicht vorgewagt. Doch sie hatte die verschiedenen Gerüchte über Mandred gehört, wenngleich nicht alle zu ihm passen wollten. Gewiss, er war breit wie ein Bär und sah auf den ersten Blick bedrohlich aus mit all seinem Haar, das rot war wie der Sonnenuntergang und ihm ungezügelt auf die Schultern fiel. Er hatte einige dünne Zöpfe hineingeflochten und trug einen Bart wie viele der Kentauren. Seine Züge waren grob, aber ehrlich. Er erschien ihr ungewöhnlich blass, und dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Vielleicht hatte er vor Aufregung nicht geschlafen? Gewiss war er sehr stolz auf die Ehrung durch die Königin. Er trug nun große Verantwortung. Noroelle erschauderte bei dem Gedanken, welchen Preis er für die Hilfe zu zahlen hatte. Sie würde ihr Kind niemals aufgeben, wenn sie überhaupt einmal eines bekommen sollte. Nachdenklich musterte sie ihre beiden Geliebten. Die Frage war wohl nicht, ob, sondern mit wem sie ein Kind bekommen würde.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, musterte Mandred sie kurz und lächelte dann. Obilee fasste ihre Hand. Sie zitterte. Noroelle blieb ruhig und schaute dem Menschensohn in die blauen Augen. Das war nicht der lüsterne Blick, von dem man sich hier am Hof erzählte. So grob seine Gestalt auch wirkte, so viel Gefühl lag in seinen Augen. In seiner Gegenwart konnte man sich sicher fühlen, und ihm konnte sie beruhigt ihre beiden Liebsten anvertrauen. Sie blickte zu Nuramon und Farodin. Seit sie vor zwanzig Jahren ihre Liebe zu ihr erkannt hatten, war stets einer der beiden in ihrer Nähe gewesen. Nun würde sie für unbestimmte Zeit allein sein.

»Ihr wisst, was zu tun ist«, sagte die Königin. »Ihr seid ausgestattet und ausgeruht. Seid ihr bereit zu gehen?«

Jeder der Elfenjäger antwortete einzeln mit den Worten: »Ich bin bereit.«

»Farodin und Nuramon, tretet vor!« Die beiden taten, was Emerelle verlangte. »Ich bin eure Königin, und ihr steht unter meinem Schutz. Aber ihr dient auch einer Minneherrin. Und ich kann nicht für sie sprechen. Sie hat entschieden.« Sie ging zu Noroelle und führte sie die Stufen hinab zu Farodin und Nuramon. Obilee folgte. »Hier ist sie.«

Noroelle nahm die beiden Männer bei der Hand und sagte: »Dient ihr mir, dann dient ihr der Königin.«

»So werden wir stets der Königin dienen«, erklärte Farodin darauf.

»Mögen unsere Taten euch beide erfreuen«, setzte Nuramon nach.

Sie küssten ihre Hände.

Noroelle wusste, dass nun der Abschied bevorstand. Doch es war zu früh, sie wollte ihren Liebsten nicht hier vor den Augen aller Lebewohl sagen. »Eure Minneherrin hat noch einen Wunsch. Sie möchte euch bis zum Tor des Aikhjarto begleiten.«

Farodin tauschte einen Blick mit Nuramon. »Wir müssen tun, was die Minneherrin verlangt.«

Die Königin lächelte und nahm Noroelle wie auch Obilee bei der Hand. »Hier, Mandred, bringe ich dir zwei, die bis zum Tor unter deinem Schutz stehen. Behandle sie gut.«

»Das werd ich.«

Die Königin blickte nach oben, als könnte sie im Schein der gedämpften Sonne etwas sehen, das den Augen der anderen verborgen war. »Der Tag ist noch jung, Mandred! Geh und rette dein Dorf!«

So setzte sich Mandred an die Spitze der Elfenjagd, und Noroelle und Obilee gingen in der Mitte. Auf dem Weg wünschten die Albenkinder den Gefährten Glück. Noroelle warf einen Blick zur Königin zurück und sah, wie diese vor ihrem Thron stand und mit sorgenvoller Miene hinter der Gemeinschaft her schaute. Hatte sie etwa Sorge, dass ihnen etwas zustieße? Wenn es sich so verhielt, dann hatte Emerelle ihre Befürchtungen bisher gut verborgen.

Obilee riss Noroelle aus ihren Gedanken. »Ich wünschte, ich wäre auch bei der Elfenjagd«, sagte sie.

»Im Augenblick sieht es so aus, als wärst du es.«

»Du weißt, was ich meine«, entgegnete Obilee.

»Natürlich. Aber hast du nicht gehört, was die Königin zu dir gesagt hat? Und habe ich dich nicht auch oft darauf aufmerksam gemacht, dass du so aussiehst wie Danee? Eines Tages wirst auch du zu solchen Ehren kommen, als große Zauberin, die zugleich eine Meisterin des Schwertes ist.«

Die Gemeinschaft schritt entschlossen durch die Hallen ins Freie. Der Burghof war voller Albenkinder. Selbst die Kobolde und die Gnome waren gekommen, um den Auszug der Elfenjagd zu sehen. Eine Jagd, die von einem Menschen angeführt wurde, war etwas Besonderes. Von diesem Tag würde man sich noch in vielen Jahren erzählen.

Die Pferde für die Gefährten standen bereit, die Ausrüstung war schon verstaut. Nur der Kentaur Aigilaos band sich noch einige Beutel auf den Rücken und fluchte leise über seinen verspannten Nacken. Er hatte es in der letzten Nacht offenbar nicht besonders bequem gehabt.

Während Meister Alvias zwei weitere Pferde holte, betrachtete Noroelle Farodin und Nuramon. Sie erschienen mit einem Mal so unsicher. Schon bald würden beide von ihr getrennt sein. Welche Worte würden sie in dieser Lage finden? Was mochte die Geliebte trösten?

»Ist die Elfenjagd bereit?«, fragte Mandred, wie es das Hofzeremoniell forderte. Die Gefährten nickten, und der Menschensohn rief: »Dann los!«

Die Elfenjagd machte sich auf den Weg. An der Spitze ritt der Menschensohn, dahinter Noroelle. Zu ihrer Linken war Nuramon, zu ihrer Rechten Farodin. Hinter ihr ritt Obilee, die von Brandan, Vanna und Aigilaos umgeben war. Lijema bildete den Schluss. Laute Abschiedsrufe begleiteten sie zum Tor; die Kobolde waren dabei nicht zu überbieten.

Kaum hatte die Gemeinschaft das Tor hinter sich gelassen, glaubte Noroelle ihren Augen nicht zu trauen. Auf der weiten Wiese hatten sich so viele Albenkinder wie wohl nie zuvor eingefunden. Sie alle wollten den Ausritt der Elfenjagd beobachten. Über der Wiese glitzerten die Flügel der Auenfeen im Sonnenlicht; die Feen waren neugierig, das war bekannt. Nahe dem Weg, den sie nahmen, standen Elfen aus dem Herzland und auch den fernsten Marken des Königreichs. Manche hatten es gestern wohl nicht mehr zum Hof geschafft, wollten sich nun aber den Auszug der Elfenjagd nicht entgehen lassen. Von hier und dort kamen den Gefährten Grüße entgegen. Selbst auf den Hügeln am Wald standen Elfen vor den Häusern der Abgesandten und winkten ihnen zu.

Mit einem Mal sah Noroelle eine kleine Fee neben Mandreds Kopf fliegen. Der Mensch schlug nach ihr wie nach einem lästigen Insekt, verfehlte sie aber. Die Fee schrie und kam zu Noroelle geflogen. Mandred schaute sich um. Er hatte den Schrei gehört, konnte die Fee aber offenbar nicht sehen.

Allmählich erhöhte er das Tempo. Er schien Gefallen daran gefunden zu haben, ein Elfenross zu reiten. Hoffentlich stürzte er nicht. Es hieß, er hätte sich auf dem Rücken von Aigilaos nicht besonders geschickt angestellt.

Als sie die Albenkinder mit ihren Grußworten hinter sich gelassen hatten und die offenen Wiesen vor ihnen lagen, ritt Lijema rechts an ihnen vorbei und war kurz darauf neben Mandred angelangt. Dieser schaute sie überrascht an. Lijema aber nahm ihre Holzflöte vom Gürtel und blies hinein. Obwohl sich deutlich sichtbar ihre Backen blähten, war kein Laut zu vernehmen.

Kurz darauf rief Obilee: »Schaut nur, dort!« Sie deutete nach rechts. Etwas Weißes löste sich aus dem Schatten des Waldes und näherte sich rasch.

»Da sind sie!«, rief Aigilaos.

»Es sind sieben!«, erklärte Nuramon.

»Sieben?«, fragte Farodin. »Unglaublich!«

Mandred drehte sich im Sattel. »Sieben was?«

Noroelle kannte die Antwort, so wie jedes Albenkind. Es waren die weißen Wölfe der Elfenjagd. Niemand konnte sagen, wie viele der Jagd folgen würden, bis sie sich hinzugesellten. Je mehr es waren, desto wichtiger war die Angelegenheit und umso größer die Gefahr. Zumindest erzählte man es sich so.

»Das sind unsere Wölfe!«, rief Lijema Mandred entgegen.

»Wölfe? Verdammt große Wölfe sind das!«

Noroelle musste schmunzeln. Die Wölfe mit ihrem weißen, dichten Fell waren so groß wie Ponys.

»Sind die gefährlich?«, hörte sie Mandred fragen. Aber Lijema verstand ihn wegen des lärmenden Hufschlags nicht. »Sind die gefährlich?«, wiederholte er lauter.

Lijema lächelte. »Aber natürlich.«

Als die Wölfe sie eingeholt hatten, setzten sich vier an die Spitze der Jagd. Je einer hielt sich links und rechts der Gemeinschaft. Der siebte Wolf aber lief direkt an Lijemas Seite.

Bald erreichten sie den Waldrand und hielten an, um einen letzten Blick zurück auf die Burg der Königin zu werfen. Selbst Mandred schien berührt zu sein.

Farodin und Nuramon konnten sich dem Anblick ebenfalls nicht entziehen. Besonders Nuramons Gesicht verriet die insgeheime Sorge, während Farodin versuchte, seine Gefühle verborgen zu halten. Noroelle aber blickte hinter seine Maske der Gelassenheit.

Die Wölfe waren ungeduldig und umringten Mandreds Pferd. Der Menschensohn schien nicht recht zu wissen, wie er den Tieren begegnen sollte. Ständig behielt er die Wölfe im Auge. Er musste wohl schlechte Erfahrungen gemacht haben, dachte Noroelle. Vielleicht waren Wölfe in seiner Welt eine Gefahr für Leib und Leben, so wie es die Wölfe in Galvelun für die Albenkinder waren. Als Mandred Noroelles Blick bemerkte, beugte er sich im Sattel hinab. Als wollte er seinen Mut beweisen, strich er dem größten Wolf über das Nackenfell. Das gefiel dem Tier! »Sollen wir reiten?«, fragte der Menschensohn. Der Wolf knurrte und musterte Mandred dann.

Lijema musste lachen. »Der spricht kein Fjordländisch. Aber er mag dich.« Auf Elfisch erklärte Lijema den Wölfen, warum sie Mandred nicht verstehen konnten, und übersetzte dann, was der Menschensohn gefragt hatte. Der Wolf legte den Kopf schief, dann wurde er mit einem Mal unruhig. Auch die anderen ließen sich davon anstecken und liefen umher, mal voran, dann wieder zurück zu Mandred. Die Wölfe wollten weiter.

»Verstehen die denn, was du sagst?«

»Jedes Wort. Die sind klüger als mancher Elf. Das darfst du mir glauben.«

»Und sie? Wie sprechen sie?«, wollte Mandred wissen.

Lijema strich dem größten unter den weißen Wölfen über das Fell. »Sie haben ihre eigene Sprache. Und ich beherrsche sie.«

Noroelle musste schmunzeln. Dieser Mensch war leicht zu durchschauen. Wie er den großen Wolf betrachtete, wie er die eine Augenbraue hochzog und sich gleichzeitig auf die Lippe biss, konnte er nur eines denken: Ein solcher Wolf wäre ein vollkommener Jagdgefährte.

»Die sind sicher die besten Jagdgefährten«, sagte Mandred.

Noroelle musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen.

»Gewiss«, antwortete Lijema dem Menschensohn.

»Sind sie so treu wie Hunde?«

Lijema lachte ausgelassen. »Nein, mit Hunden kannst du sie nicht vergleichen. Sie sind viel klüger. Sag noch mal, was du eben gesagt hast.«

»Auf Fjordländisch?«

»Ja.«

»Sollen wir reiten?«

Und wieder wurden die Tiere unruhig und warteten darauf, dass es endlich weiterging.

»Na dann los!«, rief Mandred, und die Gemeinschaft setzte ihren Weg fort.

Das Schweigen zwischen Noroelle und ihren Liebsten hielt an. Die sieben Wölfe schürten Noroelles Sorge um ihre Liebsten. Die Tiere hatten ein Gespür dafür, wie groß die Gefahr war, welche die Jäger erwartete. Sie entschieden selbst, wie groß die Meute sein sollte, die sich der Elfenjagd anschloss. Als Gaomee gegen den Drachen Duanoc geritten war, hatten sie acht Wölfe begleitet. Was mochte das nur für eine Kreatur sein, die dort jenseits des Steinkreises lauerte? Zwar vertraute Noroelle auf die Fähigkeiten ihrer Liebsten, aber selbst große Helden waren schon im Kampf gestorben. Was, wenn das Schlimmste geschah? Was, wenn Nuramon sich täuschte und eine Elfenseele, die in den Menschenreichen starb, nicht in Albenmark wiedergeboren wurde?

Sie kamen an der Fauneneiche und an Noroelles See vorbei. Gestern noch war sie hier mit Farodin und Nuramon gewesen. Noroelle fragte sich, ob ein solcher Tag je wiederkehren würde.

Als der Festungsturm bei der Shalyn Falah in Sicht kam, machten sie kurz Halt, um sich von Aigilaos zu verabschieden; er konnte die weiße Brücke mit seinen beschlagenen Hufen nicht überqueren. Der Kentaur fluchte mehrfach über das alte Bauwerk. »Ich sehe euch am Tor«, sagte er dann und trabte davon.

Noroelle schaute dem Kentauren nach und dachte an all die Geschichten, die man sich über ihn erzählte. Gewiss beneidete er die Elfenrösser, die mit ihren unbeschlagenen Hufen und ihrer elfischen Gewandtheit ohne weiteres über die Brücke schreiten konnten.

»Wieso hat er sich eigentlich die Hufe beschlagen lassen, wenn das der Grund ist, dass er nicht über die Brücke kann?«, fragte Mandred.

»Die Kobolde am Hof haben ihm angeblich erzählt, mit beschlagenen Hufen könne er schneller laufen«, antwortete Lijema. »Nun glaubt er, schneller zu sein, und muss dennoch den Umweg auf sich nehmen.«

Mandred musste lachen. »Das klingt mir ganz nach Aigilaos!«

Sie setzten ihren Weg fort. Am Turm der Shalyn Falah erwartete Ollowain die Gemeinschaft. Mandred begegnete ihm kühl, was Ollowain zu einem amüsierten Lächeln herausforderte. Zügig passierten sie das Tor. Noroelle fragte sich, was zwischen Ollowain und Mandred wohl vorgefallen war.

Sie überquerten die Shalyn Falah und folgten auf der anderen Seite dem breiten Weg vorbei an den Überresten von Welruun. Die Trolle hatten einst den Steinkreis zerstört. Sie selbst hatte es nicht miterlebt, aber die Bäume erinnerten sich ebenso daran wie die Waldgeister. Früher einmal hatte das Tor von Welruun in eines der Fürstentümer der Trolle geführt. Deutlich spürte Noroelle dort die Macht der sieben Albenpfade, die sich zu einem großen Albenstern kreuzten. Die Trolle hatten einen Weg gefunden, das Tor zu schließen. Und kein Elf wusste, welchen Zaubers sie sich dabei bedient hatten.

Der Wald wurde immer dichter. Noroelle erinnerte sich an früher, da sie oft hier gewesen war. Sie mochte diesen Wald.

Die Gefährten folgten dem Weg hinab zwischen den Birken und erreichten schließlich die große Lichtung, auf der sich der Hügel mit dem Steinkreis befand. Bei der Turmruine hatte einst Landowyn die letzte Schlacht gegen die Trolle geschlagen. Betrübt dachte Noroelle daran, wie viele Elfen hier den Tod gefunden hatten.

Die Gemeinschaft hielt am Fuß des Hügels und wartete auf Aigilaos. Mandred stieg ab und trennte sich schweigend von den Gefährten. Er wollte zu Atta Aikhjarto gehen.

Noroelle hatte davon gehört, dass die Eiche sein Leben gerettet hatte. Sie fragte sich, was Atta Aikhjarto in Mandred gesehen hatte. Die Fauneneiche hatte ihr einmal zugetragen, der alte Atta Aikhjarto könne in die Zukunft schauen. Was die alte Eiche wohl wusste, dass sie ihre Kraft schmälerte, um einen Menschensohn zu retten?

Noroelle ließ sich von Farodin vom Pferd helfen. Nuramon kam ein wenig zu spät und half stattdessen Obilee abzusteigen. Die junge Elfe bekam rote Wangen, so sehr war sie angetan von Nuramons Geste. Er führte sie zu Noroelle.

Gemeinsam setzten sie sich ins Gras, doch es war noch immer zu früh für Worte. Bald schwiegen auch die anderen Gefährten. Selbst die Wölfe waren ungewöhnlich still.

Erst als Aigilaos eintraf, wurde wieder gesprochen. »Hab ich etwa zu lange gebraucht?«, fragte er außer Atem. Blanker Schweiß stand ihm auf den Flanken.

»Nein, Aigilaos. Mach dir keine Sorgen«, sagte Noroelle.

Der Kentaur war erschöpft und musste sich ausruhen. Wiederum senkte sich Schweigen über die Gemeinschaft.

Nun fehlte nur noch Mandred, dann würde die Elfenjagd endgültig aufbrechen. Es verging über eine Stunde, bis der Menschensohn zu ihnen zurückkehrte. Noroelle hätte viel darum gegeben zu wissen, was Mandred bei Atta Aikhjarto erfahren hatte. Er aber fragte nur: »Seid ihr bereit?«

Die Gefährten nickten. Noroelle fühlte sich ein wenig schuldig. Sie wusste, sie hatte das Schweigen in die Gemeinschaft getragen. Nun wollte sie es wieder gutmachen. »Kommt, ich werde euch noch bis nach oben zum Steinkreis begleiten.«

Auf dem Weg hinauf spürte Noroelle die Macht des Albensterns wie einen Windhauch, der ihr entgegenwehte. Dieser Ort hatte nichts von seiner Magie verloren. An einen Stein gelehnt stand dort Xern und schaute in den Kreis, in dessen Mitte Nebel aufwallte. Ohne sich zu ihnen umzudrehen, fragte er: »Wer geht dort?« Da er auf Fjordländisch fragte, wusste er offenbar, dass es Mandred war.

Der Menschensohn kam nach vorn und antwortete: »Die Elfenjagd!«

Xern wandte sich ihnen zu. »Dann steht euch dieses Tor offen. Mandred, du kamst mit kaum einem Funken Leben in diese Welt. Und du verlässt sie mit der Kraft Atta Aikhjartos. Möge seine Macht dich und deine Gemeinschaft schützen!« Er wies mit der Hand auf die Nebelwand.

Farodin und Nuramon blickten Noroelle erwartungsvoll an. Endlich brach sie das lange Schweigen. »Denkt daran, dass ihr es für mich tut. Denkt daran, dass ich euch _beide_ sehr liebe. Achtet aufeinander. Ich bitte euch.«

»Ich werde mit meinem Leben für Farodin einstehen«, sprach Nuramon.

Und Farodin erklärte: »Nuramons Leid soll meines sein. Was ihm geschieht, soll mir geschehen.«

»Bei allen Alben! Ich flehe euch an, gebt euch nicht selbst auf, um den anderen zu schützen. Passt nicht nur aufeinander auf, sondern auch auf euch selbst. Ich möchte nicht, dass das Schicksal mir eine Entscheidung auf schmerzvolle Weise abnimmt. Kommt beide wieder!«

»Ich werde alles dafür tun, dass wir beide zurückkehren«, sprach Farodin.

»Und ich _verspreche_ dir, dass wir wiederkehren werden«, sagte Nuramon. Farodin wirkte überrascht, denn sein Gefährte versprach etwas, das er nicht versprechen konnte. Wer wusste schon, was dort draußen geschehen würde? Und doch war es genau dieses Versprechen, das Noroelle hören wollte.

Sie gab Obilee ein Zeichen und wandte sich dann wieder zu ihren Liebsten. »Ich möchte euch etwas schenken, das euch auf der Reise an mich erinnern soll.«

Obilee holte zwei Beutelchen hervor. Noroelle nahm sie und gab eines Farodin, eines Nuramon. »Macht sie auf!«, bat sie.

Die beiden folgten ihrem Wunsch und betrachteten den Inhalt. Während Nuramon nur lächelte, sagte Farodin erstaunt: »Maulbeeren!«

»Sie tragen einen Zauber in sich«, erklärte sie. »Sie werden euch Kraft spenden und euch mehr den Bauch füllen, als ihr es vermuten würdet. Denkt an mich, wenn ihr sie esst!«

Ihre Liebsten tauschten einen kurzen Blick, dann sprach Nuramon: »Das werden wir. Und nicht nur, wenn wir davon essen.«

Noroelle umarmte zuerst Farodin und küsste ihn zum Abschied. Er wollte etwas sagen, aber sie legte ihm zwei Finger auf den Mund. »Nein. Keine Abschiedsworte. Keine süßen Beschwörungen deiner Liebe. Ich weiß, was du fühlst. Lege das, was ich in deinem Gesicht sehe, nicht auf deine Zunge. Ein Wort, und es würde mich zum Weinen bringen! Und noch lächle ich.« Er schwieg und strich ihr durchs Haar.

Noroelle löste sich von Farodin und umarmte Nuramon. Auch ihn küsste sie. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie lange an, als wollte er sich ihren Anblick genau einprägen. Dann schenkte er ihr ein letztes Lächeln und ließ von ihr ab.

Die Gefährten stiegen auf ihre Rösser. Nur Aigilaos, der dies nicht nötig hatte, blickte bereits voraus zur Nebelwand. Da rief Mandred: »Folgt mir, Gefährten!«, und die Elfenjagd betrat den Steinkreis.

Farodin und Nuramon ritten hinter den Wölfen am Ende der Gemeinschaft. Ein letztes Mal blickten sie zu Noroelle zurück. Dann verschwanden auch sie im Nebel.

Xern wandte sich vom Steinkreis ab und ging langsam fort. Obilee griff Noroelles Hand. Während sich der Nebel auflöste, wuchs Noroelles Angst. Sie hatte das Gefühl, Farodin und Nuramon soeben zum letzten Mal gesehen zu haben.

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